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Moderne Zeiten in Griechenland

von Niels Kadritzke | 29. Oktober 2019

Seit mehr als 120 Tagen wirkt Kyriakos Mitsotakis als griechischer Ministerpräsident. Auch Ende Oktober kann er sich noch in hohen Popularitätswerten sonnen. Die Medien stehen fast geschlossen hinter ihm und die Opposition braucht er nicht zu fürchten, weil die Syriza noch lange brauchen wird, um ihre Niederlage zu verarbeiten. Die meisten Beobachter in Athen gehen davon aus, dass die Schonfrist, die Mitsotakis von der Bevölkerung gewährt wird, mindestens ein Jahr dauern wird.

 

Ministerpräsident Mitsotakis möchte seine Regierung „straff“ wie einen Konzernvorstand organisieren. © Alkis Konstantinidis/reuters

 

Aber schon heute werden Widersprüche sichtbar, die den Nimbus des Reformers und Modernisierers Mitsotakis in Frage stellen. All die schönen Pläne über den „Aufbruch“ in eine glänzende Zukunft werden schon bald einem Realitätstest ausgesetzt sein, der durchaus mit einem Crash enden kann. Die große Wette des neuen Regierungschefs ist die Frage, ob und wann die von ihm beschworene „Investitionsexplosion“ eintreten wird. Und auch die Modernisierung und Effektivierung des trägen griechischen Staates ist ein Versprechen, das an der Widersetzlichkeit der alten Strukturen und Mentalitäten scheitern könnte.

Mitsotakis auf der Woge großer Erwartungen

Kyriakos Mitsotakis, jüngster Spross einer alten Politikerdynastie aus Kreta, verdankt sein Amt der absoluten Mehrheit, die er mit seiner Partei Nea Dimokratia (ND) im griechischen Parlament errungen hat. Die ND gewann zwar bei den Wahlen zur Vouli vom 7. Juli nur knapp 40 Prozent der Stimmen, aber das geltende Wahlrecht beschenkt die stärkste Partei mit einem Bonus von 50 Sitzen. Damit konnte die ND ihre Fraktionsstärke von 108 auf 158 Sitze (von insgesamt 300) , also um fast die Hälfte aufstocken.

Obwohl die Parteien, die sich links von der Mitte verorten, mehr Stimmen errungen haben als die Parteien rechts der Mitte (1), wurde das Wahlergebnis vom 7. Juli in Griechenland wie im Ausland als klarer Rechtsruck bewertet, der auf absehbare Zeit irreversibel zu sein scheint. Dafür sprechen auch die ersten Meinungsumfragen, die für die ND eine stabile Wählerbasis von 40 Prozent ermitteln, während die Syriza mit rund 25 Prozent deutlich an Rückhalt verloren hat, nachdem sie am 7. Juli noch 31,5 Prozent erzielt hatte.

Auf eine dauerhafte ND-Herrschaft setzen auch die Athener Medien, die fast unisono eine Zeitenwende ausrufen. Die meisten Zeitungen und TV-Sender, die schon im Wahlkampf offen für Mitsotakis und gegen den angeblich „linkspopulistischen“ Alexis Tsipras geschrieben und gesendet haben, zelebrieren ihre Begeisterung über den neuen Regierungschef ungehemmt weiter. Seit dem 7. Jul wird die griechische Öffentlichkeit mit Schlagzeilen und TV-Meldungen bombardiert, die eine einzige Botschaft vermitteln: Diese Regierung ist das Beste, was dem Land seit dem Ende der Militärjunta widerfahren ist. Was immer Mitsotakis und seine Minister anpacken, wird vom Chor der Medien als „Modernisierung“, als „Innovation“, als „Aufbruch“ gefeiert.(2)

So gesehen ist der größte Erfolg, den der neue Regierungschef in seinen ersten 100 Tagen verbuchen kann, eine Rekordernte an Vorschusslorbeeren. Dazu haben auch jene internationalen Medien beitragen, die den Mitsotakis-Hype mitmachen, denn die vorauseilende Lobhudelei aus dem Ausland wird von den griechischen Medien aufgegriffen und als internationale Anerkennung des Modernisierers Mitsotakis verkauft.

„Aufbruch in die Moderne“ oder „Rückkehr zur Normalität“?

Einem Politiker, der so viel verspricht und so wenig Selbstbescheidung zeigt, sollte man genauer auf die Finger sehen. Weil dies in den deutschen Medien nicht geschieht, werde ich in diesem Text - mit einer Ausführlichkeit, für die ich vorweg um Nachsicht bitte -, die inneren Widersprüche darstellen, die das Projekt Mitsotakis kennzeichnen.

Schon die rhetorische Selbstdarstellung der neuen Regierung verfängt sich von Anfang an in Widersprüchen. Mitsotakis und seine Partei deklarieren ihre Machtübernahme gerne als „Rückkehr zur Normalität“. Damit wollen sie ihren konservativen Wählern versichern, dass die Tsipras-Syriza-Ära nur ein „unnormales“ Zwischenspiel war; dass also die wilden Jahre der Maduro-Fans, die Griechenland zum Venezuela des Mittelmeers machen wollten, ein für alle Mal und Gott sei Dank vorbei seien.

Allerdings gehen „Rückkehr zur Normalität“ und „Aufbruch in die Moderne“ nicht so recht zusammen. Und doch bilden die beiden Begriffe einen inneren Widerspruch ab, der das Projekt Mitsotakis von Anfang an kennzeichnet. Der zeigte sich schon mit treffender Symbolik, als die neue Vouli am 17. Juli zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat. Dass der orthodoxe Erzbischof die Parlamentseröffnung zelebriert, ist nicht neu und illustriert nur die „vormoderne“ Beziehung zwischen Kirche und Staat. Aber einen derart demonstrativen Auftritt des Klerus hat die Vouli seit Jahren nicht gesehen. Es war wie Mittelalter in lebenden Bildern: Auf und neben der Vorstandsbühne des Plenarsaals drängten sich 24 Kleriker um das Oberhaupt der orthodoxen Kirche, der den Plenarsaal segnete. Offensichtlich wollten es sich viele provinzielle Bischöfe nicht nehmen lassen, ihrem örtlichen ND-Abgeordneten den Segen von oben persönlich zu überbringen. Das Ganze machte den Eindruck, als sei die Synode der orthodoxen Kirche ins Parlament verlegt worden.

Vorherrschende Religion und herrschende Partei

Die Szenerie vom 17. Juli war nicht nur ein folkloristischer Farbtupfen. Einen Tag zuvor hatte Mitsotakis den orthodoxen Erzbischof Ieronymos in seinem Amtssitz empfangen. Dabei versicherte er dem Kirchenoberhaupt, die von seinem Vorgänger Tsispras angestrebte Verfassungsänderung werde es unter seiner Ägide nicht geben (Kathimerini vom 15. Juli 2019). Das Versprechen bezog sich vor allem auf den Artikel 3 der Verfassung, der die „Östlich-Orthodoxe Kirche Christi“ als „vorherrschende Religion in Griechenland“ anerkennt, also quasi zur Staatskirche ernennt und sogar den „Wortlaut der Heiligen Schrift“ für unveränderlich erklärt.(3)

Der neue Regierungschef hat kürzlich in einem Interview mit der Washington Post (vom 25. September) erklärt, Griechenland werde in vier Jahren „ein anderes Land sein als das, das ich übernommen habe“. Für das Verhältnis von Staat und Kirche gilt diese Aussage mit Sicherheit nicht. Auch für die Nea Dimokratia von Mitsotakis ist die Kirche ein Garant ihrer ideologischen Hegemonie. Deshalb machte der große Modernisierer dem Erzbischof die Zusage, es werde alles beim Alten bleiben. Zum Beispiel was die Besteuerung des kirchlichen Besitzes betrifft oder auch den Religionsunterricht an den staatlichen Schulen. Den hatte die Syriza-Regierung 2017 in Richtung einer vergleichenden „Religionskunde“ reformiert. Mitsotakis versprach dem Erzbischof, diese Reform wieder rückgängig zu machen.

Das wurde ihm inzwischen von der Justiz abgenommen. Am 20. September entschied das höchste Gericht des Landes (das Plenum des Staatsrats, Symvoulio tis Epikratias genannt), dass die 2017 eingeführte Umgestaltung des Religionsunterrichts verfassungswidrig sei. Begründung: Der reformierte Unterricht strebe nicht die „Entwicklung des religiösen Bewusstseins“ an, wie es die Verfassung in Artikel 16/Absatz 2 für die griechisch-orthodoxen Schüler verlangt. Dieser höchstrichterliche Spruch sei hier wörtlich zitiert (nach EfSyn vom 21. September), um den bildungs- und kulturpolitischen Rückschritt zu dokumentieren, den der Staatsrat vollzogen hat. Das Gericht befand die neuen Unterrichtsinhalte für nicht verfassungskonform, weil sie „keine integrale – und die Unterschiede zu anderen Dogmen und Religionen betonende – Lehre der Dogmen, ethischen Werte und Traditionen der orthodoxen Kirche“ vorsehen. Statt einer solchen „integralen Lehre“ legen die verfassungswidrigen Lehrpläne „besonderen Nachdruck auf die Darstellung gemeinsamer Elemente mit anderen religiösen Dogmen und Glaubensrichtungen“ oder behandeln „ethische und soziale Themen, die mit der christlich-orthodoxen Lehre nichts zu tun haben oder dieser widersprechen.“

Der bildungspolitische Sprecher der Syriza, Ex-Erziehungsminister Nikos Filis, kritisierte diese Entscheidung des Gerichts als Rückfall in finstere Zeiten. Damit werde der Religionsunterricht wieder zu einer Art „Indoktrination“, bei der es nicht um die Vermittlung von Kenntnissen gehe, sondern um die „Überprüfung des Glaubens der Schüler und ihrer Eltern“. Ganz ähnlich kritisierte die Kinal (vormals Pasok): Das staatliche Bildungswesen werde wieder zu einer gigantischen Katechismus-Schule und gebe den Theologen „das Recht auf Indoktrinierung der Schüler“, denen eine bestimmte „reaktionäre Auffassung von Orthodoxie“ beigebracht werde – und das mittels staatlicher Institutionen.

Ein rassistischer Bischof honoris causa

Schon vor dieser Gerichtsentscheidung gab es ein Ereignis, in dem sich das „traditionelle“ Verhältnis von Staat und Kirche auf bizarre Weise manifestierte. Eine Woche nach dem Wahlsieg der Nea Dimokratia verlieh das Institut für „soziale Theologie“ der Aristoteles-Universität in Thessaloniki, einen Ehrendoktortitel. Der Geehrte war das orthodoxe Kirchenoberhaupt der Stadt, Bischof Anthimos. Die akademische Zeremonie fand nicht in der Universität, sondern im Amtssitz des Bischofs statt, der von Polizeikräften abgeschirmt war, weil man Demonstrationen befürchtete.

Verständlicherweise, denn Anthimos ist eine der reaktionärsten Figuren der orthodoxen Kirche, der sich immer wieder durch rassistische, antisemitische und homophobe Sprüche profiliert. Notorisch ist sein Verdikt über Homosexualität als „Perversion der menschlichen Existenz“ und das Bibelzitat, das er 2014 den Teilnehmern am Gay Pride Festival von Thessaloniki entgegenschleuderte: „Ihr sollt das Heilige nicht den Hunden geben...“. Der Bischof war jahrelang auch der geistige Anführer der griechisch-orthodoxen „Mazedonienkämpfer“, der mit seinen Brandreden über eine „jüdisch-slawische Verschwörung“ den Volkszorn gegen den Nachbarstaat im Norden anstachelte.(4) Noch im Januar 2018 drohte er auf einer Kundgebung, den „Skopianiten“ die Handelsroute über den Hafen von Thessaloniki zu sperren: „Dann sind sie in einer Woche tot.“

Beim Thema Migranten und Flüchtlinge erinnern die Äußerungen des Anthimos eher an Proklamationen der Neonazi-Partei Chrysi Avgi als an die Sprache des Evangeliums. (5) Auch über naturwissenschaftliche Themen hat sich der Ehrendoktor geäußert. Kurz nach der Landung der ersten Mars-Sonde im November 2018 wollte er seine Gemeinde überzeugen, dass es außer der Erde keinen anderen Planeten im Weltall gebe - das stehe schließlich schon in der Bibel (EfSyn vom 18., 19. und 24. Juli 2019).

