Neuer Wein in alten Schläuchen?
von Niels Kadritzke | 16. Juli 2019
Ironie der Geschichte ist untertrieben. Um das griechische Wahlergebnis vom 7. Juli historisch einzuordnen, muss man vielmehr von einem bösen Sarkasmus der Geschichte sprechen. Seit letzter Woche regiert in Athen wieder jene Partei, die das Land mit ihrer klientelistischen Selbstversorgungspolitik der Jahre 2004 bis 2009 in eine katastrophale Verschuldungskrise gesteuert hat. Und die damit die Voraussetzungen für jene fatale und krisenverschärfenden „Rettungsprogramme“ schuf, die der griechischen Gesellschaft seit 2010 durch das Regime der Troika und der internationalen Finanzmärkte aufgeherrscht wurde.
Was besagt dieses Comeback der konservativ-neoliberalen Nea Dimokratia über die kollektive Lernfähigkeit der griechischen Gesellschaft? Und wie viel Verantwortung trägt für diese Entwicklung die Regierung Tsipras, die fast viereinhalb Jahre lang die Chance hatte, das Land in eine andere Zukunft zu steuern?
Griechenlands neuer Ministerpräsident: Kyriakos Mitsotakis. © REUTERS/Alkis Konstantinidis
Ein Parlament mit sechs Parteien
Wie nach dem Ergebnis der Europawahlen vom 26. Mai zu erwarten war, hat die Wahl zum griechischen Parlament (der Vouli) vom 7. Juli dem Land eine neue Regierung beschert. Die konservative Nea Dimokratia (ND) errang mit 39, 85 Prozent der Wählerstimmen die absolute Mehrheit in der Vouli: von den 300 Mandaten konnte sie 158 verbuchen – dank der 50 Bonussitze für die stärkste Partei. Zweitstärkste Partei wurde die Syriza mit 31,53 Prozent und 86 Sitzen. Damit konnte die bisherige Regierungspartei den Rückstand gegenüber der ND, der bei der Europawahl noch 9,36 Prozent betragen hatte, um einen Prozentpunkt verkürzen. An dritter Stelle landete die Kinal (Bewegung des Wandels, ehemals Pasok) die mit 8,1 Prozent der Stimmen 22 Mandate errang. Als vierte Partei kommt die kommunistische KKE mit 5,3 Prozent auf 15 Sitze.
Zwei kleinere Gruppierungen sind erstmals im Parlament vertreten. An fünfter Stelle landete die rechtspopulistische EL (Elliniki Lysi, oder Griechische Lösung) mit 3,7 Prozent und 10 Sitzen. Die EL ist nicht viel mehr als die Ein-Mann-Bewegung des Journalisten Kyriakos Velopoulos, der einen eigenen rechtsradikalen Fernsehsender „Alert TV“ betreibt. In der Mazedonien-Frage fordert er einen Hochverrats-Prozess gegen Nikos Kotzias, den Ex-Außenminister von Tsipras und „Vater“ des Prespa-Abkommens. Was die Frage der Flüchtlinge und Migranten betrifft, bekennt er sich zur Linie von Orban und Salvini, fordert darüber hinaus auch noch die Todesstrafe für „Menschenhändler“.(1)
Die sechste in der Vouli vertretente Partei ist die linke Bewegung MeRA25, die in Deutschland als DiEM 25 firmiert. Die „Partei von Varoufakis“, wie sie in Griechenland allgemein genannt wird, kann mit ihren mit 3,4 Prozent Wählerstimmen auf 9 Parlamentssitze.
Die Neonazis im freien Zerfall
Die übrigen kleineren Parteien scheiterten an der 3-Prozent-Hürde. Im Fall der Neo-Nazi-Partei Chrysi Avgi bedeutet dies eine erfreuliche Überraschung. Mit 2,93 Prozent blieb die ChA weit hinter ihrem Rekordergebnis vom September 2015 (6,99 Prozent) und auch deutlich hinter ihrem Resultat bei der Europawahl vom 26. Mai (4,88 Prozent) zurück. Das liegt vor allem an der Abwendung der jüngeren Wählergruppen, von der vor allem die ND profitierte. Dass die Partei ihre Anhänger nicht mehr mobilisieren konnte, obwohl ihr das Scheitern an der 3-Prozent-Hürde drohte, deutet auf eine tiefe innerparteiliche Krise. Die ersten Symptome des Zerfalls sind bereits zu sehen: Zusammen mit anderen ChA-Funktionären hat der einzige verbliebene Europa-Parlamentarier der Partei (Ioannis Lagos) seinen Parteiaustritt verkündet und sich zum unabhängigen Abgeordneten erklärt (EfSyn vom 13. Juli). Dieser Zerfallsprozess wird sich beschleunigen, wenn der Strafprozess gegen die Parteiführung in den nächsten Monaten mit einer Verurteilung wegen „Bildung einer kriminellen Bande“ enden sollte.
Gescheitert ist auch die „Union der Zentristen“, die nur noch auf 1,2 Prozent Stimmen kam. Zwei in der alten Vouli vertretene Parteien traten am 7. Juli wegen Aussichtslosigkeit nicht mehr an: zum einen die rechtspopulistische Partei des Ex-Verteidigungsministers Kammenos, der im Januar wegen des Prespa-Abkommens mit Nordmazedonien die Koalition mit der Syriza aufgekündigt hatte; zum anderen die liberale Partei „To Potami“ (Fluss). Das begrenzte Potential beider Parteien konnte vor allem die ND übernehmen, was wahrscheinlich auch für einen Teil der Chrysi Avgi-Wähler gilt.
Das Reservoir der linken Splitterparteien ist weiter geschrumpft, auf insgesamt etwa 3 Prozent. Davon dürfte am ehesten die Varoufakis-Partei profitiert haben, die am 26. Mai noch knapp unter der 3-Prozent-Schwelle gelegen hatte. Doch am stärksten profitierten ND und Syriza von der Auszehrung der rechten und linken Kleinstparteien: Ihr addierter Stimmenanteil stieg im Vergleich mit den Wahlen von 2015 Prozent von 64 auf 71,5 Prozent. Ob dies eine dauerhafte Trendwende anzeigt – zurück zum traditionellen Zweikampf der beiden großen Lagerparteien –, bleibt allerdings abzuwarten und hängt auch von der Entwicklung des Wahlrechts ab.
Es gab bei diesen Wahlen einen weiteren Faktor, der gegen die Kleinparteien wirkte: Mitsotakis hatte gedroht, er werde für den Fall, dass seine Partei keine absolute Mehrheit in der Vouli erreicht, sofortige Neuwahlen herbeiführen. Diese Erpressung hat der ND zusätzliche Stimmen gebracht, denn ein zweiter Urnengang mitten im August (wie Mitsotakis präzisierte) hätte viele Wählerinnen und Wähler gezwungen, ihre Ferien zu unterbrechen.
Das erstaunlich optimistische Fazit der Syriza
Während der Wahlsieg der ND unbestreitbar ist und Mitsotakis von einem Triumph sprechen kann, fällt die Einschätzung des Resultats bei der Syriza erstaunlich optimistisch aus. Für die Parteiführung stand die Niederlage spätestens seit den Europawahlen fest. Das bot ihr paradoxerweise die Chance, einen relativen Erfolg zu feiern, weil das Resultat am 7. Juli deutlich besser ausfiel als die 23,8 Prozent vom 26. Mai. Am Ende waren es fast acht Prozentpunkte mehr. Noch kurz vor dem Wahlsonntag war aus der Umgebung von Tsipras zu hören, schon ein Stimmenanteil von mehr als 25 Prozent ließe sich als relativer Erfolg darstellen, weil die Partei eine „strategische Niederlage“ vermieden habe. Die Optimisten wagten sogar auf ein Resultat von 28 bis 29 Stimmen zu hoffen.
