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Zweite Wahl nach neuen Regeln

von Niels Kadritzke | 21. Juni 2023

Dieser Text ist nicht nur eine erweiterte und detailliertere Fassung der Analyse, die nach den ersten Wahlen vom 21. Mai in der Juni-Ausgabe von Le Monde diplomatique erschienen ist. Er gibt auch einen Ausblick auf die zweite Wahl am 25. Juni, mit der die konservative Nea Dimokratia (ND) von Kyriakos Mitsotakis ihren ersten Wahlsieg in eine klare parlamentarische Mehrheit ummünzen will. Am Ende dieses Textes gehe ich kurz auf das tragische Schiffsunglück ein, das sich zehn Tage vor der zweiten Wahl unweit der griechischen Südwestküste ereignet hat. Doch der Tod von mindestens 600 Menschen hat die ND nicht etwa zum Überdenken ihrer „harten aber gerechten“ Flüchtlingspolitik veranlasst. Stattdessen verspricht sie ihrer Wählerschaft die Fortsetzung ihrer „patriotischen“ Politik, deren oberstes Ziel nicht die Rettung, sondern die Abwehr von Flüchtenden ist.


Athener Wahllokal, 21. Mai 2023
© Petros Giannakouri/picture alliance/AP

In Griechenland tobt ein zweiter Wahlkampf. Die griechischen Bürgerinnen und Bürger haben der ND von Regierungschef Kyriakos Mitsotakis bei der Wahl vom 21. Mai zwar einen klaren Sieg, aber keine absolute Mehrheit in der Vouli, dem griechischen Parlament, beschert. Deshalb lässt Mitsotakis sein Volk am 25. Juni zu einem zweiten Anlauf antreten. Bis zu diesem Zeitpunkt amtiert eine geschäftsführende Regierung unter dem Vorsitz des Obersten Richters Ioannis Sarmas, die von Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou berufen wurde.

Für die griechischen Parteien bedeutet dies einen weiteren Wahlfeldzug innerhalb weniger Wochen. Doch das Ergebnis vom 21. Mai hat die parteipolitische Konstellation auf eine Weise verändert, dass man von zwei getrennten Feldzügen reden muss. Den einen führt die ND, die im zweiten Anlauf eine möglichst sichere absolute Parlamentsmehrheit erringen will, im Idealfall 180 der 300 Sitze, die gewisse Verfassungsänderungen ermöglichen würde. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die konservative Regierungspartei nicht nur im Reservoir der „politischen Mitte“, sondern auch im Tümpel rechtsextremer Kleinparteien fischen.

Der andere Wahlkampf spielt sich in der linken Hälfte des politischen Spektrums ab, wo die sozialistische Syriza und ihr Vorsitzender Alexis Tsipras ihre seit 2012 etablierte Hegemonie gegen die sozialdemokratische Pasok zu verteidigen hat. Da beide Parteien selbst als Tandem null Chancen auf einer Mehrheit haben, sind sie vornehmlich darauf aus, sich gegenseitig Stimmen abzujagen. Das spielt der Strategie von Mitsotakis in die Hände, der sich in fast überparteilicher Pose als Garant der politischen Stabilität darstellen kann. Und so kann man in den Wochen vor der zweiten Wahl in den TV-Magazinen fast täglich dieselbe Konstellation beobachten: Die Studiogäste, die für die Syriza und die Pasok sprechen, beschimpfen sich gegenseitig in gehobener Lautstärke, und zwar synchron, sodass ihre Argumente schon akustisch nicht zu verstehen sind, während der Vertreter der ND – in der Regel der Parteisprecher oder ein prominenter Minister – seine Kontrahenten von der Seite betrachtet und genüsslich schmunzelt.

Wie es zu dieser Konstellation kommen konnte, erschließt sich nur, wenn man das Wahlergebnis vom 21. Mai genauer ansieht.

Zweite Wahl – mit veränderten Spielregeln

Der Urnengang vom 21. Mai war im Grunde eine gigantische Meinungsumfrage, bei der alle griechischen Bürgerinnen und Bürger angesprochen waren, von denen knapp 61 Prozent ihre Meinung per Stimmzettel offenbarten. Als Wahlvorgang war diese Abstimmung nur ein Probelauf, denn allen Beteiligten war von vornherein klar, dass ein zweiter Urnengang folgen würde. Da die absolute Mehrheit der 300 Parlamentssitze für die ND unerreichbar war, braucht Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis für seine Wiederwahl eine weitere Abstimmung – und zwar mit veränderten Spielregeln.