Nea Dimokratia, Mitsotakis und die orthodoxe Staatskirche

Was sagen uns die beiden Fälle über das Verhältnis von Mitsotakis, Nea Dimokratia und Staatskirche? Dass sich ein rassistischer, homophober Eiferer und Verfechter „kreationistischer“ Ideen mit dem Titel einer Universität schmücken darf, die nach dem Philosophen und Naturforscher Aristoteles benannt ist, wäre ohne den Wahlsieg der ND nicht möglich gewesen. Dazu muss man wissen: Die Fakultät hatte die Vergabe des Titels bereits im November 2017 beschlossen, aber der Rektor hatte die Zeremonie immer wieder aufgeschoben, weil die Entscheidung innerhalb wie außerhalb der Universität heftige Proteste ausgelöst hatte. Erst als die ND wieder an der Macht war, traute sich die Universitätsspitze, die Ehrung des rassistischen Bischofs zu vollziehen.

Natürlich war Mitsotakis in diese Entscheidung nicht involviert. Und man kann davon ausgehen, dass er als intelligenter Konservativer die akademische Farce von Thessaloniki eher peinlich findet. Aber der Regierungschef distanzierte sich mit keinem Wort von dem orthodoxen Zeloten, der in Thessaloniki und ganz Nordgriechenland bei den patriotischen ND-Wählern in höchstem Ansehen steht. Und der ihm Probleme bereiten könnte, wenn er ihn wegen seiner Wende in der Mazedonienfrage als „Verräter“ an der nationalen Sache attackieren würde.

Die Entscheidung des Obersten Gerichts zum Religionsunterricht hat Mitsotakis ebenfalls nicht kommentiert. Auch dieses Urteil war bestimmt nicht nach seinem persönlichen Geschmack. Aber der Regierungschef weiß auch, dass sich eine Mehrheit seiner Wähler mit dem religiösen Erziehungsauftrag der staatlichen Schule identifiziert. Wenn er den Religionsunterricht „säkularisieren“ wollte, müsste seine Regierung den Verfassungsartikel 16 ändern. Doch an dem hält der orthodoxe Klerus genauso unerbittlich fest wie an Artikel 3, der ihrer Kirche den Status der „vorherrschenden Religion“ garantiert – mit allen daraus resultierenden Privilegien.

Das konservative politische Lager wird diese Privilegien nicht antasten, denn die Kirche ist ein Eckstein im Fundament seiner Macht, wobei sich die politische Rechte und der orthodoxe Klerus gegenseitig stützen. Dieses Verhältnis hat 2004 der damalige Erzbischof Christodoulos auf den Begriff gebracht, als er die ND nach ihrem Wahlsieg gegen die Regierung Simitis als „die Rechte des Herrn“ («δεξιά του Κυρίου) bezeichnete. An dieser Wertschätzung hat sich nichts geändert, auch wenn der relativ liberale Erzbischof Ieronymos vier Jahre lang bemüht war, ein neutrales bis freundliches Verhältnis mit dem Atheisten Alexis Tsipras zu pflegen, der seinen Amtseid in weltlicher Fassung abgelegt hat und dessen beide Söhne nicht getauft, also Heidenkinder sind.

Dass auch die Syriza sich nie getraut hat, eine konsequente Trennung von Staat und Kirche rechtsverbindlich durch eine umfassende Verfassungsänderung zu betreiben, ist nur ein weiterer Beleg für die keineswegs nur symbolische, sondern reale soziale Macht der Institution Kirche. Dabei ist es von hoher Ironie, dass der einzige praktische Erfolg, den die Tsipras-Regierung gegen den Widerstand des Klerus erringen konnte, erst durch die Abkehr von ihrem eigenen „linken“ Katechismus möglich wurde. Damit meine ich die Frage der Feuerbestattung.

Das erste Krematorium für Griechenland – ein Privatunternehmen

Am 30. September wurde in Ritsona (am Golf von Euböa) das erste Krematorium auf griechischem Boden eröffnet. Bis vor drei Wochen war Griechenland das einzige EU-Land, auf dessen Territorium keine Feuerbestattung möglich war. Die Familien von Verstorbenen, die nicht beerdigt sondern verbrannt werden wollten, mussten einen Transport des Leichnams ins Ausland finanzieren (zumeist nach Bulgarien).

Das Krematorium von Ritsona ist allerdings keine öffentliche Einrichtung, sondern ein privates Unternehmen. Es wird von der Firma „Crem Services“ betrieben, an der auch die „Griechischen Krematoriums-Gesellschaft“(GCS) beteiligt ist. Die GCS hatte sich seit zwanzig Jahren für den Bau eines staatlichen Krematoriums eingesetzt, doch der orthodoxe Klerus hat alle Anläufe an den geplanten Standorten torpediert. Nach den Dogmen der Kirche stellt die Feuerbestattung ein „schweres Vergehen“ dar, das die nachträgliche Exkommunizierung des Verstorbenen zur Folge hat. Um die Obstruktionstaktik der Kirche zu unterlaufen, verabschiedete das griechische Parlament Ende 2017 ein Gesetz, das die Lizensierung privater Krematorien ermöglicht. Die Idee ging von der Syriza aus, nach deren Programm die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen eigentlich des Teufels ist. Aber in diesem Fall heiligte der Zweck die Mittel. So sahen es auch die liberalen Abgeordneten anderer Fraktionen, die dem Gesetz zugestimmt haben, unter ihnen Dora Bakoyanni, die ältere Schwester von Kyriakos Mitsotakis.

Dieses Beispiel zeigt erneut: Die orthodoxe Kirche ist und bleibt – bei aller inneren Fraktionierung - eine „konservative Instanz“ der Gesellschaft, die zugleich eigene materielle Interessen verfolgt. (6) Auch in Zukunft wird der höhere Klerus im Zweifelsfall stets die „Rechte des Herrn“ unterstützen. Und Mitsotakis wird - wie alle ND-Führer vor ihm - diese Unterstützung politisch honorieren. (7) In der Partei gibt es allerdings nicht wenige „Kulturliberale“ die sich von dem Modernisierer Mitsotakis auch eine „“Modernisierung“ des Verhältnisses von Staat und Kirche versprochen haben. Womöglich haben sie dem Regierungschef eine „Wende“ zugetraut, wie er sie in der Mazedonien-Frage vollzogen hat. Dabei übersehen sie einen entscheidenden Unterschied: Die Institution Kirche hat soziale Macht und knallharte eigene Interessen, zu deren Verteidigung sie ihre traditionelle Gefolgschaft mobilisieren kann. Über eine solche eigenständige, mit Macht ausgestattete Institution haben die „Mazedonienkämpfer“ nie verfügt. Sie repräsentierten vielmehr eine diffuse, emotionale Strömung, die von den Parteien selbst – vorweg von der Nea Dimokratia – gesteuert und instrumentalisiert wurde. Und die gerade nicht an konkrete Interessen anknüpft, sondern im Gegenteil auf den emotionalen Appell setzt, dass die „griechische Seele“ wichtiger sei als realpolitische Erfordernisse (Stabilisierung der Region) oder reale Interessen (griechische Investitionen im Nachbarland).

Der Mazedonien-Trick des Kyriakos Mitsotakis

Natürlich kann sich eine solche auf Emotionen basierende Bewegung verselbständigen. Dieser Gefahr hat die ND in ihrem letzten Wahlkampf ins Auge gesehen. Aber Mitsotakis hat die Lage mit einem Manöver gemeistert, für die er mit Fug und Recht einen politologischen Ehrendoktor im Fach „kreative Wahlkampfstrategien“ verdient hätte. Er ließ den rechten Flügel seiner Partei gegen das Prespa-Abkommen mit Nordmazedonien wüten und die Tsipras-Regierung rhetorisch in die Nähe von „Volksverrätern“ rücken, während er selbst sich damit begnügte, den Kompromiss mit Skopje als „national schädlich“ zu bezeichnen, zugleich aber vermied, die Annullierung des schädlichen Vertrags zu versprechen. Der ND-Chef ritt auf der emotionalen Mazedonien-Welle, ohne seinen Ruf als außenpolitischer „Realist“ zu ramponieren. Dennoch ist die Chuzpe erstaunlich, mit der Mitsotakis heute gegenüber der internationalen Öffentlichkeit für sich in Anspruch nimmt, der rechtsextremistischen Chrysi Avgi die Rückkehr ins Parlament verwehrt zu haben. Zum Beispiel als er bei seinem ersten Auftritt auf der EU-Bühne in Brüssel vor der Presse erklärte, er habe mit seinem Wahlsieg „einen Sieg über den Populismus und für die Demokratie in Europa“ errungen. (Kathimerini vom 17. Oktober).

Richtig ist allerdings, dass Mitsotakis die innerparteilichen Mazedonien-Populisten ausmanövriert hat. Er bekannte sich sofort nach seiner Wahl zur Einhaltung des Prespa-Abkommens und machte mit Nikos Dendias einen überparteilich geschätzten Liberalen zum Außenminister. Dendias hatte es im Frühjahr 2018 - im Gegensatz zu Mitsotakis - ausdrücklich abgelehnt, an einer der nationalistischen Anti-Prespa-Kundgebungen teilzunehmen und nach der Ratifikation des Abkommens erklärt, eine Revision des Vertrages sei nicht im Interesse des Landes. Ähnlich äußerte sich auch der frisch bestellte ND-Verteidigungsminister Panagiotopoulos. Der Regierungschef selbst hat sich am 25. September in New York mit seinem nordmazedonischen Kollegen Zaev getroffen. Dabei erklärte er ganz pragmatisch, zwar hätte er das Prespa-Abkommen nie unterzeichnet, aber jetzt sei er für eine rasche Umsetzung der Bestimmungen. Wenn sich beide Seiten strikt an den Vertrag hielten, könne man „auf eine bessere Zukunft hoffen“. (EfSyn vom 25. September)

Wie man Maulhelden zum Schweigen bringt

Das kann er auch an der innerparteilichen Front, wo er den chauvinistischen Flügel entschlossen enthauptet hat. Mitsotakis hatte dem Anführer der Skopje-Hardliner, dem früheren Ministerpräsidenten Antonis Samaras zunächst Hoffnung gemacht, er werde ihn als griechischen EU-Kommissar vorschlagen. Doch als es so weit war, konnte er seinem Rivalen genüsslich mitteilen, dass er in Brüssel leider persona non grata sei – eben wegen seiner „radikalen Rhetorik“ in der Mazedonienfrage.