Vor diesem Erwartungshorizont waren die 31,5 Prozent vom 7. Juli ein Traumresultat. Dass die Syriza im Vergleich mit den Europawahlen deutlich besser abgeschnitten hat, erklärt sich vor allem aus zwei Faktoren, die der Politologe Panagiotis Koustenis in der EfSyn vom 13. Juli 2019 dargestellt hat: Bei der Gruppe der in den Vorwahlumfragen noch „Unentschiedenen“ konnte die Syriza mehr Stimmen gewinnen als die ND (31 gegenüber 26 Prozent). Bei den Europawahlen war es genau umgekehrt gewesen. Besonders viele „Unentschiedene“ konnte die Tsipras-Partei in der letzten Woche vor den Wahlen überzeugen, was Koustenis auch auf ein Interview mit dem TV-Sender Skai zurückführt, bei dem der Syriza-Chef einen gefassten, selbstbewussten, aber auch selbstkritischen Eindruck machte.(2) Das wichtigste Motiv für diejenigen, die sich doch noch für die Syriza entschieden, war aber sicher der hohe ND-Wahlsieg vom 26. Mai, der den Restbestand an linken Solidaritätsgefühlen mobilisierte.
Das Abschneiden der Syriza wirkt noch erstaunlicher, wenn man den Faktor „Mazedonien“ herausrechnet, der die Partei am 7. Juli nach den Berechnungen von Koustenis etwa 2,5 Prozent Wähleranteil in Nordgriechenland gekostet hat.(3) Insgesamt hat die Syriza von den rund 600 000 Stimmen, die sie am 26. Mai (im Vergleich mit den letzten Wahlen von 2015) verloren hatte, am 7. Juli etwa 450 000 wieder zurückgewonnen. Damit hat sie tatsächlich eine strategische Niederlage abgewendet. Die Parteiführung machte diesen „Erfolg“ an drei Kriterien fest: Die symbolisch wichtige 30-Prozent-Grenze wurde übertroffen, der Vorsprung der ND um einen Prozentpunkt verringert und die Kinal klar distanziert.
Syriza als bestimmende Kraft der linken Mitte
Der letzte Punkt ist für die Partei deshalb bedeutsam, weil sie sich als die maßgebliche politische Kraft der linken Mitte profilieren will. Die Syriza ist nach dem Stimmenanteil wie nach der Fraktionsstärke im Parlament rund vier Mal stärker als die Kinal. Damit kann Tsipras von Anfang die Rolle des Herausforderers der Regierung Mitsotakis beanspruchen. Dieser wichtige Erfolg tröstet darüber hinweg, dass die Syriza zwei erklärte Ziele nicht erreicht hat: Erstens konnte sie absolute Mehrheit der ND nicht verhindern; und zweitens hat es Varoufakis in die Vouli geschafft, wo er zumindest rhetorisch als konkurrierender „Oppositionsführer“ auftreten wird.
Legt man das Wahlergebnis vom 7. Juli über das traditionelle Rechts-Links-Schema ergibt sich ein erstaunliches Bild. Links von der Mitte addieren sich die Stimmenzahlen von Syriza, KKE, Kinal und der Varoufakis-Partei auf 48,3 Prozent (wenn man die gescheiterten Kleinparteien einbezieht, kommt sogar eine knappe absolute Mehrheit heraus). Dagegen entfallen auf das Spektrum rechts von der Mitte (Nea Dimokratie, Elliniki Lysi und Chrysi Avgi) nur 46,5 Prozent der Wählerstimmen.
Noch deutlicher ist das leichte Übergewicht für das „linke Lager“ bei einigen spezifischen Wählergruppen (die folgenden Zahlen stammen aus der oben genannten Analyse von Koustenis). Das gilt etwa für die Frauen (51 Prozent), aber auch für die Altersgruppen der 17- 24-Jährigen (53 Prozent) und der 25-34-Jährigen (54 Prozent) oder für die Gruppe der Studierenden (53 Prozent). Dagegen votierten bestimmte Berufsgruppen deutlich für das rechte Lager, am deutlichsten die „Hausfrauen“ (53 Prozent), die Bauern (52 Prozent) und die Freiberufler (50 Prozent). Bei den Altersgruppen hat das rechte Lager nur bei den Über-65-Jährigen eine Mehrheit (54 Prozent).
Die Partei der Nichtwähler
Alle Prozentzahlen beziehen sich natürlich nur auf die abgegebenen Stimmen. Zum Gesamtbild gehört aber auch die schwache Wahlbeteiligung von 57,9 Prozent. Man könnte also sagen, dass die „Partei der Nichtwähler“ mit 42 Prozent der heimliche Wahlsieger ist.(4) In der hohen Wahlabstinenz zeigt sich eine umfassende Skepsis gegenüber dem ganzen politischen System und dessen Personal. Die äußert sich auch darin, dass bei den Umfragen im Vorfeld der Wahlen bei der Frage, ob Tsipras oder Mitsotakis der „fähigste Ministerpräsident“ sei, die meist genannte Antwort lautete: „Keiner von beiden“.
Die Gesamtheit der Daten - über Wähler und Nichtwähler - verdeutlicht gesellschaftliche Stimmungen und Kräfteverhältnisse, die der Wahlsieger Mitsotakis beim künftigen Regieren in Rechnung stellen muss. Die ND hat das rechtsradikale Wählerpotential dank ihrer Mazedonien-Propaganda und ihrer Law-and-Order-Parolen optimal ausgeschöpft. Viel mehr ist für die konservativ-liberale Volkspartei in der ganz rechten Ecke nicht mehr zu holen. Daraus folgt: um ihren jüngsten Wahlerfolg auf Dauer zu stabilisieren, muss sie sich auf die politische Mitte orientieren – allerdings ohne ihre aus dem rechtsradikalen Lager herübergelockten Wähler wieder zu verlieren.
Die schwierige Mission des Kyriakos Mitsotakis
Dieses Kunststück zustande zu bringen, ist die große Herausforderung, vor der Kyriakos Mitsotakis steht. Im Wahlkampf hat der neue Ministerpräsident schon geübt, indem er eine Doppelrolle spielte: einerseits gab er den rechten Haudegen, der die Polizei aufrüsten und möglichst viele Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken will; anderseits die des wirtschaftsliberalen und mittelstandsfreundlichen „Reformers“, der den griechischen Staat zu modernisieren verspricht. Es ist vor allem dieses zweite Image, das Mitsotakis nach außen, gegenüber der europäischen und internationalen Öffentlichkeit zu präsentieren versucht. Das ist ihm nur bedingt gelungen, weil er mit seiner nationalistischen Mazedonien-Rhetorik selbst seine konservativen Verbündeten in der EU irritiert hat.
Der „Erneuerer“ der konservativen ND sieht auf den ersten Blick ohnehin ziemlich alt aus. Das liegt auch, aber nicht nur an seinem Familiennamen. Kyriakos ist der jüngste Spross einer der konservativen Familiendynastien des Landes: Sein Vater Konstantinos Mitsotakis war von 1990 bis 1993 griechischer Ministerpräsident; seine ältere Schwester Dora Bakoyanni fungierte in den 2000er-Jahren als Athener Bürgermeisterin und als griechische Außenministerin. Deren Sohn Kostas Bakoyannis wurde gerade zum neuen Bürgermeister der Hauptstadt gewählt.
Mehr Establishment geht nicht. Kyriakos ist Fleisch vom Fleische der alten politischen Klasse, deren Intimität mit den unternehmerischen Eliten des Landes – insbesondere mit einflussreichen Reedern und Medienmagnaten – die Basis ihrer ungebrochenen gesellschaftlichen Macht darstellt. Die selbstgewählte Bürde, die Familientradition fortführen zu wollen, ist dem mittlerweile nicht mehr ganz jungen Mann in die Mimik eingeschrieben. Bei jedem Satz, den er sagt, strahlt er den verzweifelten Ehrgeiz des Thronfolgers aus, der seiner Familie und seinem politischen Clan beweisen muss, dass er es kann.
Das Alte im Neuen - oder das Neue im Alten
Nun könnte selbst ein familiär vorbelasteter Politiker „das Neue“ repräsentieren, wenn er es denn versuchen würde. Zum Beispiel, indem er ausspricht, was die Schwächen und Fehler der „alten“ Nea Dimokratia waren und sind. Doch Mitsotakis hat nie versucht, auch nur ansatzweise ein Stück Selbstkritik zu formulieren oder gar mit der Mentalität der politischen Klasse abzurechnen, die Griechenland vor zehn Jahren in den Abgrund gesteuert hat.