Bei dieser zweiten Wahl gilt nicht mehr das reine Verhältniswahlrecht, das die Tsipras-Regierung 2016 durchgesetzt hatte. Die Mitsotakis-Regierung hat dieses „gerechteste“ aller Wahlverfahren bereits ein halbes Jahre nach ihrem Amtsantritt im Juli 2019 wieder abgeschafft. Deshalb wird am 25. Juni wieder nach einem „verstärkten Verhältniswahlrecht“ abgestimmt, das in Griechenland seit 2004 praktiziert wurde. Dieses Wahlrecht begünstigt die stärkste Partei, der – je nach ihrem Stimmenanteil – ein Bonus von 30 bis 50 Sitzen in der Vouli zugeteilt wird.(1)



Der Bonus für die stärkste Partei bedeutet, dass die ND am 25. Juni die absolute Mehrheit von 151 Parlamentsmandaten erreichen wird. Das ist zwar so gut wie, jedoch nicht hundert-prozentig sicher. Deshalb hat Mitsotakis bereits angekündigt, falls seine Partei auch nach der zweiten Wahl keine „starke Alleinregierung“ bilden könne, werde es „mit mathematischer Sicherheit“ zu einer dritten Wahl kommen. Und die würde im Ferienmonat August stattfinden. Im Grunde ruft Mitsotakis seinem Wählervolk zu: „Wenn ihr mich nicht wählt, mache ich euch eure Ferien kaputt.“(2)

Drohung mit einer dritten Wahl

Das Drohszenario ist verfassungsrechtlich zulässig, aber ein überaus zynisches Manöver. Würde Mitsotakis damit ernst machen, käme das für die Staatskasse ziemlich teuer. Darauf hat ausgerechnet sein eigener Wirtschaftsminister Adonis Giorgiades hingewiesen. Der stellvertretende ND-Vorsitzende, der sich zugleich als Marktschreier des rechtspopulistischen ND-Flügels betätigt, hat der Syriza vorgerechnet, sie habe durch die Einführung des Proportionalwahlrechts die Staatskasse mit 400 Millionen Euro belastet. Denn so viel müsse man nach der „unfruchtbaren“ Abstimmung vom 21. Mai für die Durchführung der zweiten Wahl ausgeben.(3) Die von Mitsotakis angedrohte dritte Wahl erwähnte Georgiades nicht.

Mit ihren 40,8 Prozent vom 21. Mai würde die ND am 25. Juni dank des Bonus-Wahlrechts auf 171 Sitze kommen. Georgiades nannte als Zielmarke sogar 180 Mandate, mit denen gewisse Verfassungsänderungen möglich wären. Aber er wurde von Mitsotakis zurückgepfiffen, der sich eher Sorgen macht, dass bei der zweiten Wahl ein Teil der ND-Wählerinnen und Wähler angesichts der klaren Führung zu Hause bleiben könnte. Der bleut seinem Anhang seit dem 21. Mai zweimal täglich ein: Am Morgen des 25. Juni sind die Wahlurnen leer – es liegt an euch, sie erneut mit den richtigen Stimmen zu füllen.

Eine geringere Wahlbeteiligung ist nicht die einzige Gefahr, die Mitsotakis im Auge haben muss. Am 21. Mai ist eine neue Partei namens Niki (Sieg) aus dem Stand auf 2,9 Prozent gekommen. Sollte diese ultrakonservative Partei eines Theologen, der die Nation im Geist des „orthodoxen Griechentums“ umerziehen will, die 3-Prozent-Hürde überwinden, würde sich die Schwelle für das Erreichen der absoluten Parlamentsmehrheit erhöhen. Um 180 Sitze zu erringen, müsste die ND bei einem Fünf-Parteien-Parlament 43,5 Prozent schaffen, bei einem Sechs-Parteien-Parlament wären 45,5 Prozent erforderlich, bei einem Sieben-Parteien-Parlament sogar 47 Prozent.