Auf andere Weise brachte der Regierungschef die beiden größten Mazedonien-Maulhelden der ND zum Schweigen: Makis Voridis und Adonis Georgiadis wurden mit zwei arbeitsintensiven Ministerämtern betraut. Deshalb muss Voridis heute, statt den Verrat von Prespa anzuprangern, die griechischen Bauern bei Laune halten. Und Georgiadis darf als „Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen“ unermüdlich erzählen, dass er Griechenland binnen kurzem zum „investitionsfreundlichsten Land der EU“ machen will.(8)

Im Regierungsprogramm der ND findet sich nur eine einzige Konzession an die Mazedonienkämpfer. Unterrichtsministerin Niki Kerameos will über die Lehrpläne für den Geschichtsunterricht wieder verstärkt die „Entwicklung des Nationalgefühls“ fördern. Deshalb soll ein „Makedonomachos“ des 19. Jahrhunderts, den ihr Syriza-Vorgänger aus den Geschichtsbüchern der Oberstufe getilgt hatte, erneut zum Schulbuchhelden werden.(9) Was das Prespa-Abkommen betrifft, so beschränkt sich der Widerstand innerhalb der ND inzwischen darauf, dass einzelne Abgeordnete das Wort Nordmazedonien nicht über die Lippen bringen und immer noch von „Skopje“ sprechen.(10) Ansonsten ist das Thema Mazedonien wie von Zauberhand aus der öffentlichen Debatte verschwunden.

Das liegt im Interesse des Kyriakos Mitsotakis. Der neue Ministerpräsident will, dass sich sein Image – im In- und Ausland – über einen einzigen Begriff definiert: der große Modernisierer. Als solcher hat er sich zwei Aufgaben vorgenommen, die über den Erfolg seiner Regierung entscheiden sollen: eine radikale Reform der Regierungsstrukturen und eine radikal neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik mit dem erklärten Ziel einer „Investitionsexplosion“, die für ein kräftiges und nachhaltiges Wachstum sorgen soll.

Der Macherstaat und sein CEO

Für die erste Aufgabe hat Mitsotakis das Schlagwort „epiteliko kratos“ erfunden, unter dem seine Regierung auch ihr erstes umfassendes Gesetz verabschiedet hat. Der Begriff hat einen präzisen Sinn, ist aber schwer zu übersetzen. Beim Militär bezeichnet das Adjektiv epiteliko eine Stabs-Funktion, während das Wort epitelesi mit „Durchführung“ zu übersetzen wäre. Wobei dem BWL-Master Mitsotakis der betriebswirtschaftliche Begriff „performance“ vertrauter sein dürfte. Epiteliko kratos bezeichnet eine Regierung, die „straff“ wie ein Konzernvorstand organisiert ist und ihre Entscheidungen zügig und effektiv umsetzt wie ein Konzernchef, ein CEO. Deshalb halte ich den Begriff „Macherstaat“ für die angemessenste Übersetzung.

In der Tat inszeniert sich Mitsotakis seit Beginn seiner politischen Karriere nicht nur als überzeugter Modernisierer, sondern auch als der große Macher. In seinen Interview stellt er sich immer wieder als ein Politiker dar, der nicht nur redet, sondern handelt, und das mit größter Effizienz. Das wird die spannende Frage auf, wie ein BWL-straffer Staat mit einer konservativen nepotistischen Klientelpartei vereinbar sein soll. Eine verbindliche Antwort auf diese Frage ist nach 120 Tagen Mitsotakis-Regierung noch nicht möglich. Aber es gibt klare Anzeichen dafür, dass der Widerspruch zwischen dem modernen, innovativen Profil des Ministerpräsidenten und dem alten, eingefleischten ND-Klientelismus nicht besonders groß ist - und in der Praxis überbrückbar erscheint.

Betrachten wir zunächst den epiteliko kratos. Der neue Regierungschef demonstriert seinen Willen zum Macherstaat vor allem durch zwei Initiativen. Da ist erstens die Berufung von neuem Personal, das nicht aus „der Politik“ kommt, sondern „aus dem realen Leben“., sprich zumeist aus der Wirtschaft. Auf die Frage, was diese als „Experten“ präsentierten Minister, Vizeminister und Staatssekretäre repräsentieren, werde ich noch zurückkommen. Zunächst werfen wir einen Blick auf das gesetzliche Fundament des Macherstaates. Das Gesetz 4622 ist seit dem 7. August in Kraft und trägt den Titel: „Epiteliko Kratos: Organisation, Wirkungsweise und Transparenz der Regierung, der Regierungsorgane und der zentralen öffentlichen Verwaltung“.

Röntgenbild eines Paragrafenmonsters

Dieses Gesetz ist rein formell ein Monstrum, das der Idee eines „schlanken Staats“ auf groteske Weise widerspricht. Der Text beschreibt auf 72 zweispaltigen Seiten, wie die Regierungsmaschine des „Macherstaats“ funktionieren soll. Die ND-freundlichen Presse hat das Gesetz 4622 wie ein Jahrhundertwerk gefeiert. Das kann nur bedeuten, dass keiner der Jubler den Text gelesen hat. Was voll verständlich ist, denn es handelt sich um ein bürokratische Labyrinth, durch dessen 120 Artikel mit insgesamt 588 Absätzen, die bis zu 15 Unterpunkte enthalten, niemand durchsteigen kann.(11)

Besonders auffällig ist, dass das Gesetz 4622 ganz neue Hierarchiestufen einführt. Das bedeutet eine weitere Aufspreizung des bürokratischen Apparates, die mit dem Image eines schlanken „Macherstaats“ schwer vereinbar ist. Allerdings ist es eine lachhafte Vorstellung, dass der Ablauf der Regierungsgeschäfte nach dieser zotteligen Gebrauchsanweisung verläuft. Damit stellt sich die Frage, wozu das Ganze gut sein soll.

Die Antwort gibt erst ein Röntgenbild, auf dem das Skelett des Paragrafenungetüms hervortritt. Sein Rückgrat ist ein Koordinierungs- und Aufsichtsorgan, das sich „Präsidium der Regierung“ (PtK wie Proedria tis Kyvernisis) nennt. Die neue „eigenständige“ Behörde gliedert sich in sechs „Generalsekretariate“, denen vom Regierungschef ernannte Generalsekretäre vorstehen, unter denen der „Generalsekretär des Ministerpräsidenten“ eine herausgehobene Stabsfunktion wahrnimmt.(12) Allein für das neu gegründete PtK erlaubt das Gesetz 4622 die Rekrutierung von 440 Fachleuten, von denen 100 aus Ministerien versetzt und 340 neu eingestellt werden. Nach Art. 29 kann die Berufung unter Umgehung der normalen Bewerbungsverfahren erfolgen, wenn der Regierungschef das anordnet, was der Regelfall ist. Die Höhe der Gehälter dieses Stabspersonals ist unbekannt. Mit Sicherheit liegen sie weit über den Bezügen der Ministerialbürokratie, weil Mitsotakis seine engsten Mitarbeiter im privaten Sektor rekrutiert hat.

Mit dieser eigenständigen „Präsidialbehörde“ verfügt der neue Regierungschef über die Infrastruktur und das professionelle Personal, dass es ihm erlaubt, die institutionelle Rolle auszufüllen, die ihm die Verfassung zuschreibt. Das neue Organ soll die „Kohärenz und Effizienz“ der Regierungstätigkeit garantieren und dafür sorgen, dass „nach einem konkreten Zeitplan konkrete Ergebnisse erzielt werden“.(13) Das hört sich wie eine selbstverständliche Voraussetzung allen Regierens an: ein gut ausgestattetes und qualifiziertes „Ministerpräsidentenamt“, das von einem administrativ erfahrenen Vertrauten des Regierungschefs geleitet wird (in Deutschland etwa von einem „Staatsminister“ im Kanzleramt). Aber für griechische Verhältnisse ist dies tatsächlich eine Neuerung, die seit langem überfällig ist.

Emanzipation von der eigenen Partei

Das Hauptmerkmal der „alten“ griechischen Verhältnisse war und ist das Nebeneinander von Überbürokratisierung im Kleinen und Planlosigkeit im großen Ganzen. Diese fatale Kombination war von der politischen Klasse durchaus gewollt, weil sie der ideale Nährboden für den allgegenwärtigen Klientelismus ist. Als die Technokraten der Troika 2010 zum ersten Mal ein Organogramm der griechischen Regierung anforderten (das bis dahin nicht existiert hatte), machten sie die Entdeckung, dass es keinerlei Kommunikationsebene zwischen den einzelnen Ministerien gab. Es herrschte ein Zustand nicht der Des-, sondern der Anti-Organisation. Auch die Tsipras-Regierung hat diesen Zustand nicht überwunden, im Gegenteil: Die Syriza verfügte, als ihr im Januar 2015 die „Macht“ zufiel, über so wenig Leute mit administrativer Erfahrung, dass zahllose Pannen schon auf technischer Ebene vorprogrammiert waren.(14)

Unter Mitsotakis soll alles anders werden. Das „Präsidium der Regierung“ ist wie die Stabsabteilung unter dem CEO eines Großkonzerns konstruiert. Ab sofort verfügt der Chef über eine eigene Mini-Bürokratie, die es ihm ermöglicht, die Arbeitsweise und die Effektivität seiner Ministerien zu kontrollieren. (15) Das ganze Konstrukt hat eine weitere wichtige Funktion: Es dient Mitsotakis als Vehikel der Emanzipation von seiner eigenen Partei. Denn die Kriterien für die Auswahl seines „technokratischen“ Personals begrenzen automatisch den Einfluss der ND-Parteikader. In dieser „Entparteilichung“ der Exekutive sehen Mitsotakis-Fans den Beweis dafür, dass der ND-Chef die klientelistischen Neigungen seiner eigenen Partei ernsthaft bekämpfen will.(16)

Ein weiteres Merkmal des neuen Modells ist die vertikale Entscheidungsstruktur, die auf den Regierungschef zuspitzt ist. Der „epiteliko kratos“ bringt den Staat auch formell auf Vordermann.(17) Mitsotakis kann dank seiner zentralisierten Aufsicht die Entstehung und Pflege halb autonomer „Erbhöfe“ unterbinden, die in früheren ND-Regierungen die Machtbasis diverser „Parteibarone“ waren. Diese Aufsicht beschränkt sich nicht auf die Regierung im engeren Sinne; sie garantiert auch den Durchgriff auf Institutionen wie den staatlichen Fernsehsender ERT und auf die staatliche Nachrichtenagentur (APE-MPE), die nach dem neuen Modell einer viel strafferen Kontrolle unterliegen.

Ein Parteisoldat kontrolliert das staatliche Fernsehen

Die Frage ist nur: Funktioniert die neue Struktur wesentlich anders als frühere Regierungen. Wie das System Mitsotakis in der Praxis tickt, lässt sich am Beispiel der beiden staatlichen Medienorgane zeigen. Mitte September nominierte der zuständige „Generalsekretär“ als neuen ERT-Intendanten den „Journalisten“ Konstantinos Zoulas. Der Mann stand bis zu den Wahlen vom 7. Juli an der Spitze der ND-Pressestelle, ab 8. Juli war er Chef der Presseabteilung des neuen Ministerpräsidenten. In beiden Rollen war er unmittelbarer Befehlsempfänger von Mitsotakis.

Erfolgte die Ernennung des neuen ERT-Intendanten in einem technokratisch neutralen Auswahlverfahren nach rein fachlichen Kriterien? Natürlich nicht. Und natürlich haben auch die früheren Regierungen die Spitzenpositionen bei den staatlichen Hörfunk- und Fernsehsendern wie auch bei der Agentur APE-MPE mit ihnen nahestanden Kandidaten besetzt. Aber keiner brachte den Übermut auf, mit dem der Macher und Modernisierer Mitsotakis einen Parteisoldaten zum Leiter des staatlichen Fernsehens beförderte. Dem er dann noch wie zum Hohn den Auftrag erteilte, er solle die staatliche Anstalt „endlich zu einem modernen, unabhängigen Rundfunk- und Fernsehsender machen, der eine objektive Berichterstattung gewährleistet“.(18)

Der PR-Adjudant von Mitsotakis als Garant „objektiver Berichterstattung“. Dreister kann man eine strategische Personalentscheidung nicht verkaufen. Zu Recht fragte ein Kommentator der linken EfSyn (21. September 2019), welcher publizistische Shitstorm ausgebrochen wäre, wenn sich die Syriza-Regierung einen vergleichbaren Skandal geleistet hätte: „Alle Medien hätten über Sowjetmethoden, Postenschacher und den roten Faschismus gezetert“, während sie angesichts eines ND-Pressechefs als ERT-Intendant nichts hören, nichts sehen und nichts sagen wollen.