In seiner letzten Wahlrede in Thessaloniki gab Mitsotakis - im Gefühl des sicheren Sieges - seinem Gegenspieler Tsipras den Rat, er solle „aus seinen Fehlern lernen und nicht mehr in die erfolglosen Praktiken der Vergangenheit zurückfallen.“ Auf die Praktiken der früheren ND-Regierungen, die nicht nur erfolglos, sondern extrem verhängnisvoll waren, kam Mitsotakis bei seinen Auftritten nie zu sprechen. Er malte zwar tolle Visionen für das „neue Griechenland“ in die Luft, aber die alte ND konnte er schon deshalb nicht kritisieren, weil er sie bei jedem Auftritt um sich hatte.
Insbesondere unmittelbar vor dem Wahltag war die komplette „alte“ ND wieder voll im Einsatz: Kostas Karamanlis, der Schuldenkönig von 2009; Antonis Samaras, Erfinder der falschen „success stories“ von 2014 und nationalistischer Einpeitscher in der Mazedonien-Frage; und auch der Rechtsaußen und Vize-Parteivorsitzende Adonis Georgiadis, dem die Aufgabe zufiel, die rechtsradikalen Wähler mit rechtsradikalen Parolen zum Umsteigen in das konservative Boot zu animieren.
Speziell in der Mazedonienfrage schickte der Erneuerer Mitsotakis, der sich im Ausland gern als „Postpopulist“ darstellt, alle rechtspopulistischen Demagogen seiner Partei ins Rennen um die Wählergunst. Und zwar besonders in Nordgriechenland, wo Georgiadis und Apostolos Tzitzikostas, der Präfekt von Zentralmazedonien, das Prespa-Abkommen als Verrat am „wahren Mazedonien“ geißelten und ankündigten, eine ND-Regierung werde versuchen, den schändlichen Namenskompromiss wieder aufzukündigen.
In Thessaloniki lobte Mitsotakis den Lokalmatator Tzitzikostas als wichtigen Bundesgenossen. Dabei ist der der Mann der strategische Kopf des nationalistischen Parteiflügels in Nordgriechenland. Der Präfekt wurde landesweit berühmt, als er 2013 bei der Militärparade zum Nationalfeiertag vom 28. Oktober die Hooligans der Nazi-Partei Chrysi Avgi auf die Tribüne der Honoratioren einlud. Dafür hatte er seine Gründe: Wenige Monate später trat er bei der Neuwahl des Präfekten gegen den offiziellen ND-Kandidaten an und gewann haushoch - dank der Unterstützung nationalistischer und rechtsradikaler Gruppierungen.
Mitsotakis verdankt den Parteivorsitz den Rechtaußen der ND
Als die konservative Partei im Dezember 2015 per Mitgliederentscheid ihren neuen Vorsitzenden wählte, war Tzitzikostas einer von vier Kandidaten. An diese Wahl muss man sich erinnern, wenn man das riskante Verhältnis des heutigen ND-Vorsitzenden zu seinen nationalistischen Parteifreunden begreifen will.
Im ersten Wahlgang im Dezember 2015 lag Mitsotakis mit 28,5 Prozent nur an zweiter Stelle. Am meisten Stimmen erhielt mit 39,8 Prozent der gemäßigt konservative Parteiveteran Vangelis Meimarakis, auf Platz 3 und 4 folgten die beiden Vertreter des nationalistischen Flügels, Tzitzikostas und Georgiadis, die zusammen auf 31,7 Prozent kamen.
Anfang Januar 2016 erfolgte die Stichwahl zwischen den beiden Bestplazierten der ersten Runde. Dabei konnte Mitsotakis seinen Rivalen Meimarakis überflügeln: Er siegte mit 52, 4 Prozent der Stimmen, hatte also 24 Prozentpunkte dazu gewonnen, Meimarakis (47,6 Prozent) dagegen nur 8 Prozentpunkte. Die Stimmen für den neuen ND-Vorsitzenden kamen aus dem Lager der beiden ausgeschiedenen Kandidaten. Insbesondere Adonis Georgiadis, der erst 2012 von der rechtsradikalen Laos-Partei zur ND übergelaufen war, warb im zweiten Wahlgang für Mitsotakis ein, der ihn dafür zu einem der beiden Vize-Vorsitzenden ernannte. Das „neue Gesicht“ der ND war also von Anfang an den extremen Chauvinisten seiner Partei verpflichtet. Ob Mitsotakis als Ministerpräsident an diesen faustischen Pakt gebunden fühlt oder ob er sich - gestützt auf seinen Wahlsieg – aus der Selbstfesselung befreien kann, wird sich schnell herausstellen.
Testfall Prespa-Abkommen
Der Testfall wird zweifellos die Mazedonienfrage sein. Mitsotakis hat seinen europäischen Gesprächspartnern schon früher hinter verschlossenen Türen versprochen, dass er – entgegen seiner radikalen Sprüche - den Prespa-Vertrag auf keinen Fall aufkündigen werde (siehe dazu meinen Blog-Text vom 19. Dezember 2018). Im Wahlkampf hatte er anfangs erklärt, als Regierungschef werde er einen EU-Beschluss zur Einleitung der Beitrittsverhandlungen mit Skopje durch sein Veto verhindern. Zuletzt hat er diese Aussage aufgeweicht und erklärt, man könne das Veto auch noch in einer späteren Verhandlungsphase einsetzen.
Das alles deutet auf einen Rückzug von Positionen, die nach dem Wahlsieg als Stimmenfänger ausgedient haben. Die Regierung Mitsotakis wird sich in dieser Frage nicht mit den EU-Partnern anlegen. Dafür spricht auch die Ernennung des überaus gemäßigten Nikos Dendias zum Außenminister, der die Mazedonien-Hysterie des rechten ND-Flügels nie mitgemacht hat.
Doch es bleibt die Frage, ob die Rechtspopulisten so schnell klein beigeben werden. Ihre wichtigsten Vertreter (Georgiades und Voridis) wurden mit Ministerämtern versorgt und damit in die Regierungsdisziplin eingebunden.(5) Ein unberechenbarer Faktor bleibt jedoch Tzitzikostas mit seiner eigenen Machtbasis in Nordgriechenland. Er fühlt sich als Stimme der griechischen Mazedonier, die sich nicht mit dem Versprechen von Mitsotakis abspeisen lassen, dass er den den Rest der Welt darüber aufklären, wer die „echten Mazedonier“ sind.
Konzessionen an den rechten Flügel
Eine Konzession an den rechten Flügel ist auch die harte Law-and-Order-Politik, die Mitsotakis verkündet hat. Zu seinen Versprechen gehören 1500 neue Polizeikräfte und eine bessere Ausrüstung der Spezialeinheiten, die verschärft gegen „Anarchisten“ vorgehen sollen, aber auch bei Demonstrationen zum Einsatz kommen. Eine neue Ordnung will Mitsotakis auch im Bereich Strafvollzug schaffen. Mit ihrer ersten Rechtsverordnung übertrug die ND-Regierung die Zuständigkeit für die Gefängnisse vom Justiz- auf das Innenministerium. (EfSyn vom 10. Juli). Zur Begründung erklärte Mitsotakis, das Innenministerium sie für die Sicherheit und für „Verbrechensbekämpfung“ zuständig, also auch für die Sicherheit in den Gefängnissen, wo man die „gesetzlosen Zustände“ beenden müsse.
Die unhaltbaren Zustände in den griechischen Gefängnissen resultieren allerdings aus der staatlichen Unterfinanzierung des gesamten Strafvollzugs. Die aber will Mitsotakis nicht beenden. Die Zuständigkeit des Innenministeriums bedeutet, dass zentrale Prinzipien des Strafvollzugs, die in Griechenland zumindest auf dem Papier stehen – wie die Wahrung der Rechte von Häftlingen oder der Anspruch auf Resozialisierung – dem Kriterium der „Sicherheitsverwahrung“ untergeordnet werden. Und zwar in allen Anstalten einschließlich der Jugendgefängnisse. Mit dieser Kompetenzverlagerung geht auch die innere Kontrolle des Justizvollzugs, also die Untersuchung der skandalösen Zustände in den Haftanstalten, auf das Innenministerium über.