Nach den letzten Umfragen sieht es eine Woche vor den zweiten Wahlen so aus, als könnten tatsächlich sieben, wenn nicht sogar acht Parteien den Einzug in die neue Vouli schaffen. Die linksnationalistische Partei Plevsi tis Elevhterias (Kurs der Freiheit) hat sehr gute und die ultra-orhodoxe Niki ziemlich gute Chancen die 3-Prozent-Hürde zu überwinden. Und auch die linke MeRA25 (bei uns eher als die Varoufakis-Partei bekannt) näherte sich bei den letzten Umfragen wieder der 3-Prozent-Schwelle. Damit würde der Stimmenanteil der Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, auf unter 5 Prozent zurückgehen (bei den Wahlen vom 21. Mai lag dieser Anteil bei 12,5 Prozent). In dem Fall könnte Mitsotakis mit den 40,8 Prozent vom 21. Mai eine absolute Parlamentsmehrheit von rund 160 Sitzen erzielen, nicht aber die ersehnten 180 Sitze. Was das für die Wahlstrategie der ND bedeutet, werde ich weiter unten darstellen.

Warum schon wieder Mitsotakis?

Obwohl es für die absolute Mehrheit erwartungsgemäß nicht gereicht hat, waren die ersten Wahlen für Mitsotakis ein unerwarteter Erfolg. Mit 40,8 Prozent der Wählerstimmen hatten er und seine Partei nicht gerechnet.(4) In griechischen Medien war sogar von einem „Erdbeben“ die Rede, das von „seismischen Verschiebungen“ in der Parteienlandschaft künde. Das konservative Lager feierte die „triumphale Bestätigung“ der ND-Regierung, frohlockte aber noch mehr über die „vernichtende Niederlage“ der Linkspartei Syriza, die um mehr als 20 Prozentpunkte abgehängt wurde. Die 20,1 Prozent für Syriza und Oppositionsführer Alexis Tsipras bedeuten, dass sie gegenüber den letzten Wahlen im Juli 2019 ein Drittel ihres Wähleranhangs eingebüßt hat.(5)

Angesichts dessen verkündeten einige der ND zugeneigte Kommentatoren bereits den „Anfang vom Ende” der Syriza. Es wäre die Erfüllung eines Traums, den ein prominenter Vertreter des rechten Parteiflügels schon 2019 als Endziel der konservativen Strategie definiert hatte. Damals erklärte Makis Voridis, dem Mitsotakis das wichtige Innenministerium anvertraut hat, die ND-Regierung müsse dafür sorgen, dass die Linke in Griechenland nie wieder an die Macht kommt. Die vier Jahre Tsipras-Regierung sollten eine „Parenthese“ bleiben.

Blaue Landkarte mit roten Fleck

Danach sieht es tatsächlich aus, wenn man die politische Landkarte nach dem 21. Mai betrachtet. Die griechische Wahllandschaft ist monochrom blau, bis auf einen roten Flecken im äußerten Nordosten. Die Präfektur Rhodopen ist die einzige von 59, in dem die Syriza stärkste Partei geblieben ist, was sie einem Kandidaten verdankt, der die lokale muslimische Minderheit repräsentiert (dazu unten mehr).

Der Verlust der übrigen 7 Wahlbezirke, in der sich die Linkspartei beim Wahlsieg der ND von 2019 noch behaupten konnte (darunter alle vier Wahlkreise in Kreta), war ebenso bitter wie der Verlust von landesweit fast 600.000 Stimmen. Das Wegbrechen eines vollen Drittels ihres Wähleranhangs – bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung – hat die Partei in eine Schockstarre versetzt. Auf dieses Desaster war niemand vorbereitet.

Allerdings hatte die Syriza-Führung auch nicht angenommen, dass man am 21. Mai die ND überholen könne. Man rechnete mit einem Rückstand von drei bis fünf Prozentpunkten, bei einem Stimmenanteil von deutlich mehr als 30 Prozent. Damit wollte man eine Anti-Mitsotakis-Dynamik entfachen, die der Linkspartei in den darauffolgenden Wahlen die Bonussitze der stärksten Partei verschaffen würde. Auf dieser Basis hoffte man eine „progressive Koalition“ zu bilden, mit der sozialdemokratischen Pasok als Juniorpartner.