Als Konstantinos Mitsotakis, der Vater von Kyriakos, in den 1990er-Jahren Ministerpräsident war, hat er solche Personalentscheidungen beim Frühstück mit seiner Ehefrau Marika getroffen, die seine engste Beraterin war. Der heutige CEO des epiteliko kratos mag sich mit zwei, drei seiner Technokraten besprechen, aber die Entscheidung fällt keineswegs „objektiver“ aus. Dafür wird im neuen Macherstaat stramm von oben nach unten durchregiert. Und zwar bei einer deutlich schwächeren Kontrolle durch die Medien.

Medienlandschaft mit Oligarchen

Der Fall Zoulas ist kein Zufall. Er verweist vielmehr auf die große Bedeutung, die der Modernisierer einem effektiven Kommunikations- und Propaganda-Mechanismus beimisst. Das zeigt sich auch in der Zahl der PR-Stellen, die in jedem einzelnen Ministerium und vor allem im neuen „Präsidium“ des Macherstaates geschaffen wurden. Bezeichnend ist dabei der hohe Prozentsatz ehemaliger Journalisten. Diese Medienberater und PR-Strategen haben keineswegs immer ND-Stallgeruch, sondern stammen aus allen politischen Lagern. Damit hat sich der Generalstabschef Mitsotakis ein ganzes Heer von PR-Soldaten rekrutiert, die das Profil und die Leistung der Regierung über ihre ehemaligen Kollegen in den Medien kommunizieren.(19)

Mit der Pflege der Medienlandschaft hat eine weitere personelle Entscheidung zu tun, die unter Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien durchgesetzt wurde. Am 10. August griff die Regierung in die personelle Besetzung der unabhängigen „Wettbewerbskommission“ ein (die dem deutschen Kartellamt entspricht). Da das Gremium eine autonome Institution ist, musste in dem Fall eine Rechtsverordnung (RV) her. Sie führte neue Kriterien für die „Neutralität“ der Ausschussmitglieder ein, die auch für die amtierenden Mitglieder, also rückwirkend gelten.

Die RV zielte auf die Vorsitzende der Kommission, Vasiliki Thanou (ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofs und Ministerpräsidentin der Übergangsregierung vom August 2015). Sie wurde mit der Begründung, sie habe zeitweise „politische“ Positionen bekleidet, kurzerhand abgesetzt. (20) Die RV war nicht nur auf die Vorsitzende zugeschnitten, sie traf auch zwei weitere Mitglieder der Kommission. Damit war die Mehrheit genau in dem Moment gekippt, in dem das Gremium über Sanktionen gegen einen engen Verbündeten der ND und der Familie Mitsotakis befinden wollte.

Vangelis Marinakis ist ein griechischer Oligarch, der neben einer Großreederei und dem Fußballklub Olympiakos Piräus auch Printmedien (die ehemalige Lambrakis-Gruppe) und einen Fernsehkanal besitzt. (21) Der Medienbaron ist außerdem Haupteigentümer der einzigen griechischen Pressevertriebsfirma „Argos“. Dieses skandalöse Monopol eines Unternehmers, der selbst Presseorgane besitzt, ist natürlich ein klassischer Fall für die Wettbewerbsaufsicht – wenn man sie ihre Arbeit tun lässt. In dem Fall wurde die Kommission gesäubert, bevor sie Sanktionen gegen das Marinakis-Monopol verhängen konnte.

Offensichtlich hat der Schutz der Medienbarone für den Macherstaat höchste Priorität. Der neueste Coup zugunsten der privaten Fernsehsender wurde vor wenigen Tagen vom Regierungssprecher (im Ministerrang) Stelios Petsas angekündigt: Im Rahmen einer umfassenden Gesetzesvorlage mit dem Titel „Ich investiere in Griechenland und andere Bestimmungen“ werden die durchweg Mitsotakis-freundlichen und durchweg verschuldeten TV-Sender besonders bedacht. Um Investitionen anzuziehen, die diese Sender für den Erwerb von digitalen Senderechten dringend benötigen, sollen die Medienunternehmen von der Verpflichtung „entlastet“ werden, ihre Eigentümerstruktur zu dokumentieren.(22)

Wir können also nicht mehr wissen, „wer bei einem Medien-Unternehmen die tatsächlichen Eigentümer sind“, konstatieren Ada Psarra und Dimitris Kanellopoulos in der EfSyn (10. Oktober 2019). Zudem ist ihnen in dem Gesetzentwurf (der insgesamt gegen EU-Recht verstößt), eine spezielle Bestimmung aufgefallen: Für ein Unternehmen, das in das digitale Fernsehen investiert, entfällt die Pflicht zu Offenlegung der Eigentümerstruktur auch für alle anderen Medien, an denen es beteiligt ist. Das begünstigt zum Beispiel jemanden, „der bereits einen TV-Kanal, Zeitungen, Radiosender, Websites und einen Pressevertrieb besitzt und dazu noch einen digitalen Pay-TV-Sender erwerben will“. Psarra und Kanellopoulos stellen die Frage, ob es einen solchen Menschen in Griechenland gibt. Die Antwort: „Es gibt nur einen. Und der heißt Vangelis Marinakis.“(23)

Ein Security-Boss als Geheimdienstchef

So viel zum Stichwort Klientelismus und Günstlingswirtschaft. Der Kampf gegen diese „Erbkrankheit“ der griechischen Gesellschaft sei eine der wichtigstes Aufgaben seiner Regierung , hatte der große Modernisierer vor den Wahlen beteuert. Nach dem strikten „Leistungsprinzip“ (axiokratia), das Mitsotakis ständig im Munde führt, sollen auf allen wichtigen Positionen nur die „besten Leute“ zum Zuge kommen, gemäß ihrer professionellen Fähigkeiten und ungeachtet ihrer Parteizugehörigkeit. In dieser Hinsicht hat sich tatsächlich einiges geändert. Die berufliche Qualifikation spielt bei der Vergabe von Leitungsposten eine deutlich größere Rolle als früher. Und die Parteifärbung der Kandidaten ist offensichtlich weniger wichtig - das entscheidende Kriterium ist vielmehr die persönliche Loyalität zum Regierungschef.

Das macht den Macherstaat deutlich „technokratischer“, fördert aber nicht unbedingt Querdenker und kreative Geister. Zumal das Kriterium der Professionalität mit einer weiteren Qualifikation einhergeht: Viele der vom CEO angeworbenen Technokraten kommen aus der Privatwirtschaft, sind also mit konkreten unternehmerischen Interessen verbunden. Einige waren astreine Lobbyisten, die als Experten gewandet in Schlüsselpositionen der Regierung eingerückt sind. Das prominenteste Beispiel ist Akis Skertsos, der als Minister beim Ministerpräsidenten die gesamte Regierungsarbeit koordiniert. Er fungierte bis zum Wahlsieg der ND als Geschäftsführer des Griechischen Unternehmer- und Industriellenverbandes (SEV). Das ist in der Tat nicht mehr die alte, sondern eine weit modernere und effizientere Art von Günstlingswirtschaft.

Direkt aus „der Wirtschaft“ kommt auch ein Mann, dessen Name für den bislang größten Skandal der Regierung Mitsotakis steht. Zum neuen Chef des nationalen Nachrichtendienstes EYP wurde Panagiotis Kontoleon berufen. In diesem Fall ist nicht nur die Person skandalös, sondern auch das Ernennungsverfahren.

Der neue Geheimdienstchef stand zuvor sieben Jahre lang an der Spitze des Unternehmens G4S Greece. Die griechische Tochter des britischen, weltweit tätigen Security-Giganten G4S hat etwa 2000 Beschäftigten. Unter anderem ist sie mit Wachdiensten am Athener Flughafen und einigen Provinzflughäfen, aber auch in Flüchtlings- und Abschiebelagern betraut. Das Unternehmen hat, wie die Branche insgesamt, keinen guten Ruf. In Griechenland muss es sich ständig arbeitsrechtlicher Klagen erwehren, von der Wettbewerbskommission wurde es 2015 wegen Kartell-Absprachen zu einer Geldstrafe von 355 000 Euro verurteilt.(24)

Was könnte einen solchen Mann zum Leiter des staatlichen Geheimdienstes qualifizieren? Die Regierung erklärte, Kontoleon habe seine „technokratische Effizienz … im unternehmerischen Wettbewerb nachgewiesen“ und sei als „Protyp“ des erfolgreichen Managers der richtige Mann, um den EYP zu reformieren und zu „entbürokratisieren“. Ganz nebenbei wurde noch auf eine zweite Qualifikation verwiesen: Der G4S-Chef genieße nicht nur Anerkennung wegen seiner „beachtlichen Karriere im Bereich Security“, sondern auch „Wertschätzung im Ausland“ und zumal „in Ländern, mit denen Griechenland traditionell zusammenarbeitet“.

Genaueres über diese „Wertschätzung im Ausland“ hatte ein ND-nahes Medium bereits am Tag nach den Wahlen ausgeplaudert. Am 8. Juli war in der (zum Medienimperium Marinakis gehörenden) Wochenzeitung To Vima zu lesen, Kontoleon genieße „Rückhalt in den USA“ aufgrund der „Zusammenarbeit seiner Firma mit der US-Botschaft in Athen“. Wie diese Zusammenarbeit ausssah, war dann in der EfSyn vom 3. August nachzulesen. Demnach hat die Karriere des neuen EYP-Chefs Ende der 1980er-Jahre beim US-Security-Unternehmen Wackenhut begonnen, wo er bei Geldtransporten eingesetzt war, aber auch als Bewacher der US-Botschaft, für die auch schon sein Vater gearbeitet hatte. Als Wackenhut 2002 von dem Security-Giganten G4S geschluckt wurde, begann für Kontoleon ein Aufstieg, der ihn von der Buchhaltungsabteilung bis in die Führungsetage der G4S-Tochter führte.

Der bisher größte Mitsotakis-Skandal

Vom Bewacher der US-Botschaft zum griechischen Geheimdienstchef ist eine Karriere, die selbst den legendären „amerikanischen Traum“ - vom Tellerwäscher zum Millionär - in den Schatten stellt. Dabei liegt der Skandal nicht darin, dass der neue Mann die „Wertschätzung“ der USA genießt. Das versteht sich von selbst und gilt für alle früheren EYP-Chefs. Der eigentliche Skandal ist, dass die Managerkarriere in einem privaten Security-Unternehmen als „professionelle Qualifikation“ für den Mann an der Spitze des staatlichen Geheimdienstes gelten soll. Kontoleon hat sich nie mit Fragen der Geopolitik, der internationalen Beziehungen oder der Sicherheitspolitik befasst, geschweige denn ein entsprechendes akademisches Studium abgeschlossen, was laut Gesetz eine Voraussetzung für die Bewerbung auf diesen Posten ist.