Ob dies mit EU-Recht vereinbar ist, werden die zuständigen Instanzen befinden. Ganz sicher verstößt das neue Regime für die griechischen Gefängnisse jedoch gegen die „Europäischen Strafvollzugsgrundsätze“ (European Prison Rules) des Europarats, die in ihrer letzten Fassung 2006 vom Komitee der Justizminister verabschiedet wurden.(6) Unter Punkt 71 dieser Regeln, die freilich nur Empfehlungen darstellen, heißt es eindeutig: „Justizvollzugsanstalten unterstehen der Verantwortung öffentlicher Verwaltung und sind von Militär-, Polizei- oder Ermittlungsbehörden zu trennen. Selbst Russland und die Türkei halten sich formal an diese Regel - nicht aber das Griechenland mit dem „neuen Gesicht“.
Migrationspolitik: Den Flüchtlingen das Leben schwer machen
Eine harte Linie im Sinne des rechten ND-Flügels wird die Regierung Mitsotakis auch gegenüber den in Griechenland gestrandeten Flüchtlingen und Immigranten fahren. Einen Vorgeschmack gibt die Entscheidung des neuen Arbeits- und Sozialministers Jiannis Vroutsis. Der hat mit einer seiner ersten Amtshandlung eine Regelung der Syriza-Regierung aufgehoben, die Flüchtlingen und anderen Ausländern den Zugang zur Sozialversicherungssystem erleichtern sollte. Dieser Beschluss liegt ganz auf der Linie, die der prominenteste Rechtspopulist (und neue Ministers für wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen) Adonis Georgadis im Wahlkampf vorgegeben hat: Man müsse den Flüchtlingen „das Leben so schwer wie möglich machen, damit sie verstehen, dass sie in unserem Land unerwünscht sind und wieder abhauen sollen“.( EfSyn vom 15. Juli 2019)
Für die griechischen Bürgerinnen und Bürger bemisst sich der Erfolg der Regierung Mitsotakis freilich an einer anderen Frage, die zugleich darüber entscheidet, ob sich der selbsternannte Erneuerer der ND von seinen Rechtspopulisten emanzipieren kann. „It’s the Economy, stupid“ hatte der ND-Chef im Wahlkampf immer wieder Bill Clinton zitiert. Wobei er ehrlicherweise klarmachte, dass er diese Formel ganz im neoliberalen Sinne buchstabiert. Daran ließ er auch in seinem ersten Interview nach den Wahlen in der „Hard Talk“-Sendung der BBC keine Zweifel: Seine oberste Priorität sei, die griechische Ökonomie auf einen aggressiven Expansionskurs zu bringen. Mitsotakis hat auch nach seinem Wahlsieg wiederholt, was er im Wahlkampf vollmundig angekündigt hatte: Ein Wirtschaftswachstum von 4 Prozent schon 2020 und danach noch viele Jahre. Das Rezept, um dies zu schaffen, beschrieb er in dem BBC-Interview kurz und knapp: „… to make Greece an attractive destination for capital, domestic and foreign.“
Wie Mitsotakis sein Land für das Kapital attraktiv machen will
Für das Erreichen dieses Ziels, sein Land für das internationale und nationale Kapital möglichst attraktiv zu machen, nannte Mitsotakis drei Grundvoraussetzungen: „Eine stabile Regierung, niedrige Besteuerung und einschneidende Deregulierung“. Die erste Bedingung glaubt er am 7. Juli geliefert zu haben, die zweite und dritte will er mit seiner Regierung umgehend erfüllen. Deshalb beinhalten die ersten Gesetze, die er schon im August durchs Parlament bringen will, umfassende Steuersenkungen und Deregulierungen im Sinne schneller und unbehinderter Investitionen.
Wie attraktiv die ND-Regierung ihr Land für das „nationale und internationale Kapitel“ machen will, signalisiert sie vor allem mit ihren Steuerplänen. Die sollen unter anderem beinhalten:
- die Abschaffung der Gewerbesteuer binnen zwei Jahren;
- die Senkung der Steuer auf Unternehmensgewinne von 28 auf 20 Prozent in zwei Etappen bis 2021;
- die Verringerung der Kapitalertragssteuer (also auf Dividenden) von 10 auf 5 Prozent bereits zum 1. Januar 2020 (damit sinkt dieser Steuersatz auf das Niveau von Rumänen und Bulgarien; in Deutschland werden Dividenden mit 25 Prozent besteuert)
- die Senkung der Immobiliensteuer um 30 Prozent (linear) binnen zwei Jahren;
- die Aussetzung der Mehrwertsteuer im gesamten Baugewerbe für drei Jahre;
- die Aussetzung der Steuer beim Kauf/Verkauf von Immobilien für drei Jahre.
Von seinem Klassencharakter abgesehen hat dieses Programm zwei immanente Schwachstellen. Die erste wird deutlich, wenn man den Mix dieses Steuersenkungsprogramms näher betrachtet. Jenseits der pauschalen Begünstigung der Unternehmer werden die präzisesten Anreize für die Börse und für das Baugewerbe gesetzt. Offensichtlich hat Mitsotakis selbst nicht viel Zutrauen in seine eigene Aussage, man wolle vor allem „zukunftsfähige“, also technologie- und wissensbasierte Investitionen mit hoher Wertschöpfung anziehen.
Der Bauboom soll es richten
Die Wirkung solcher Investitionen – selbst wenn sie kommen sollten – wird sich erst mittelfristig einstellen. Mitsotakis aber verspricht schon für 2020 einen BIP- Zuwachs um 4 Prozent. Und der ist nur mit einem Bauboom zu erzielen. Der soll auch durch eine Maßnahme gefördert werden, die Mitsotakis ebenfalls schnell umsetzen will: In Städten und Gemeinde soll durch eine Gesetzesänderung die Macht der Bürgermeister gegenüber den Gemeinderäten gestärkt werden. Damit wird die kommunale Exekutive umstrittene Bauvorhaben schneller und auch gegen Vorbehalte und Einsprüche „von unten“ durchsetzen können.
Kurzum: Das Fundament des angekündigten Turbo-Wirtschaftswachstums ist aus Beton. Und die beiden wichtigsten Indizes für die Konjunkturentwicklung unter der neuen Regierung werden dieselben sein, die das trügerische „Wirtschaftswunder“ der Vorkrisenzeit gekennzeichnet haben: die Zahl der Baugenehmigungen und die Umsätze auf den Immobilienmarkt. Mit der Verbilligung der Kosten für den Erwerb und Transfer von Immobilien erfüllt die ND-Regierung die Forderungen einer Branche, die schon seit zwei Jahren von einem starken Zufluss ausländischer Investitionen profitiert.
In einer Analyse des Immobiliensektors vom 31. Mai auf der Website Capital.gr heißt es, die ausländischen Investoren würden in Erwartung einer neuen Regierung auf eine „starke Dynamik und einen starken Aufwärtstrend bei Preisen und Renditen“ setzen. Und das zu Recht, denn sämtliche Forderungen dieser Investoren finden sich in dem ND-Steuerprogramm erfüllt.(7)
Die zweite Schwachstelle des ND-Steuerprogramms ist die Belastung der Staatshaushalte. Konkret: Wie sollen die Summen kompensiert werden, auf die der Fiskus in den nächsten vier Jahren verzichten muss? Die geplanten Steuernachlässe für die Kapitalseite reißen ein Haushaltsloch von etwa 5 Milliarden Euro. Das wird auch auf Seiten der Troika registriert, die nach wie vor eine „verschärfte Nachmemorandums-Aufsicht“ über die Athener Haushaltspolitik ausübt.
Auch die ND-Regierung unter der „Nachmemorandums-Aufsicht“
Auf die ersten Mahnungen der EU-Kommission hat Mitsotakis mit forschem Optimismus reagiert. Der Sorge um eine erneute „Vertrauenskrise“ zwischen Griechenland und der Troika und/oder den Finanzmärkten tritt er mit seinem platten neoliberalen Credo entgegen: Steuersenkungen führen zu mehr Investitionen und diese zu höheren Steuereinnahmen, womit das anfängliche Haushaltsdefizit mehr als ausgeglichen wird. Die neue, moderne ND-Regierung setzt also auf das alte, diskreditierte Konzept der Reaganomics, das schon in seiner originalen Version gescheitert ist.