Dieses Wunschszenario entfaltete offenbar eine autosuggestive Wirkung. Sie verführte Tsipras dazu, noch in der Vorwahlwoche landauf und landab zu verkünden, Mitsotakis sei in heller Panik und ahne bereits, dass seine Tage in der Villa Maximos (dem Amtssitz des Regierungschefs) gezählt seien. Und das, obwohl die letzten Umfragen vor den Wahlen der Syriza einen Rückstand von sieben bis acht Prozentpunkte hinter der ND prognostizierten. Doch von solchen Warnzeichen ließ sich Tsipras nicht beirren. Die entscheidende Umfrage findet in den Wahlkabinen statt, erklärte er immer wieder.

Dieser Ausspruch wirkt im Rückblick besonders grotesk, weil das Wahlergebnis die demoskopischen Umfragen tatsächlich dementierte – allerdings ganz anders, als Tsipras sich und dem Wahlvolk einreden wollte. Die Fehlprognosen der Meinungsforscher über die Wahlen vom 21. Mai waren so eklatant, dass ich sie an dieser Stelle ausführlicher darstellen will, zumal der Fall über Griechenland hinaus interessant ist.

Das Desaster der Demoskopen

Alle griechischen Meinungsforschungsinstitute, die regelmäßig Umfragen für die Medien, aber auch diskrete Stimmungsbilder für die Parteien produzieren, sahen ihre Befunde durch das Wahlergebnis widerlegt. Besonders blamabel war eine in der Wahlforschung fast einmalige Fehldiagnose bei den exit polls, die sechs Institute gemeinsam verantworten.

Zunächst die demoskopischen Daten. Seit Beginn der Amtszeit der ersten Mitsotakis-Regierung hatten die Meinungsforscher der ND durchgehend einen klaren zweistelligen Vorsprung vor der Syriza bescheinigt. Am weitesten hatte sich die Schere zwischen der Regierungspartei und der größten Oppositionspartei im Sommer 2020 geöffnet, als die ND (nach der success story einer relativ umsichtigen Corona-Strategie) mit 45 Prozent Zustimmung um fast 20 Prozentpunkte vor der Syriza lag. Ende 2021 begann dieser Vorsprung allmählich zu schmelzen. Eine Reihe von Skandalen bescherte der ND demoskopische Einbußen, die im Fall des Abhörskandals von 2022 noch begrenzt waren, aber nach dem Zugunglück vom 28. Februar 2023 deutlich zu Tage traten. Mitte März lag die ND in mehreren Umfragen nur noch um drei bis fünf Prozentpunkte vor der Syriza.

Doch in den zwei Monaten bis zum Wahltermin am 21. Mai nahm der Vorsprung der Regierungspartei wieder zu. Bei den letzten elf Umfragen lag die ND im Durchschnitt um 6,2 Prozentpunkte vor der Syriza. Und die vier Umfragen der Vorwahlwoche zeigten einen Vorsprung zwischen 6,7 und 7,3 Prozentpunkten (für die ND 36 bis 38 Prozent, für Syriza 28,5 bis 30,5 Prozent der Wählerstimmen).

Diese demoskopischen Befunde, die von der politischen Klasse und von der breiteren Öffentlichkeit als „Wahlprognosen” verstanden wurden, unterschätzten das tatsächliche Ergebnis für die ND um durchschnittliche 4 Prozent, während sie das für die Syriza um durchschnittlich 9 Prozent überschätzten. Für die drittstärkste Partei, die Pasok, ermittelten die Umfragen eine um 2 bis 3 Prozent zu niedrige Stimmenzahl.

Noch schockierender – und für die Demoskopen blamabler – war die Fehlermarge bei den Exit polls, die am 21. Mai um 19 Uhr bei Schließung der Wahllokale verkündet wurden. Das von sechs Instituten durch Befragung nach der Stimmabgabe vorausgesagte Wahlergebnis lautete: Zwischen 36 und 40 Prozent für die ND; zwischen 25 und 29 Prozent für die Syriza; der Abstand betrug also elf Prozentpunkte.(6) Zwei Stunden später zeigte die erste Hochrechnung, dass die Regierungspartei über 41 Prozent und die Syriza unter 21 Prozent liegen würde. Der Rückstand der Opposition betrug also mehr als 20 Prozentpunkte, fiel also noch um neun Prozentpunkte höher aus, als die Exit polls ermittelt hatten.