Damit sind wir beim zweiten Skandal: Die Macher-Regierung hat ihre EYP-Entscheidung mit rechtswidrigen Methoden durchgesetzt. Das Gesetz über den Geheimdienst schreibt vor, dass der Leiter ein akademisches Studium mit einem in Griechenland anerkannten Titel abgeschlossen haben muss. Die Regierung behauptete nach der Ernennung von Kontoleon, der habe ein anerkanntes Diplom in London erworben. Als die Journalisten der EfSyn nachforschten, war ein solches akademisches Zertifikat nicht zu finden (Berichte vom 2. 3. und 6 August 2019). Dennoch behauptete der Regierungssprecher noch am 6. August, „selbstverständlich“ seien „alle formellen und inhaltlichen Voraussetzungen“ für die Besetzung der Position erfüllt.

Drei Wochen später überführte sich die Regierung selbst der Lüge, als sie das Geheimdienstgesetz novellieren musste. In Bezug auf die „erforderlichen Qualifikationen“ des EYP-Chefs heißt es nun, dieser müsse entweder über einen akademischen Titel verfügen oder über „eine mindestens zehnjährige nachweisliche Berufstätigkeit“. (News 24/7 vom 30. August 2019). Die neue Bestimmung hat rückwirkende Geltung, was eine rechtsstaatliche Grundregel verletzt. Und das Verfahren hatte einen weiteren Makel: Die Änderung wurde ohne Vorankündigung in eine Gesetzesvorlage des Verkehrsministers eingeschmuggelt, die das System der Führerscheinprüfungen regelt. Dieses überfallartige Verfahren löste so große Empörung aus, dass sämtliche Abgeordneten der Oppositionsparteien mit Nein stimmten oder die Abstimmung boykottierten.

Hier zeigt sich ein weiterer innerer Widerspruch der Regierung Mitsotakis: der Gegensatz zwischen den Proklamationen des großen Modernisierers und den alten Praktiken des griechischen Parlamentarismus. In der Vouli haben „Omnibus-Gesetze“ eine lange Tradition. Im Volksmund heißen sie „Besengesetze“, weil alle möglichen Sonderwünsche zusammengefegt und in einen Paragrafen-Container geschüttet werden. Die Unsitte wurde von allen Regierungen und Parteien – einschließlich der Syriza – gepflegt. Am schlimmsten trieben sie es am Ende der Legislaturperiode, wenn die Abgeordneten, um die Chancen ihre Wiederwahl zu verbessern, irgendwelche Vergünstigungen für ihre lokale oder professionelle Klientel zu einem Omnibus-Paket verschnürten. Im Extremfall wurden solche Gefälligkeitsparagrafen regelrecht versteckt, damit sie es unentdeckt ins amtliche Gesetzblatt schafften.

Besengesetze – ein weiteres gebrochenes Versprechen

Mitsotakis hat diesen Missbrauch des Gesetzgebungsverfahrens seit langem angeprangert und vor den Wahlen versprochen, diese Art von Interessenbedienung zu unterbinden. Der löbliche Vorsatz fand seinen Niederschlag in dem (oben vorgestellten) Gesetz 4622 über den „epiteliko kratos“, das in Artikel 58 die „Prinzipien und Instrumente für eine Gute Gesetzgebung“ (Kali Nomothétisi) definiert. Dazu gehört auch der Grundsatz der „Einfachheit und Eindeutigkeit“, wie auch der „Transparenz“ von Gesetzesvorlagen, was heißt, dass diese rechtzeitig eingebracht und „allgemein einsehbar“ sein müssen.(25)

Das Gesetz soll also den Usus der Omnibus-Gesetze (polynomia) und der eingeschmuggelten Paragrafen beenden. Diese Praktiken hat auch der neue, allseits geachtete Parlamentspräsident Kostas Tasoulas (ND) für „unzulässig“ erklärt. Gegenüber der Kathimerini (vom 16. September) nannte er als Beispiel für „schlechte Gesetzgebung“ auch Ministervorlagen, „die entweder nichts mit dem Inhalt der Gesetzesvorlage zu tun haben, oder nicht so rechtzeitig vorgelegt werden, dass die Abgeordneten den Text studieren können“.

Das alles liest sich wunderbar, doch wie sieht die Praxis des Macherstaates aus? Die Praxis ist der Coup mit dem Schmuggelparagrafen, der die rechtswidrige Berufung des Geheimdienstchefs rückwirkend rechtskonform machen sollte. Und der Fall Kontoleon war nicht der erste und nicht der schlimmste. Noch gravierender war die Missachtung der „Guten Gesetzgebung“ bei einer der ersten legislativen Initiativen der ND-Regierung.

Am 8. August stimmte das Parlament über eine Novelle zum Universitätsgesetz ab.(26) In diesen Gesetzentwurf hatte Arbeitsminister Yiannis Vroutsis in letzter Minute eine zusätzliche Vorlage (tropologia) eingefügt, die tiefgreifende Änderungen des Arbeitsrechts beinhaltete. Kein Abgeordneter hatte den Text vorher gesehen, kein Ausschuss hatte darüber beraten, das Plenum stimmte ohne Atempause ab.

Das Griechenland von morgen mit den Methoden von gestern

Es war das Gegenteil von „Guter Gesetzgebung“, es war ein legislativer Putsch. Das Parlament war in Aufruhr. Die Abgeordneten aller Oppositionsparteien verließen protestierend den Saal. Die Volksvertreter in Diensten des Modernisierers Mitsotakis blieben sitzen, stimmten stoisch für das Gesetz mit der arbeitsrechtlichen Kontrabande und hörten sich die Begründung ihres Ministers für die Eilbedürftigkeit der tropologia an: „Das Griechenland, das wir uns für morgen wünschen, kann nicht warten“, es muss sich von „ideologische Obsessionen und Erstarrungen“ frei machen, darf nicht „in einem Gestern erstarren, an dem Griechenland schwer gelitten hat“.

Das Griechenland von morgen mit den Methoden von gestern. Für die neoliberalen Modernisierer ist dies offenbar kein Widerspruch. Zumal wenn es darum geht, die Wunschliste des Unternehmerverbandes SEV abzuarbeiten. Angesichts der arbeitsrechtlichen Paragrafen, die Vroutsis dem Universitätsgesetz untergeschoben hat, versteht man sofort, warum Mitsotakis und der SEV die Änderungen noch im Ferienmonat August über die Bühne zerren wollten.

- Die erste Änderung macht eine Gesetzesbestimmung in Sachen Kündigungsschutz rückgängig, die die Tsipras-Regierung durchgebracht hatte (womit das das griechische Arbeitsrecht mit EU-Recht harmonisiert wurde). Nach dieser Änderung ist es wieder wie vorher: Die Arbeitgeber müssen keine schriftliche Begründung für die Entlassung eines Angestellten abgeben. Zweck der Übung ist, die arbeitsrechtliche Klagemöglichkeiten der Arbeitgeberseite einzuschränken. Das wollte Vroutsis mit der zynischen Behauptung verschleiern, die Gesetzesänderung sei im Interesse der Entlassenen, weil die ohne das Stigma einer "begründeten Entlassung" leichter einen neuen Job finden würden.

- Die zweite Änderung betrifft die Rechte von Leiharbeitern, also die Beschäftigten von Subunternehmen. Nach der Syriza-Gesetzgebung hatte der Hauptauftragnehmer dafür zu sorgen, dass der Subunternehmer die Sozialbeiträge für seine Beschäftigten abführt. Diese Verpflichtung ist nunmehr wieder gestrichen, die Leiharbeiter können von ihrer Entsendefirma wieder übervorteilt werden, ohne dass der Hauptunternehmer dafür gerade stehen muss.

- Die dritte Änderung läuft darauf hinaus, die arbeitsrechtlichen Klagemöglichkeiten der Arbeitnehmer zu erschweren.(27)

Die durchgeschmuggelte Novelle des Arbeitsministers stieß selbst in der ND-freundlichen Presse auf Kritik. Nicht wegen ihres Inhalts, der überwiegend als Teil einer investitionsförderlichen Agenda gesehen wurde, sondern wegen des skandalösen Verfahrens. Das fand selbst ein konservativer Kommentator wie Paschos Mandravelis „unethisch“. Und die Begründung des ND-Ministers, dass das Land „nicht warten“ könne, erinnerte ihn an „diktatorische Regime“. (Kathimerini vom 10. August)

Was dieses Verfahren nur eine Ausnahme, oder Ausdruck einer Kinderkrankheit der neuen Regierung, wie Parlamentspräsident Tasoulas versicherte? Mitnichten. Im Oktober wurde eine „eilbedürftige“ Änderung des Schulgesetzes auf eine Gesetzesnovelle des Investitionsministeriums draufgesattelt. (Kathimerini vom 9. Oktober 2019) Und die schon geschilderte Änderung des Mediengesetzes zugunsten von Multi-Medium-Eignern wie Marinakis ist ein weiteres Beispiel. Der Entwurf für ein umfassendes Investitionsgesetz, das diese Änderung enthält, ist allerding insofern ehrlicher, als schon im Titel ansagt wird: “…und andere Bestimmungen“. Tatsächlich ist dieses Paragrafenwerk ein „Besengesetz“ der besonderen Art, das alle erdenklichen „Investitionshindernisse“ in allen Bereichen staatlicher Aktivitäten und Regelungen beiseite fegt. Das erklärte Ziel der Übung ist „die Schaffung eines fruchtbaren Bodens und eines freundlichen Klima, das neue Investitionen anzieht, um neue und qualitativ gute Arbeitsplätze zu schaffen“.

Neues Arbeitsrecht per Schmuggelgesetz

Die Neuerungen und Änderungen, die in diesem Gesetz Nr. 4608 verstaut wurden, reichen von der Beschleunigung bürokratischer Prozeduren für Investitionen über die Abschwächung des Umweltschutzes bis zu weiteren Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte.(28) Hier seien nur die wichtigsten Beispiele genannt:

1. Wenn die Regierung ein Investitionsvorhaben für „strategisch“ erklärt, können die geltenden Lizensierungsregeln und einschränkenden Bestimmungen (Arbeitsschutz, Umweltverträglichkeit) „flexibel“ gehandhabt und im Zweifelsfall außer Kraft gesetzt werden.

2. Noch mehr „Flexibilität“ genießen Firmen, die in „Industrieparks“ (also in noch zu schaffende Sonderwirtschaftszonen) investieren. Sie brauchen zur Aufnahme der Produktion nur noch eine Lizenz zur Unternehmensgründung, die Betriebslizenz kann nachträglich erteilt werden. Dadurch sind diese Unternehmen u.a. besser vor Einsprüchen der Anwohner geschützt; die Möglichkeit der Klage wegen „Belästigung der Umgebung“ wurde ganz gestrichen. Auch die Umweltauflagen werden für Investition in Industrieparks insgesamt abgeschwächt.

3. Die Kontrolle der Unternehmen durch die Aufsichtsbehörden soll zwar nicht „laxer“ werden, aber sie kann künftig auch an Privatunternehmen übertragen werden (Art.14, 19). Damit könnte sich hier leicht ein Kartell von „Prüfunternehmen“ herausbilden, die den Markt für Gefälligkeitsgutachten beherrschen.

4. Bei „strategischen Investitionen“ können wichtige baurechtliche und planerische Vorschriften – etwa der Grenzwert für die „Bebauungsdichte“ – übergangen werden, wenn „höhere öffentliche Interessen“ dies gebieten. Dafür reicht es aus, dass der Investor das Abweichen von den Gesetzen für „notwendig“ erklärt. Mit dieser Bestimmung wird zweierlei Recht geschaffen, und zwar zu Ungunsten „nicht strategischer Investoren“, die mit Sicherheit gegen diese Diskriminierung klagen werden.