Aber auch in diesem Punkt scheint Mitsotakis seinem eigenen Credo nicht zu trauen. Deshalb hat er durchsickern lassen, dass sein Finanzministerium eine Liste von Haushaltseinsparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro vorbereitet (Kathimerini vom 9. Juli). Wo er diese Kürzungsmöglichkeiten sieht, hat er schon Wahlkampf angedeutet: Alle „soziale Wohltaten“, die die Syriza-Regierung in den letzten Monaten bewilligt hat – und denen die ND im Parlament überwiegend zugestimmt hat – könnten wieder einkassiert werden, falls das angestrebte BIP-Wachstum von 4 Prozent nicht erreicht wird.
Noch wichtiger für die künftige Haushaltspolitik ist eine zweite Voraussetzung, die Mitsotakis in seinem BBC-Interview benannt hat: „Wenn ich Vertrauen der Gläubiger wiedergewinne, also sehr bald, werde ich über eine Senkung des Primärübeschusses verhandeln.“ Dass die von der Tsipras-Regierung zugesagten Überschüsse (von 3,5 Prozent des BIP bis zum Haushaltsjahr 2022 und danach von 2,2 Prozent bis knapp vor 2040) nicht zu erzielen sind, ist ein öffentliches Geheimnis. Aber gegenüber Tsipras und Tsakalotos bestanden die Gläubiger auf der Einhaltung dieser Zusage auch dann noch, als diese kurz vor den Wahlen ebenfalls eine Minderung forderten. Wenn jetzt Mitsotakis versuchen sollte, den Primärüberschuss schon für den Haushalt 2020 herunter zu verhandeln, würde er sehr wahrscheinlich scheitern. Die Institutionen in Brüssel und Frankfurt werden ihm nicht frei Haus liefern, was sie der Tsipras-Regierung verweigert haben.
Als EU-Finanzkommissar Pierre Moscovici Mitsotakis am 8. Juli zu seinem Wahlsieg gratulierte und seiner Regierung die Unterstützung der Kommission bei der „Erholung der Wirtschaft“ zusicherte, vergiftete er seine guten Wünsche mit der klaren Botschaft, dass die Entscheidung über den Primärüberschuss von 3,5 Prozent allein bei der Eurogroup, also den EU-Finanzministern liege (Avgi vom 8. Juli). Die Eurogroup hatte einen Tag vor den Wahlen erklärt, eine griechische Regierung, die vereinbarte Haushaltsziele aufkündigen wolle, müsse eine präzise Gegenfinanzierung vorlegen. Noch klarer hat es ESM-Chef Klaus Regling drei Tage nach den Wahlen ausgesprochen: Er sehe überhaupt keinen Spielraum für die Minderung des griechischen Primärüberschusses. Das führte prompt zu einem Kurssturz an der Athener Börse, die nach einer Woche Mitsotakis-Regierung einen Verlust von vier Prozentpunkten verzeichnete.
Keine gute Botschaft aus Brüssel
Die Botschaft aus Brüssel verhagelt der neuen Regierung ihre Pläne, meint Kostas Kallitsis, Wirtschaftskolumnist bei der Kathimerini, der die Haushaltspolitik sowohl der Syriza als auch der der ND kritisch sieht. Bereits vor den Wahlen rechnete er vor, dass für die Haushaltsplanung 2020 schon heute eine Deckungslücke von 700 Millionen Euro absehbar ist. Deshalb stellt er die Frage: Was will der neue Finanzminister antworten, wenn die Troika ihm vorhält, dass dieses Haushaltsloch noch anwachsen wird, wenn die Regierung ihre angekündigten Steuerminderungen umsetzt?“ Für diese Versprechungen sieht Kallitsis schlicht keinen Spielraum. Deshalb sagt er voraus, was Minister Staikouras bei seinen Gesprächen mit Regling und anderen Vertretern der Troika in dieser Woche nicht tun wird: „Er darf keinesfalls eine Diskussion über die 3,5 Prozent und die Forderung einer Reduzierung eröffnen.“ (Kathimerini vom 14. Juli).
Die Botschaft ist auch bei Kyriakos Mitsotakis angekommen. In einem Hintergrundsbericht der Kathimerini vom 15. Juli heißt es, das Ziel einer Reduzierung des Primärüberschusses werde erst für 2021 angestrebt. Von „sehr bald“, wie kurz zuvor im BBC-Interview angekündigt, ist offenbar nicht mehr die Rede. Zudem hat man inzwischen im ND-Wirtschaftskabinett kapiert, dass das allzu forsch angekündigte Steuerprogramm noch von der Eurogroup und der Troika abgesegnet werden muss. Zehn Tage nach seinem Triumph hat Mitsotakis lernen müssen, was er im Wahlkampf verdrängt hat: Das Kräfteverhältnis zwischen der Athener Regierung und der Troika hat sich mit der Abwahl von Tsipras nicht verändert.
Eine Männerriege mit manchen Lobbyisten
Die Skepsis auf Seiten der Partner- bzw. Aufsichsinstanzen wird auch durch die Zusammensetzung der neuen Regierung genährt. Der neoliberale Erlöser, der nimmermüde den „schlanken Staat“ predigt, hat dafür gesorgt, dass auf dem schlanken Körper ein Wasserkopf sitzt. Mitsotakis hat das umfangreichste Kabinett der griechischen Geschichte gebildet, das 51 Personen umfasst, darunter die Rekordzahl von 31 Vizeministern. Das Bild bei der Vereidigung dieses Kabinetts war ein bemerkenswerter Anblick: Die Mitglieder waren in einer Sechser-Reihe angetreten, was auch deshalb an eine Kompanie Soldaten erinnerte, weil kaum Frauen zu entdecken waren.
Damit hat Mitsotakis bei der Auswahl seines Regierungspersonals einen zweiten, höchst negativen Rekord aufgestellt: Unter den 51 Kabinettsmitgliedern sind lediglich 5 Frauen, weniger als zehn Prozent. Als der neue Ministerpräsident von der BBC-Journalistin Zeinab Badawi im „hard talk“ gefragt wurde, wie er diesen schändlicher Rückschritt erklären kann, kam der Erneuerer Griechenlands erstmals ins Flunkern. Zuerst behauptete er: „Leider haben wir nicht so viele Frauen, die interessiert waren ins Kabinett zu gehen.“ Daraufhin fragte Badawi, ob er sich denn bemüht habe, Kandidatinnen zu finden. Seine Antwort: „Ich habe viele gebeten, ins Kabinett zu kommen, aber sie waren sehr zögerlich.“(8)
Man sieht den verzweifelten Mitsotakis vor sich, wie er stundenlang auf ministrable Frauen einredet, die aber einfach nicht wollen. Bei den Männern seines Kabinetts scheint er dieses Problem nicht gehabt zu haben. 21 von ihnen sind außerparlamentarische Experten, die sich das Amt eines Ministers oder Vizeministers selbstbewusst zutrauen. Unter diesen „Fachleuten“ zeichnen sich einige durch eine besondere Qualifikation aus: In ihrem Vorleben wirkten sie als Berater oder Lobbyisten von Unternehmen und Verbänden, deren Interessen direkt mit ihrem neuen Aufgabenbereich in der Regierung Mitsotakis zu tun haben. Am offensichtlichsten ist dies bei dem Vizeminister Akis Skertsos, der für die Koordinierung der gesamten Regierungsarbeit zuständig ist: Er war bis zu seiner Berufung ins neue Kabinett geschäftsführender Direktor des Griechischen Unternehmer- und Industriellenverbandes.
Ein Vizeminister für den größten Immobilien-Konzern
Ein Skandal der ersten Kategorie ist die Berufung von Dimitris Oikonomou zum Vizeminister, der für Raumordnung und Stadtentwicklung zuständig ist. Seine wichtigste Aufgabe ist die „Betreuung“ des größten Immobilien-Projekts im Lande: Die Nutzung und Überbauung des Geländes, auf dem bis 2002 der alte Athener Flughafens Elliniko betrieben wurde. Käufer des staatlichen Geländes und Generalunternehmer des Elliniko-Projekts ist des börsennotierten Immobilienkonzern Lamda Development. Oikonomou war seit Ende 2017 als Berater für den Konzern tätig, dem er jetzt als Verhandlungspartner der staatlichen Seite gegenübertritt. Das ist in dem Fall besonders brisant, weil Lamda Development die vereinbarten Nutzungsbedingungen zu seinen Gunsten verändern will.(9)
Den Fall Elliniko werde ich in einem späteren Beitrag genauer unter die Lupe nehmen: als klassischen Fall einer Privatisierung, in der es weder um eine am Gemeinwohl orientierte „Raumordnung“ noch um eine vernünftige „Stadtentwicklung“ geht, sondern in erster Linie um ein Spielcasino und drei Wolkenkratzer mit Luxuswohnungen, die den angezielten Käufern aus China oder dem Nahen Osten ein „Goldenen Visum“ verschaffen, also Aufenthaltsrechte in Griechenland für die ganze Familie. Dieses Gegenmodell - besser die goldene Kehrseite – der eisernen Migrationspolitik ist für den Immobilienmarkt und damit für das Wachstumsmodell des „neuen Griechenland“ von herausragender Bedeutung.
Über dieses Projekt hat die ND schon zu Oppositionszeitungen die abenteuerlichsten Prognosen verbreitet, die von den meisten Medien erstaunlich unkritisch übernommen wurden: zig Milliarden an Investitionen, bis zu 80 Tausend Arbeitsplätze, eine Großbaustelle, die ein bis zwei Prozent zum griechischen BIP beitragen wird. Das sind Mondzahlen, mit denen sich irgendwann viele Leute blamiert haben werden. Die kritischen Experten gehen davon aus, dass das Mini-Dubai an der Attischen Riviera sich als Luftschloss erweisen wird. Wenn solche Projekte schiefgehen und wenn sich auch andere Versprechungen der neuen Regierung nicht erfüllen lassen, wird sich zeigen, was das wahre Gesicht des Kyriakos Mitsotakis ist.
Auch ein Fortschritt: Von der Vettern- zur Neffenwirtschaft
Was den Kampf gegen den Nepotismus betrifft, den der Erneuerer der alten ND angekündigt hat, so ist immerhin ein gewisser Fortschritt zu erkennen. Mitsotakis hat seiner Regierung die Regel verordnet, dass kein Mitglied seines Kabinetts einen Verwandten ersten Grades in seinem Stab beschäftigen dürfe. Er selbst ist mit gutem Beispiel vorangegangen: Zum Leiter des Ministerpräsidentenbüros hat er seinen Neffen berufen.
Der Kampf des Erneuerers gegen den alten Nepotismus kann dauern, aber ein erster Fortschritt ist gemacht: der Schritt von der Vettern- zur Neffenwirtschaft.
In den Überlegungen und Szenarien der Mitsotakis-Regierung spielt der Faktor Opposition bislang überhaupt keine Rolle. Wie die ND-nahen Medien berichten, geht man in der Umgebung des Ministerpräsidenten davon aus, dass der Spielraum der Syriza für eine wirksame Gegenstrategie sehr begrenzt ist. Der Grund liegt auf der Hand: Auf der Linkspartei lasten viereinhalb Jahre Regierungspolitik in Form einer „Krisenverwaltung“ - mit vielen Kompromissen -, die eine frontale Opposition gegen die alte Systempartei ND nicht besonders glaubwürdig machen.
Syriza: Die Folgen der Regierungsmacht für die Oppositionspartei
Die Macht kontaminiert. Die Folgen des Regierens für eine linken Partei in Zeiten der Krise haben die Tsipras und die Syriza im Hochgefühl ihres Wahlsieges vom Januar 2015 nicht bedacht. Diese Folgen zeigen sich in ihrem vollen Umfang erst nach dem Verlust der Regierungsmacht. Und sie sind irreversibel, begrenzen also auch die Möglichkeiten der Linkspartei in der Opposition.
Deshalb will ich noch einmal versuchen, das Geschick und die Probleme der Syriza als Regierungspartei der Jahre 2015 bis 2019 zu reflektieren. In meinem letzten Text habe ich den Weg der „Koalition der radikalen Linken“ zu einer Systempartei beschrieben. Das hat einige geschätzte Leser auch deshalb irritiert, weil ich auf Parallelen zu der heutigen Regierungspartei hingewiesen habe. Deshalb will ich über das Thema „die Linke und die Kosten der Macht“ einige weiterführende Überlegungen anstellen.
Als die Syriza im Januar 2015 die Parlamentswahlen gewann und ihr charismatischer Vorsitzender Alexis Tsipras eine Regierung bilden konnte, hatten sogar viele ihrer Wähler gemischte Gefühle. Und bange Fragen wie diese: Ist es eine gute Idee, dass eine linke Regierung auf dem Tiefpunkt der fiskalischen, ökonomischen und sozialen Krise die Verantwortung für ein Land übernimmt, das von einem schwierigen bis feindlichen internationalen Umfeld umgeben ist. Mich hat damals, noch vor dem Wahlsieg der Syriza, vor allem die Frage beschäftigt, wie eine linke Partei in einer so tiefgehenden Krise „eine gesellschaftliche Mehrheit gegen die alten, diskreditierten Kräfte organisieren kann, ohne mit falschen Versprechungen zu operieren“.(10)
Die Frage drängte sich schon deshalb auf, weil die linke Opposition die Koalition der alten Systemparteien ND und Pasok als Regierung der großspurigen Versprechen und gezinkten Erfolgsgeschichten attackiert hatte. Deshalb müsse, so mein Argument vor fünf Jahren, ein linkes Gegenprogramm auf einer nüchterne Bestandsaufnahme der Realität basieren. Falsche Versprechungen würden früher oder später nur Enttäuschungen produzieren.
Was wurde aus dem Kampf gegen das alte System?
Eine Strategie der radikalen Aufrichtigkeit setzte die Bereitschaft voraus, ein eigenes umfassendes Programm zum Kampf gegen das „alte System“ zu entwickeln. Nur so konnte man auch dem Dilemma zu entgehen, dem die Partei seit ihrem ersten Wahlsieg ständig ausgesetzt war. Der Dauerdruck der Troika erzeugte den Eindruck, dass sich die neue „ linke Regierung“ auch solche Reformen, die aus ihrer Sicht unerlässlich waren, von der Troika aus der Nase ziehen ließ. Mit der Folge, dass die „moralische“ Akzeptanz dieser Reformen bei der griechischen Bevölkerung untergraben wurde. Dennoch war die Hoffnung, dass der neue Regierungschef und seine engsten Mitarbeiter die absolute Priorität solcher Art Reformen erkannt haben, nicht unbegründet.
Tsipras selbst hatte vor seinem Wahlsieg ständig gegen die Korruption gewettert. In einer Rede vor dem griechischen Unternehmerverband sah er die Ursache für den „traurigen Zustand“ des griechischen Staates in „Erscheinungen wie Korruption, rechtsstaatliche Defizite, Schmuggelhandel und Erpressung“. Dabei sei „der dysfunktionale und verbürokratisierte“ griechische Staat kein Zufall: „Er ist politisch gewollt, weil er Seilschaften und krumme Geschäfte begünstigt.“(11)
Der griechische Staat ist kein Augiasstall
Die Herkules- Aufgabe, die sich Tsipras und die Syriza rhetorisch vorgenommen hatten, wurde von griechischen und ausländischen Komentatoren oft mit dem Säubern des Augiasstalls verglichen. Aber das Bild war schief und irreführend. Zum einen sind tief verwurzelte und lange eingespielte Usancen nicht mit einem einmaligen Wasserschwall auszumisten. Zum anderen ist der Staat – oder besser der öffentliche Sektor – in Griechenland kein Rinderstall, sondern vielmehr ein wahrhaft labyrinthische Gebilde, dessen oft verborgene Winkel und Ecken selbst der Athener Regierung nicht gegenwärtig sind. Man muss bei diesem Thema immer wieder daran erinnern, dass die Regierung Papandreou 2010 einen „Beamtenzensus“ organisieren musste, um der Troika die Frage nach der Zahl der öffentlichen Bediensteten beantworten zu können.
Dieser wildwüchsige und intransparente „öffentliche“ Sektor ist von Korruption und Vetternwirtschaft „vertikal und horizontal“ durchdrungen. So hat es die ehemalige Generalstaatsanwältin Xeni Dimitriou formuliert, die noch deutlicher wurde: Sie kenne im ganzen öffentlichen Dienst nicht einen Bereich, in dem ihre für Korruptionsfälle zuständigen Kolleginnen und Kollegen nicht schon tätig werden mussten. (EfSyn vom 27. April 2018).