5. Firmen können im Fall „außergewöhnlicher ökonomischer Probleme“ von der „Bindung“ durch Branchentarifverträge befreit werden. Über solche „Ausnahmen“ entscheidet letztlich das Arbeitsministerium. Damit wird die Bindungskraft von Tarifverträgen weiter geschwächt. Und ganz nebenbei wird auch ein „elektronisches Mitgliederregister“ für die Gewerkschaften (und die Arbeitgeber) eingeführt. Das soll angeblich der „Transparenz“ dienen, bedroht aber in erster Linie die organisatorischen Autonomie der Gewerkschaften. (EfSyn vom 11. Und 12. August 2009)

Gewiss enthält das Gesetz 4608 auch Ansätze für unumstritten wichtige Reformen, etwa zur Beschleunigung administrativer Verfahren und gerichtlicher Entscheidungen. Wie überfällig solche Reformen sind, zeigt der neueste „Doing Business 2020“-Report, der alljährlich von der Weltbank vorgelegt wird. Demnach dauert es in Griechenland bei einem Rechtsstreit zwischen Unternehmen bis zur Entscheidung durchschnittlich 1711 Tage (4,5 Jahre), im Durchschnitt der OECD-Länder sind es nur 589 Tage (1,6 Jahre). Die langwierigen Justizverfahren sind ein Grund dafür, dass Griechenland in dieser Rangliste der Weltbank vom 72. auf den 79. Platz (unter 190 Ländern) zurückgefallen ist.(29)

Ein Fortschritt schon unter der Syriza-Regierung

Der Weltbank-Report bezeugt aber auch, dass Griechenland das Verfahren einer Firmengründung erheblich beschleunigt hat, und zwar noch unter der Syriza-Regierung. Seit dem 28. Januar 2019 gibt es die Online-Plattform (e-ΥΜΣ), die den Zeitaufwand für die Gründung einer Firma erheblich reduziert. Dank dieses Fortschritts ist Griechenland in der Doing-Business 2020-Rangliste bei der Kategorie „Starting a Business“ vom 44. auf den 11. Platz vorgerückt ist. Es war also bereits die Tsipras-Regierung, die ein viel beklagtes Hindernis für Investitionen beseitigt hat. In diesem Punkt bleibt für die neue Regierung nicht viel zu tun. Das wiederum zeigt, dass der Macherstaat unter „Investitionsförderung“ nicht – wie behauptet - in erster Linie Bürokratieabbau versteht. Vielmehr schaffen Mitsotakis und Georgiadis neue Privilegien für „strategische Investoren“, womit „normale“ Investoren automatisch benachteiligt sind. Und weil das Prädikat „strategisch“ von der Regierung verliehen wird, ist diese Sonderbehandlung ein ganz willkürliches Verfahren – und ein neues Einfallstor für korrupte Praktiken.

Nimmt man die arbeitsrechtlichen Restriktionen und die Möglichkeit des „opting out“ aus geltenden Tarifverträgen hinzu, ist die Kritik völlig berechtigt, die alle im Parlament vertretenen Parteien links der ND geübt haben. Das waren neben der Syriza die KKE, die Kinal (vormals Pasok) und MeRA25 (Varoufakis). Diese vier Parteien stimmten auch gegen das ganze Gesetzeswerk, das am 24. Oktober mit 165 gegen 122 Stimmen verabschiedet wurde. Dafür stimmten neben den ND-Abgeordneten nur die Rechtsextremisten von der Elliniki Lysi (EL).

Der Oppositionsführer Tsipras bezeichnete das Gesetz 4608 als „Produkt einer extrem neoliberalen Philosophie” der Regierung, das den „Interessen der Arbeiter und des Volkes“ widerspricht. Auch der Gewerkschaftsverband GSEE kritisierte den „heimtückischen Plan“, der darauf ziele, das System der freien Tarifverhandlungen zu untergraben und die Gewerkschaften zu zerstören (allerdings ist der GSEE gerade im Begriff, sich selbst zu zerstören, und zwar durch sektiererische innere Streitigkeiten, die auf dem letzten Gewerkschaftskongress sogar in Handgreiflichkeiten ausarteten).

Grüße vom CEO an den Unternehmerverband

Wenig verwunderlich ist, dass der Unternehmerverband SEV die Umsetzung einer „Modernisierung“ begrüßte, die in vielen Einzelpunkten der eigenen Agenda entspricht. Und deren Umsetzung im Auftrag von CEO Mitsotakis vom ehemaligen Generalsekretär des SEV beaufsichtigt wird. Die Kapitalseite ist aber nicht nur mit diesem Investitionsgesetz gut bedient. Sie wird auch durch die Steuerpolitik der neuen Regierung begünstigt, die für 2020 die Unternehmenssteuer von 28 auf 24 Prozent abgesenkt hat hat und für 2021 eine weitere Senkung auf 20 Prozent einplant. Mitsotakis hat auch sein Wahlversprechen eingehalten, die Dividendensteuer auf 5 Prozent zu halbieren. Im Gegensatz dazu musste er die meisten der steuerlichen Entlastungen, die er der Mittelklasse vor den Wahlen versprochen hatte, zunächst aufschieben, um den Haushalt für 2020 nicht zu gefährden. Erst wenn die Regierung einen Überschuss über den verordneten Primärüberschuss von 3,5 Prozent des BIP erzielen kann, will sie einige ihrer Wahlzusagen an die Mittelklasse erfüllen.

In dieser Frage positioniert sich die neue Regierung ganz ähnlich wie früher die Regierung von Tsipras und Tsakalotos. Das kann anders gar nicht sein, denn die ND und Mitsotakis stehen vor denselben wirtschaftlichen Realitäten, die durch Gesetzesinitiativen nur bedingt beeinflusst werden. Ein Programm zum Thema „Wir investieren in Griechenland“ kann Anreize schaffen, aber es garantiert noch keine Investitionen. Die setzen realwirtschaftliche Bedingungen voraus, die kein Gesetz herbeizaubern kann. Diese Erkenntnis spiegelt auch die Kursentwicklung an der Athener Börse wieder: Die Kurse sind nach der Verabschiedung des „Investitionsgesetzes“ keineswegs explodiert, sondern leicht gesunken. Die 872 Punkt vom 25. Oktober liegen deutlich unter dem Rekordhoch von über 901 Punkten, das der Aktienindex Ende Juli in der Euphorie über den ND-Wahlsieg erreicht hatte.

Die Ernüchterung hat bereits eingesetzt. Zwar haben die griechischen Unternehmer das von Mitsotakis proklamierte Wachstumsziel von 4 Prozent des BIP (ab 2020 und auf viele Jahre hinaus) nie ernst genommen. Doch immerhin hielt der SEV nach dem Wahlsieg des neoliberalen Modernisierers noch ein Wachstum über 3 Prozent für möglich. (Kathimerini vom 12. September) Heute rechnet das Wirtschaftsforschungsinstitut der Arbeitgeber (IOBE) nur noch mit 2,3 bis 2,5 Prozent. Der Haushaltsentwurf von Finanzminister Staikouras für 2020 unterstellt noch einen BIP-Zuwachs von 2,8 Prozent.

Diese Zahl hält das IOBE für „strukturell“ ausgeschlossen. Noch zurückhaltender ist die langfristige Prognose: Selbst die begrenzte Wachstumsdynamik von heute werde ohne ein neues Entwicklungsmodell, das die Investitionen und vor allem die Exporte verstärkt, eine „vorübergehende Erscheinung“ bleiben. Aber - gibt das IOBE zu bedenken - selbst neue „strategische“ Investitionen, haben in der Regel eine längere „Inkubationszeit“.

Die „Inkubationszeit“ von Investitionen ist ein Faktor, den der Modernisierer bei seiner Beschwörung eines dauerhaften Wachstums von 4 Prozent unzureichend bedacht hat. Ein langfristiges Wachstum setzt qualitative Investitionen in Unternehmen und Branchen mit hoher Wertschöpfung und stabilen Exportchancen voraus. Deshalb könnte die „Investitionsexplosion“, die Mitsotakis in seinen Kontaktgesprächen mit potentiellen ausländischen Investoren herbei reden will, mit einem Verpuffungseffekt enden.

Business Plan for Greece - für die Finanzelite

Mitsotakis hat in den dreieinhalb Monaten seines Regierens viel Zeit mit den Champions der internationalen Finanzmärkte verbracht – weit mehr als mit Repräsentanten der „Realwirtschaft“. Seine Gesprächspartner waren die Spitzenmanager von global tätigen Großbanken, Vermögensanlegern, Hedgefonds und anderen Finanzinvestoren. (30) Fairerweise muss man an dieser Stelle sagen, dass auch Tsipras und seine Finanzminister Varoufakis und Tsakalotos viel unterwegs waren, um in der Londoner City oder an der Wall Street potentielle Investoren zu bezirzen. Aber bei Mitsotakis war der PR-Einsatz auf den wichtigen Finanzplätzen („roadshow“ genannt) ein regelrechtes Klinkenputzen. So verschaffte er sich Ende September – nach seinem Auftritt bei der UN-Vollversammlung - Termine mit den wichtigsten Finanzmarkt-Größen, von Morgan Chase über Goldman Sachs bis Bain Capital, Cerberus und Avenue Capital. Bei einem Dinner mit 14 Repräsentanten der Finanzelite präsentierte er seinen „Business Plan for Greece“ und erzählte von geplanten Privatisierungen und öffentlichen Bauvorhaben, die nach Investitionen verlangten. (31) Einige der Privatisierungen, die Mitsotakis bei diesen Gesprächen feilbot, waren der griechischen Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt unbekannt. Auch der „Business Plan for Greece“ wurde in Athen nie veröffentlicht. Und auf der Website des Ministerpräsidenten sucht man einen Hinweis auf seine New Yorker Gespräche vergebens. (https://primeminister.gr/en/home).

Mitsotakis war auf diese Tour gut vorbereitet und spielte seine Rolle gewiss nicht schlecht. Der Kathimerini-Kommentator Tom Ellis bestätigt dem Klinkenputzer, dass er bei den ausländischen Investoren sehr gut ankommt, weil er „ihre Sprache spricht und ihre Anliegen versteht.“ (Kathimerini vom 24. Oktober). Aber nachdem sich Ellis mit einigen dieser Gesprächspartner unterhalten hat, zieht er das Fazit, dass sie im Allgemeinen „trotz der überzeugenden Präsentation von Mitsotakis skeptisch bleiben“. Zwar gebe es „einige Anzeichen“ für verstärktes Interesse, „aber die tatsächlichen Geschäfte sind noch begrenzt“. Dafür nennt Ellis mehrere Gründe, aber einen hält er für besonders wichtig: Bevor sich ausländische Investoren auf dem griechischen Markt engagieren, müssen sie sehen, dass die Griechen vorangehen“. Deshalb seien „griechische Investitionen in Griechenland der erfolgreichste Weg, um Ausländer zu überzeugen, ebenfalls in dieses Land zu investieren.“

Wenn dieses Argument stimmt, ist die Jagd auf ausländische Investoren mit der neoliberalen Verheißung, Griechenland zum „investitionsfreundlichsten Land der EU“ zu machen, nicht nur eine klassenpolitische Kampfansage. Sie setzt auch „realwirtschaftlich“ auf das falsche Pferd, nämlich auf das streunende Kapital der „Finanzierungsgesellschaften“, die in Griechenland die Chance für schnelle Gewinne sehen, vor allem auf dem Immobilienmarkt. Solche Casino-Kapitalisten pflegen sich zu zieren, um bessere Konditionen herauszuschlagen. Wer solchen „Investoren“ nachjagt, ist zu endlosen Konzessionen bereit ist. Um am Ende vielleicht zu erleben, dass sie sich schnell wieder zurückziehen, wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden.