Was Dimitriou konstatiert, entspricht auch den Alltagserfahrungen der Bevölkerung. In Umfragen werden seit Jahren Korruption und Inkompetenz als wichtigste Beschwerde gegen „den Staat“ artikuliert. Die Bekenntnisse der Syriza zur Priorität des Kampfes gegen Korruption und Nepotismus entsprachen also einem sehr realen Bedürfnis. Das Problem ist nur, dass dieses Versprechen – von wem auch immer – nicht von heute auf morgen umgesetzt werden kann. Also nicht mit einem Kraftakt à la Herkules, sondern nur mit zähen Anstrengungen, deren Erfolge erst nach Jahren (oder Jahrzehnten) sichtbar werden. Darauf hat gerade Finanzminister Tsakalotos, der die Korruption in Form verminderten Einnahmen unmittelbar zu spüren bekommt, mehrfach eindringlich hingewiesen.
Wie die Tsipras-Regierung Zeit verspielt hat
Verlorene Zeit ist verlorenes Geld. Daraus folgt: Gerade weil sich die Erfolge nicht sofort einstellen können, muss man die Dinge so schnell wie möglich anpacken. Ist das geschehen? Betrachten wir ein bezeichnendes Beispiel: Eine der wichtigsten Bedingungen für den Kampf gegen die Korruption ist eine bessere Ausstattung und Qualifizierung des juristischen Personals. In Griechenland hat das Justizministerium in Zusammenarbeit mit der Athener Universität und der Universität von Thrazien ein 8-monatiges Fortbildungsprogramm entwickelt, das 41 Staatsanwälten und Richtern über ihre juristische Fachausbildung mit den Feinheiten des Wirtschafts- und Finanzsystems vertraut machen soll.
Dieses Programm ist Anfang 2018 angelaufen, als die Tsipras-Regierung also bereits drei Jahre im Amt war. Solche Verzögerungen sind womöglich unvermeidlich, denn ein Hauptmerkmal des alten Systems ist ja gerade seine „Trägheit“, und die kann sich angesichts „drohender“ Reformen zu einer gewollten Blockade verhärten. Das gilt zum Beispiel für den erfolgreichen Widerstand der öffentlichen Bediensteten und ihrer Gewerkschaften gegen jede „Evaluierung“ ihrer Arbeitsplätze und Arbeitsleistungen. Eine solche Topografie des öffentlichen Sektors, die eine der ersten und wichtigsten Forderung der Troika war, hat bis heute nicht stattgefunden. Allerdings hätte sich wohl jede andere Regierung mit dieser Trägheit/Blockade herumschlagen müssen. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass die neue Regierung einen radikalen Neubeginn wenigstens auf der Ebene der persönlichen „Sauberkeit“ demonstriert und damit neue Maßstäbe für das öffentliche Leben gesetzt hätte.
Verlorene Unschuld
Selbst diesen minimalen Beitrag zur langfristigen Veränderung der politischen Kultur, hat die Syriza nicht überzeugend geleistet. Wie sie als Regierungspartei auch in dieser Hinsicht ihre Unschuld verlor, habe ich in meiner Analyse der Europawahlen (vom 30. Mai 2019) aufgezeigt. Einige geschätzte Leser hat diese Darstellung irritiert. Und ihr Einwand, dass die geschilderten Fälle weit hinter dem Sündenregister der alten Systemparteien zurückbleiben, ist völlig richtig. Allerdings habe ich zu zeigen versucht, dass genau dieser Vergleich das Problem der Syriza ausmacht: Eine linke Partei, die ständig ihre „ethische Überlegenheit“ herausstreicht, kann sich kaum zugutehalten, dass die anderen auch nicht besser sind.
Nach den Europa-Wahlen vom 26. Mai sind zwei weitere Skandal an die griechische Öffentlichkeit gekommen, an denen sich trefflich zeigen lässt, welche Parallelen, aber auch welche Unterschiede im Umgang mit Korruption und Privilegien zwischen den beiden politischen Lagern existieren.
Der erste Fall betrifft eine prominente Syriza-Kandidatin für die Parlamentswahlen. Tasia Christodoulopoulou fungierte in der letzten Vouli als Vizepräsidentin. Als Mitglied des Parlamentspräsidiums war sie am Beschluss neuer Regeln beteiligt, die prompt von ihrer Tochter ausgenutzt wurden. Es handelte sich um eine erst im Februar verabschiedete Rechtsverordnung über die Möglichkeiten dauerhafter „Versetzungen“. Demnach konnten öffentliche Bedienstete, die sich zeitweilig ins Parlament versetzen ließen, im Expressverfahren eine Dauerstelle ergattern. Mit dem privilegierten Wissen dieser Regelung konnte die Syriza-Abgeordnete ihre Tochter, die zuvor eine Stelle bei der griechischen Post hatte, den politischen Geleitschutz zu dem besser bezahlten Parlamentsposten organisieren.
Eine nette Stelle für die Tochter
Immerhin hat Mutter Christodoulopoulou, als der krasse Fall von Nepotismus Anfang Juni ans Licht kam, ihr ethisches Fehlverhalten sofort eingeräumt. Sie bedauerte, dass sie mit der Ausnutzung ihrer „Kenntnisse und Verbindungen“ zugunsten ihrer Tochter das Vertrauen ihrer Umgebung missbraucht habe. Deshalb werde sie nicht für das neue Parlament kandidieren.
Allerdings führte die Syriza-Abgeordnete zu ihrer Entschuldigung ein fatales Argument ins Feld: Ihre Tochter sei bei der Post beruflich unterfordert gewesen und sie als Mutter habe nur gewollt, dass ihr Kind nach vielen Berufsjahren die Chance erhält, ihre Fähigkeiten besser einzusetzen.
Das Argument muss für Zehntausende junge Griechinnen und Griechen, die keinen ihrer Qualifikation entsprechenden Job haben oder sogar ganz ohne Arbeit dastehen, ziemlich zynisch klingen. Damit verschärfte Christodoulopoulou noch das PR-Desaster, das für ihre Partei zum ungünstigsten Zeitpunkt kam. Besonders verbittert waren die linken Abgeordneten, denn die Abgeordnete Christodoulopoulou gehört zur innerparteilichen Linken (der „Gruppe 53+). Um den Schaden zu begrenzen, entschuldigte sich Tsipras persönlich, und zwar nicht nur bei den Syriza-Mitgliedern und den Syriza-Wählern, sondern auch beim griechischen Volk und erklärte: „Wenn wir den Eindruck vermitteln, dass wir Privilegien bewilligen und uns an solchen Geschäften beteiligen, bieten wir ein undurchsichtiges und düsteres Bild, und zwar für das gesamte politische System“. Deshalb habe er den Parlamentspräsidenten aufgefordert, die noch nicht rechtsgültigen 32 Versetzungen (von 64) zu annullieren.
Tsipras verwies aber auch darauf, dass die Regelung, die seine Genossin ausgenutzt hatte, von allen Parteien getragen wurde. Tatsächlich war die Rechtsverordnung von dem ND-Abgeordneten Tragakis ausgeheckt worden. Und auch Abgeordnete der anderen Parteien hatten noch auf die Schnelle ihre Verwandten in der Parlamentsbürokratie untergebracht.(12)
Die anderen sind auch nicht besser
Tsipras bemühte also wieder einmal das fatale Argument, dass die anderen auch nicht besser seien.(13) Es sei kein Wunder, kommentierte die linke Tageszeitung EfSyn vom 7. Juni, dass die „einfachen Bürger“ denken: Der Klientelstaat wächst und gedeiht – egal welche Partei an der Regierung ist. Deshalb klinge der Anspruch der Syriza auf „ethische Überlegenheit“ nur noch wie ein Witz: „Und natürlich kann die Antwort nicht immer nur sein: Was wollt ihr, sind die anderen etwa besser? Solche Rechtfertigungen haben die Leute satt.“ Dennoch hat wenige später die ND erneut unter Beweis gestellt, das sie tatsächlich nicht besser, sondern noch schlechter ist. Tonia Moropoulou war von der ND als Parlamentskandidatin aufgestellt worden, und zwar auf der Liste für Direktmandate, auf die alle Parteien prominente Persönlichkeiten (aus Sport und Kultur im weitesten Sinne) setzen. In diesem Fall eine bekannte Architektur-Professorin, die es zu nationaler Berühmtheit brachte, weil sie mit der Restauration der Grabeskirche von Jerusalem betraut war – einem der ehrwürdigsten Stätten der griechisch-othodoxen Christen.
Die Retterin der Grabeskirche von Jerusalem
Ein Exkurs zur Bedeutung der Grabeskirche: Für sehr fromme Orthodoxe ist der Besuch dieser Heiligen Stätte am Ostersamstag von ähnlicher Bedeutung wie der Mekka-Besuch (Hadsch) für traditionelle Muslime. Diese Pilger “erleben“ in der Grabeskirche einen unwiderleglichen „Beweis“ für die wahrhaftige Auferstehung des Gottessohnes: In der Grabkammer entzündet sich in den Händen des orthodoxen Patriarchen von Jerusalem eine geweihte Kerze wie von selbst. Da der Patriarch am Ort des Osterwunders unbeaufsichtigt ist, handelt es sich natürlich um einen klassischen Fall von „Priestertrug“, den anzuzweifeln für streng orthodoxe Geister eine Todsünde ist. In Griechenland hat der Priestertrug sogar die Qualität einer Staatsdoktrin erlangt: Das durch Jungfernzündung entstandene Licht wird jedes Jahr in der Osternacht mit einem Regierungsflugzeug nach Athen gebracht und dort auf dem Flughafen mit allen inclusive militärischen Ehren empfangen, die einem ausländischen Staatsoberhaupt zukommen.
Die “Retterin“ dieser überaus heiligen Stätte war als besondere Zierde der ND-Kandidatenliste gedacht, aber das ging schief. Die der Syriza nahestehende Wochenzeitung Documento enthüllte zwei Wochen vor den nationalen Wahlen, dass die Kandidatin sieben Jahre lang unrechtmäßig eine Rente bezogen hatte - und zwar eine ganz besondere Rente.
Der Fall soll hier auch deshalb genauer beschrieben werden, weil er ein Licht auf die Privilegien wirft, die sich der öffentliche Dienst in Griechenland zumindest bis zum Beginn der Staatsverschuldungskrise wie ein selbstverständliches Verdienst zugeschanzt hat.In diesem Fall geht das Privileg bis in die Tiefen des 19. Jahrhundert zurück. Unverheiratete Töchter von öffentlichen Bediensteten – inklusive des Militärs – hatten nach dem Tod ihres Vaters Anspruch auf dessen Pension. Das hatte eine innere Logik in einer Zeit und einer Gesellschaft, in der die „alte Jungfern“ im elterlichen Haushalt verblieben und kein selbständiges Einkommen hatten, da sie als Frauen keinen Beruf ausüben konnten.
Beamtenpension für unverheiratete Töchter
Dass sich diese Regelung bis zum Jahr 2010 halten konnte, ist eines von vielen Phänomenen, die in ihrer Summe den parasitären Charakter des griechischen Staatswesens ausmachten. In Fall der ererbten Pensionen führte sie dazu, dass rund 35 000 Frauen nur deshalb ledig blieben, weil sie nicht die Beamtentochterrente verlieren wollten. Bemerkenswert an der ganzen Geschichte ist, dass man das entsprechende Gesetz durchaus „modernisiert“ hat, indem auch geschiedene Frauen als „unverheiratet“ definiert und erneut anspruchsberechtigt wurden.
Das Gesetz ganz abzuschaffen, im Hinblick auf die unbeschränkte Erwerbstätigkeit von Frauen – wäre keiner Partei und keinem Parlamentsmitglied eingefallen, man wollte ja schließlich keine Wählerinnen verlieren. Für die Professorin Moropoulou machte die väterliche Dauermitgift quasi ein zweites Gehalt aus, das sie, weil ihr Vater bereits 1977 gestorben war, mehr als vierzig Jahre lang bezog. Allerdings war diese Einkommensquelle seit 2010 illegal. Denn unter dem Druck der Schuldenkrise und auf Anordnung der Troika wurde das anachronistische Privileg der unverheirateten Töchter zwar nicht abgeschafft, aber wenigstens modifiziert. Erstens wurden nach dem Prinzip der Gleichberechtigung die Söhne den Töchtern gleichgestellt und bekamen ebenfalls das Recht, die väterliche Rente zu beziehen (wenn auch nur bis zum Abschluss ihres Studiums). Zweitens wurde die ausgezahlte Summe nach Einkommen gestaffelt; wenn die Begünstigten über 1000 Euro verdienten, entfiel der Anspruch komplett.
Das hätte natürlich auch für Frau Professor Moropoulou gelten müssen. Aber das Geld kam weiter jeden Monat auf ihr Konto; sei es aus Versehen, sei es, weil die Mühlen der Rentenkassen-Bürokratie eben langsam mahlen. Jedenfalls bekam sie erst 2017 Bescheid, dass ihr die Rente ihres Vaters sieben Jahr zu Unrecht ausgezahlt worden war. Die Professorin behauptet, sie hätte erst dadurch mitbekommen, dass das Gesetz 2010 zu ihren Ungunsten geändert worden war.
Das ist sehr unwahrscheinlich, denn die Forderung der Troika war ein öffentliches Thema und es kam sogar zu Demonstrationen unverheirateter Beamtentöcher, die lautstark gegen den Entzug ihres lebenslangen Privilegs protestierten.(14) Das alles will die ND-Parlamentskandidatin nicht mitbekommen haben. Deshalb konnte sie – im Gegensatz zu der Syriza-Abgeordneten Christodoulopoulou – keinerlei Unrechtsbewußtsein entwickeln. In einem Interview mit Antenna TV erklärte sie, warum sie sich nichts vorzuwerfen habe: „Ich habe die Rente nicht genommen, sie ist einfach auf meinem Konto angekommen.“ Dennoch erklärte sie zwei Tage später den Verzicht auf ihre Kandidatur, weil sie vermeiden wolle, dass Mitsotakis durch die „Schlammschlacht“ die gegen sie geführt werde, zu Schaden komme.
Syriza und Nea Dimokratia – ein kleiner Skandalvergleich
Vergleicht man den Fall Moropoulou (ND) mit dem Fall Christodoulopoulou (Syriza), fallen drei Unterschiede ins Auge.
Erstens: Die Professorin Moropoulou zeigte keinerlei Unrechtsbewusstsein: weder über ihre rechtswidrige Aneignung öffentlicher Gelder noch generell über die langjährige Nutzung ihres Privilegs als Beamtentochter. Die Syriza-Abgeordnete hat ihr Fehlverhalten sofort zugegeben und sich dafür entschuldigt, wenn auch auf höchst unglückliche Weise.
Zweitens: Der Parteiführer Tsipras hat die Syriza-Abgeordnete nicht nur aufgefordert, ihre erneute Kandidatur fürs Parlament zurückzuziehen, er hat auch die nepotistische Vergabe weiterer Posten in der Parlamentsverwaltung unterbunden. Und er hat sich für den Skandal entschuldigt. Der Parteiführer Mitsotakis hat nichts dergleichen getan. Mit Sicherheit hat er Frau Moropoulos intern zum Rücktritt von ihrer Kandidatur gedrängt, aber er hat sich zu dem haarsträubenden Skandal nicht geäußert, um den Fall möglichst stillschweigend von der Wahlbühne zu bringen.
Drittens: Tsipras und die Syriza haben das ganze System der Postenvergabe in der Parlamentsverwaltung in Frage gestellt (allerdings erst, nachdem es auf peinliche Weise ans Licht gekommen war). Dagegen haben weder Mitsotakis noch ein anderer ND-Repräsentant die entscheidenden Aspekte des Falls Moropoulou benannt: das Beamtentocherprivileg als solches und die Tatsache, dass die Verwaltung der öffentlichen Pensionskasse sieben Jahre gebraucht hatte, um den Irrtum der unrechtmäßigen Überweisungen auf das Konto der Professorin zu entdecken.
Ob diese kleinen, aber feinen Unterschiede ein Hoffnungszeichen für die „Erneuerung“ der Syriza darstellen, möge die Zukunft zeigen.