Trommler und Tanzbär

Alexis Tsipras und die Syriza hatten sich vorgenommen, mit „seriösen Unternehmern“ ins Geschäft zu kommen, um die griechische Wirtschaft auf ein „gesundes Fundament“ zu stellen und den Bannfluch der Finanzmärkte gegen ihr Land zu brechen. Ihr Bemühen blieb aus Gründen, für die sie nur zum Teil verantwortlich waren, weitgehend erfolglos. Aber dass Tsipras und Tsakalotos es versucht haben, war eine notwendige „realwirtschaftliche“ Wende und ein unvermeidlicher Lernprozess. Bei Mitsotakis stellt sich heute die Frage, ob der neoliberal imprägnierte Macher mit seinem technokratischen Stab zu einem ähnlichen Lernprozess in der Lage ist.

Erinnern wir uns. Der linke Hoffnungsträger Tsipras hatte zwei Monate vor seiner Wahl im Januar 2015 mit Blick auf die Troika und die Finanzinstitutionen getönt: „Die haben bisjetzt gedacht, die Märkte schlagen die Trommel und die Regierungen werden danach tanzen. Aber jetzt wird das anders: Wir schlagen die Trommel, und die werden tanzen.“

Aus diesem Tanz ist nichts geworden. Die Regierung Mitsotakis versucht es heute mit dem radikalen Gegenrezept: Der große Modernisierer schlägt nach dem Rythmus der Märkte auf die Pauke und sein Investitionsminister Georgiades tapst als Tanzbär mit. Aber allzu laute Paukentöne machen die Märkte misstrauisch und von einem Tanzbär lassen sich eher Finanzakrobaten beeindrucken als langfristig denkende Investoren.

Tsipras brauchte nach seiner Wahl vom Januar 2015 sechs Monate, um in der Realität anzukommen. Wie viel Zeit Mitsotakis von der Realität bekommt, wird sich zeigen. Was die griechischen Wähler betrifft, so sind ihm mindestens zwölf Monate Schonfrist sicher. Und was die Syriza betrifft, so gehen auch ihre Sympathisanten davon aus, dass die Partei wenigstens ein Jahr brauchen wird, um eine politische Strategie gegenüber dem Macher Mitsotakis zu entwickeln.

Eine solche Strategie ist bislang nicht einmal in Ansätzen zu erkennen. Tsipras und seine Partei lassen zwar unentwegt wissen, dass sie den breiten Raum der „linken Mitte“ erobern wollen, der jahrzehntelang von der Pasok besetzt war. Aber wie sie das anstellen wollen, ist überaus unklar. Und die ersten Reaktionen der Syriza auf die Macher-Offensive der neuen Regierung wirken eher schizophren.

Wenn Mitsotakis eine Maßnahme verkündet, die er der Öffentlichkeit als Fortschritt darstellen will, machen Tsipras oder Tsakalotos geltend, dass die Sache schon unter ihrer Regierung auf den Weg gebracht wurde. Wenn die Syriza dagegen eine ND-Maßnahme als neoliberale Grausamkeit geißelt, fällt skeptischen Wählern ein, dass die Tsipras-Regierung die ersten Schritte in die kritisierte Richtung gemacht hat.

Solche Widersprüche werden von der potentiellen Wählerschaft der Syriza registriert. Auch deshalb dominiert in der „politischen Mitte“ noch die Neigung, alle möglichen realen oder auch irrealen „Fortschritte“ der Regierung zuzuschreiben. Ein gutes Beispiel ist die Ablösung der teuren IWF-Kredite durch Gelder, die sich Athen heute unter günstigen Konditionen auf den Finanzmärkten beschaffen kann, weil die Zinsen für griechische Staatsanleihen in den letzten 6 Monaten von 3,6 auf 1,2 Prozent gesunken sind. Den Rückkauf-Plan hatte zwar bereits Tsakalotos entwickelt, und auch der Trend zu günstigeren Zinsen setzte schon während der Syriza-Regierung ein, aber die Lorbeeren kann jetzt Mitsotakis ernten.(32)

Nach 100 Tagen im Hoch der Meinungsumfragen

Von dieser und anderen Erfolgsgeschichten erzählen auch die ersten Meinungsumfragen aus Anlass der „ersten 100 Tage Mitsotakis-Regierung“. Sie bescheinigen der ND und vor allem der Person Mitsotakis einen großen Vorsprung vor der Opposition. Nach der jüngsten Umfrage von Mitte Oktober (Pulse für den regierungsfreundlichen TV-Sender Skai) liegt die ND in der Wählergunst mit 13. 5 Prozentpunkten vor der Syriza. Bemerkenswert ist dabei, dass die Regierungspartei mit 38,5 Prozent unter ihrem realen Wahlresultat (39,8 Prozent) liegt. Ihr großer Vorsprung vor der Opposition beruht darauf, dass die Syriza mit 25 Prozent im Vergleich zu ihrem Wahlresultat (31.5 Prozent) dramatisch eingebrochen ist. Das Bild wird bestätigt durch die Antworten auf die entscheidende „Stimmungsfrage“, ob sich das Land „in die richtige Richtung bewegt“. Darauf antworten 61 Prozent der Befragten positiv („sicherlich“ oder „eher“ richtig) und nur 31 Prozent negativ.

Am eindrucksvollsten ist der Vorsprung des Regierungschefs bei der Frage nach dem „geeigneteren Ministerpräsidenten“. Hier hat der Regierungschef mit 45 Prozent den Oppositionsführer (26 Prozent) klar abgehängt. Die Distanz von 19 Prozentpunkten ist die größte die zwischen Mitsotakis und Tsipras je gemessen wurde und hat sich gegenüber dem Zeitpunkt unmittelbar vor der Wahl vom 7. Juli verdreifacht (damals führte Mitsotakis mit 37 gegenüber 31 Prozent). Diese Zahlen zeigen, dass Mitsotakis das Publikum weit stärker anspricht und überzeugt als seine Partei Nea Dimokratia.

Besonders aufschlussreich ist die Reaktion auf die Frage, auf welchem Gebiet die Regierung bislang die „besten“ Resultate vorweisen könne. Weitaus am meisten, nämlich 30 Prozent der Befragten nennen die Steuerpolitik, dagegen nur 8 Prozent den Bereich „Investitionen“. Die erste Ziffer belegt die Fähigkeit der neuen Regierung, reichliche Vorschusslorbeeren zu ernten, denn die endgültige Steuerbelastung durch den Staatshaushalt für 2020 ist noch gar nicht bekannt. Sie spricht aber auch für die Wirksamkeit einer angekündigten Maßnahme, die Mitsotakis mit Sicherheit einhalten wird: die Einführung einer neuen Einkommensteuer-Stufe von 9 Prozent für Jahreseinkommen unter 10 000 Euro (darüber wird jeder Euro mit 22 Prozent besteuert). Diese Maßnahme entlastet vor allem Familien mit sehr niedrigen Einkommen, aber auch für alle Steuerzahler, die über 10 000 Euro verdienen, vermindert sich die Belastung um immerhin 177 Euro.(33)

Aufbruch in die Moderne oder alles beim Alten?

Aufbruch in die Moderne oder Rückkehr zur Normalität? Nach 15 Wochen Mitsotakis-Regierung sind zwar einige technokratische Initiativen auf den Weg gekommen, aber insgesamt dominiert der Eindruck eines „Déjà-vu“. Also alles beim Alten: Vergünstigungen für eine bestimmte Klientel; Personalentscheidungen nach Gutsherrnart; überhastete Gesetze, die gleich wieder korrigiert werden müssen. Und immer wieder gebrochene Versprechen, die wichtige Prinzipien betreffen, auf die der große Modernisierer geschworen hat: vom „Leistungsprinzip“ über die Forderung nach „demokratischer Transparenz“ bis zu den Regeln einer „Guten Gesetzgebung“.

Ein ausgewogenes und nüchternes Urteil hat der Politikwissenschaftler Nikos Marantzidis nach zwei Monaten der Macherregierung abgegeben, wobei er vor allem das Widersprüchliche an der bisherigen „performance“ betont:

Einige Dinge werden vielleicht vorangehen, andere wahrscheinlich nicht, und bei gewissen Problemen wird es bedauerliche Rückschritte geben. Wie die Gesamtbilanz ausfällt, wird man erst am Ende sehen. Sicher ist aber, dass auch die treuesten Anhänger der Regierung früher oder später einsehen werden, dass sie ihre Erwartungen hinsichtlich eines „neuen Griechenland“ und anderer Ambitionen zurückfahren müssen.

Wie immer werden einige soziale Gruppen Gewinne einfahren, andere aber Verluste erleiden, meint Marantzidis, wie das in einem klientelistischen System nun mal ist. Aber auch für die Regierung Mitsotakis werde die „Gnadenfrist, die die öffentliche Meinung jeder Regierung gewährt“, irgendwann zu Ende sein:

Dann werden die „Anti-Syriza-Gefühle“ aufgebraucht sein und die ersten ungeduldigen Wähler werden zu nörgeln anfangen. Und dann werden wir bald den bekannten Spruch hören, dass sich „in Griechenland ja doch nichts ändert“.

Und was dann? Wie gehabt: Die Regierung wird auf die klassischen Hindernisse verweisen (nicht genügend Zeit, Obstruktion seitens der Opposition, die internationale Lage) und wird auf die Ebene der Emotionen setzen. Dann wird sie auf die alten Symbole zurückgreifen und die alten Grundwerte ihrer konservativen Gefolgschaft beschwören: Ordnung, Sicherheit, Häuslichkeit, Glauben, Nation, die altbekannten Sachen. Und über allem der Kampf gegen die Kriminalität …

Und so werden wir wieder irgendwann neue Wahlen erleben, bei denen die Regierung ihre zweite Chance fordert, damit sie den „Aufbruch“ zu Ende bringen kann und damit „die Arbeit so vieler Jahre nicht umsonst gewesen ist“. Und diese Wahlen wird man wieder einmal als die wichtigsten seit der Rückkehr zur Demokratie bezeichnen.

Ein Leuchtturm-Projekt, ein strategischer Fehler und eine Karyiatide

Was Marintzidis voraussagt ist die „Rückkehr zur Normalität“, wie sie die alte Nea Dimokratia repräsentiert – statt des großen Aufbruchs, den Mitsotakis beschwört. Was diesen Aufbruch betrifft, so hat der Modernisierer bereits einen strategischen Fehler gemacht, den er noch bereuen wird. Er hat eine einzige „success story“ ohne Not zum Kriterium seiner Erfolgsbilanz gemacht – und damit zum Kriterium seines Scheiterns.

Mitsotakis selbst hat schon vor Jahren das Bauprojekt auf dem Gelände des alten Athener Flughafens Elliniko für „emblematisch“, also zum Symbol des „neuen Griechenland“ erklärt. Die Verwertung dieser „größten Immobilie Europas“ soll angeblich 8 Milliarden an Investitionen und Zehntausende Arbeitsplätze bringen. Zum Wärter des Leuchtturm-Projekts hat der Regierungschef einen „Investitionsminister“ ernannt, der sich nicht scheut, das Immobilienprojekt mit der Akropolis zu vergleichen: „Wenn man heute den Parthenon sieht, wird man sagen: dies ist die Epoche der Athenischen Demokratie und des klassischen Griechenland. Und genau so wird man irgendwann das Elliniko betrachten und sagen: damals hat sich Griechenland vom letzten Sowjetstaat des Balkan in ein normales westliches Land verwandelt.“ (zitiert nach Kathimerini vom 12. Oktober 2019)

Was der ND-Minister Adonis Georgiades über eine Investition, die in erster Linie ein Spielcasino und einen Vergnügungspark im Auge hat und in zweiter Linie ausländische Immobilien-Käufer, die das Recht auf ein Visum oder einen griechischen Pass erwerben wollen, von sich gibt, ist bizarr aber immerhin lustig. Genauso bizarr aber sehr viel ernster ist der entscheidende Aspekt dieser Immobilien-Farce: Die neue Regierung hat fast ihr ganzes moralisches Kapital in eine Sache investiert, die das Gegenteil einer innovativen, wertschöpfenden und nachhaltigen Investition darstellt.

Angesichts der Bedeutung dieses Projekts für die Mitsotakis-Regierung werde ich die Planung, die Profiteure und die Risiken der Helliniko-Überbauung gesondert analysieren. Und zwar im November, sobald die Ausschreibung über das Spielcasino entschieden ist, das nach Aussage eines der Lizenzbewerber eine Million Touristen pro Jahr nach Athen bringen wird. Um das Casino konkurrieren zwei us-amerikanische Konzerne, die ähnliche Glücksspiel- und Vergnügungspark-Unternehmen von Florida bis Macao betreiben.

Einer der Bewerber, die Mahogen Gaming and Entertainment (MGE), rechnet sich besonders große Chancen aus. In ihrem Generalplan für das Bauprojekt hat sie die Anregung des Adonis Georgiadis aufgenommen: Das Wolkenkratzer-Hotel, das sie als Luxusunterkunft für ihre Casino-Kunden plant, wird als „Weiterentwicklung“ der Akropolis präsentiert. In einem animation-spot verwandelt sich eine der Karyatiden-Skulpturen des Erechtheions innerhalb von fünf Sekunden in ein 200 Meter hohes Ungetüm, das die Küste Attikas verschandeln soll. Um zu erahnen, wie das Symbol des neuen schönen Griechenland aussehen könnte, sollte man sich dieses Wunder unbedingt ansehen. Man findet es unter: https://mohegangaming.com/2019/10/08/mohegan-gaming-entertainment-unveils-the-concept-behind-inspire-athens-a-landmark-integrated-resort-and-casino-development-for-the-hellinikon-project/

Gute Nacht.

  

Anmerkungen

1) Eine genauere Wahlanalyse enthält mein Blog-Text vom 16. Juli 2019.

2) Eine Darstellung der fast gleichgeschalteten Medienlandschaft in der einzigen unabhängigen Tageszeitung Efimerida ton Syntakton (EfSyn) vom 13. September 2019.

3) Nach Absatz 3 des Artikels 3 ist eine neue Übersetzung der altgriechischen Bibel „ohne vorherige Genehmigung“ durch die Kirchenführung verboten. Untersagt ist nach der Artikel 13 auch jeder „Proselytismus“, also die Abwerbung orthodoxer Christen durch eine andere Religionsgemeinschaft. Weitere Details zum Verhältnis von Staat und habe ich in meinem Blog-Text vom 4. Juni 2019 dargestellt.

4) Als Beleg für die semitische Komponente der Verschwörung dient den klerikalen Antisemiten stets die Rolle des „Juden Soros“.

5) So Barbara Papadopoulos in EfSyn vom 19. Juli 2019.

6) Für die Kirche wie für die einzelnen Popen sind religiöse Dienstleistungen wie Taufen, Trauungen und Begräbnisse eine wichtige Einnahmequelle. Das erklärt auch den erbitterten Widerstand des Klerus gegen die Zivilehe, die 1981 von der ersten Pasok-Regierung ermöglicht wurde, aber auch heute noch lange nicht die Regel ist.

7) In einer Analyse der innerkirchlichen Machtverhältnisse (Kathimerini vom 12. Oktober) wird vorausgesagt, dass der nächste Erzbischof deutlich rechter sein wird als Ieronymos.

8) So in einem Interview mit der Athener Kathimerini (vom 11. August), in dem er das Investitionsgesetz ankündigte, das am 24. Oktober vom Parlament verabschiedet wurde.

9) Kathimerini vom 6. September. Gemeint ist Pavlos Melas, ein 1905 im Kampf gefallener Patriot, siehe dazu mein Blog-Text vom 16. Februar 2018: „Im Land des real existierenden Surrealismus“.

10) Zwei ND-Abgeordnete im Europäischen Parlament demonstrierten ebenfalls ihre Distanz zur Linie von Mitsotakis: Als das Parlament am 24. Oktober mit großer Mehrheit die Entscheidung des letzten EU-Gipfels, keine Beitrittsgespräche mit Nordmazedonien und Albanien zu eröffnen, in einer Resolution als „strategischen Fehler“ kritisierte, enthielten sie sich der Stimme; die übrigen sechs ND-Abgeordneten blieben der Abstimmung fern.

11) Um zu veranschaulichen, wie über-detailliert das Gesetz 4622 die Strukturen und Abläufe innerhalb des Regierungsapparats samt der Haupt- und Nebenzuständigkeiten jedes einzelnen Akteurs festlegt, könnte man jeden beliebigen Artikel zitieren. Zum Beispiel ist in Art.4 Abs. 3 die Willensbildung innerhalb des Kabinetts so geregelt: „Nachdem die Diskussion eines Themas beendet ist, führt der Ministerpräsident die Beschlussfassung des Ministerrats herbei. Wenn es Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedern des Ministerrats gibt, stellt der Ministerpräsident die entsprechenden Fragen zur Abstimmung. In diesem Fall entscheidet der Ministerrat in offener Abstimmung und mit absoluter Mehrheit seiner anwesenden Mitglieder; im Fall der Stimmengleichheit gibt die Meinung des Ministerpräsidenten den Ausschlag. Wenn sich bei der Abstimmung mehr als zwei Meinungen herausbilden, ohne dass die erforderliche Mehrheit erzielt wird, ermahnt der Ministerpräsident diejenigen, die den Meinungen mit dem schwächsten Rückhalt zuneigen, sich einer der (zwei) überwiegenden Meinungen anzuschließen.“

12) Dass keiner dieser Posten mit einer „Generalsekretärin“ besetzt ist, versteht sich bei der Genderfärbung der Mitsotakis-Regierung von selbst.

13) Siehe Art.21 des Gesetzes 4622 und die Analyse des neuen Organs in den Nachrichten bei Skai-TV vom 2. August 2019.

14) Die Ausnahme war Wirtschaftsminister Dragasakis, und der hatte nur drei Monate lang ein Regierungsamt bekleidet.

15) Eines der Generalsekretariate im PtK ist das „Sondersekretariat für die Kontrolle und Evaluierung der Regierungsarbeit“, die übrigen Generalsekretariate sind für gesetzgeberische- und Parlamentsthemen, für die Koordination der Innenpolitik bzw. der Finanz- und Wirtschaftspolitik zuständig; siehe Art. 23 bis 28 des Gesetzes 4622.

16) So die Diagnose von Stefanos Kassimatis in Kathimerini vom 18. Juli 2019. Von einer „Entparteilichung“ (apokommatikopiisi) spricht auch Angelos Tsekeris in der Syriza-Partei-Zeitung Avgi vom 22. Juli 2019.

17) Bezeichnend ist, dass viele der fein verzweigten Kompetenzregelungen des Gesetzes 4622 am Ende durch die Bestimmung hinfällig werden, dass in wichtigen oder eiligen Fällen der Ministerpräsident entscheidet.

18) So Zoulas bei seiner Anhörung im Parlament am 17. September, zitiert nach EfSyn vom 21. September; als er noch ND-Pressesprecher war, hatte Zoulas das ERT-Fernsehen als „Syriza-Channel“ bezeichnet.

19) Eine repräsentative Liste von Journalisten in Diensten der neuen Regierung publizierte die EfSyn vom 22. September.

20) Thanou war im Juli 2017 kurz nach ihrer Pensionierung von Ministerpräsident Tsipras zur Leiterin seiner Rechtsabteilung berufen worden; das war eine dumme Entscheidung, die damals auch innerhalb der Syriza kritisiert wurde.

21) Genaueres über diese Figur in meinen Blogtexten und „Herbstlese, Teil 3“ vom 14. Oktober 2016 und „Tsipras in Trumps Rosengarten“ vom 22. November 2017.

22) Die Pflicht zur Offenlegung der Anteilseigner war 2015 von der Syriza-Regierung per Gesetz eingeführt worden. Petsas begründete die „Entlastung“ von dieser Informationspflicht u.a. mit dem lächerlichen Argument, angesichts der „Menge der Börsentransaktionen und der weltweiten Verflechtung der Börsen“ sei die Ermittlung der Anteilseigner ohnehin nicht möglich. (Kathimerini vom 11. Oktober).

23) Medienbeobachter in Athen vermuten seit langem, dass Marinakis die digitalen Übertragungsrechte an den Spitzenspielen der griechischen Fußballliga erwerben will – und das obwohl er zugleich Besitzer des finanzstärksten Klubs Olympiakos Piräus ist.

24) Das volle Sündenregister der G4S Hellas wurde in der EfSyn vom 3. August und in der Wochenzeitung Documento vom 8. August dokumentiert. Auch der britische Mutterkonzern, der weltweit größte Sicherheitsdienstleister, hat einen ausgesprochen schlechten Ruf: Wegen zahlreicher Menschenrechtsverletzungen (u.a. bei Abschiebungen) wurde das Unternehmen 2013 für den Negativpreis Public Eye Award nominiert; 2018 entzog ihm die britische Regierung das „Management“ der Strafvollzugsanstalt von Birmingham wegen „unhaltbarer Zustände“. Zu weiteren Details siehe: https://en.wikipedia.org/wiki/G4S

25) Artikel 25 regelt die „effektive Umsetzung“ dieser Grundsätze, die dem „Generalsekretariat für gesetzgeberische und Parlamentsthemen“ obliegt. Wie zu erwarten gibt es dafür noch ein spezielles Unterorgans: das „Büro der guten Gesetzgebung“, das alle Zweige der Regierung zu einer „Kali Nomothétisi“ anhalten soll.

26) Kernpunkt war die Einschränkung des „Asylrechts“ der Unis, das von der Regierung als die rechtliche Basis für „illegale“ Besetzungen angesehen wird.

27) Eine detailliertere Darstellung bei Wassilis Aswestopoulos in Telepolis vom 9. August 2019 (www.heise.de/tp/features/Mitsotakis-Regierung-demonstriert-ihre-konservative-Ideologie-4492432.html?seite=all).

28) Eine Analyse der wichtigsten Inhalte in Kathimerini vom 11. und 13. September und in der EfSyn vom 12. und 13. September 2019. Der gesamte Text des Gesetzes 4608 mit 241 Artikeln auf 212 Seiten auf der Website der Vouli: https://www.hellenicparliament.gr/Nomothetiko-Ergo/Anazitisi-Nomothetikou-Ergou?law_id=bfed05a1-61bf-42f0-a7fb-aae1018a7dfc

29) Kathimerini vom 25. Oktober 2019), die ganze Weltbank-Publikation unter: https://openknowledge.worldbank.org/handle/10986/32436

30) Nur 12 Tage nach seiner Wahl empfing Mitsotakis den Chef der kanadischen Fairfax Financial Holding Prem Watsa, der sein Interesse an Investitionen in den Bank- und Immobiliensektor erklärte.

31) Ein detaillierter Bericht über „die unbekannten Diskussionen von Mitsotakis in den USA“ findet sich in Kathimerini vom 29. September 2019.

32) Die ND-Regierung schreibt sich schon den Zinsrückgang seit Frühjahr 2019 zugute, den sie als Reaktion der Finanzmärkte auf den erwarteten Wahlsieg der ND interpretiert,; dabei vergisst sie allerdings, dass der Trend zu niedrigen Erträgen den gesamten Bonds-Markt kennzeichnet und nicht nur die griechischen Anleihen betrifft.

33) Berechnungen in Kathimerini vom 16. September 2019.

 


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