Wie aufrichtig waren die Antworten?

Der Ökonomie-Dozent Sotiris Georganas (City University of London) hat in der Kathimerini vom 3. Juni 2023 dargelegt, welche Probleme bei demoskopischen Umfragen zu lösen sind. Die Institute müssen zunächst ein hinreichend repräsentatives Sample von Befragten festlegen. Sodann müssen sie realistisch ermitteln, wer überhaupt wählen geht, und vor allem beurteilen, ob die Antworten der Befragten als hinreichend aufrichtig gelten können. Die ermittelten „nackten Daten“ sind also nur das Rohmaterial für die Einschätzung des „Wählerwillens“. Auf dieser Basis nehmen die Demoskopen eine zusätzliche „Gewichtung“ vor, die sich auf Datenaggregate von früheren Umfragen und auf weitere vermutete Einflussfaktoren stützt.

Laut Georganas war bei den Wahlen vom 21. Mai bereits die Erhebung realistischer Daten durch mehrere Faktoren erschwert:
- Viele der Angesprochenen verweigerten die Mitwirkung an den Umfragen aus Frust oder aufgrund eines generellen Misstrauens (einige Interviewer berichteten, dass bei ihren Telefonkontakten jede dritte angesprochene Person sofort wieder aufgelegt hat).
- Die „Aufrichtigkeit“ mancher Antworten war zweifelhaft, insbesondere bei Anhängern „stigmatisierter“ Parteien, die sich auch bei anonymisierten Umfragen nicht zu ihrer Präferenz bekennen wollen.
- Eine realistische Einschätzung der Wahlbeteiligung wurde dadurch erschwert, dass ein extrem hoher Anteil der Befragten (19 Prozent) bis kurz vor dem Wahltermin noch nicht wusste, ob und wen sie wählen würden.

Dass viele Befragte eine Aussage verweigerten, führten die Institute unter anderem darauf zurück, dass im Wahlkampf vor allem die Linksparteien von „gekauften Umfragen“ (zugunsten der Regierung) gesprochen hatten. Alexis Tsipras selbst hatte vor den Wahlen geäußert, eine Mehrzahl der Syriza-Wähler verweigere bei Umfragen die Mitarbeit. Damit wollte er die schlechten Prognosen für seine Partei „weg erklären“ und neue Siegeszuversicht zu verbreiten.

Institute in Erklärungsnot

Aber die Meinungsforschungsinstitute zogen daraus ihre eigenen Schlüsse. Angesichts der unterstellten Verweigerungshaltung vieler Syriza-Anhänger haben sie deren Anteil im Nachhinein „nach oben angepasst“. Das behaupteten sie jedenfalls in einer gemeinsamen Stellungnahme, mit der sie ihre Fehlprognosen nachträglich zu erklären versuchten.(7) Zu dieser „Umgewichtung“ der Syriza-Zahlen trug auch eine Lehre aus der Vergangenheit bei, die sich allerdings als falsch erwies. Vor den letzten Wahlen vom Juli 2019 hatten fast alle Institute den Stimmenanteil der Linkspartei deutlich unterschätzt: Sie hatten ihr weniger als 30 Prozent prognostiziert, während sie tatsächlich auf 31,5 Prozent kam.

Die Demoskopen verwiesen noch auf einen weiteren Faktor, der zur Überschätzung der Syriza-Stimmen beigetragen habe: auf den ungewöhnlich hohen Anteil von Spätentscheidern. Wie sich bei den Exit polls herausstellte, haben sich 19 Prozent aller Wählerinnen und Wähler tatsächlich erst am Wahltag – oder sogar erst hinter dem Vorhang – für eine Partei entschieden (bei früheren Wahlen waren es allenfalls 10 Prozent).

Wie die einzelnen Institute diese „stummen Stimmen“ interpretiert haben, weiß man nicht. Aber offenbar gingen alle mehr oder weniger von einer „Normalverteilung“ dieser Stimmen aus, oder unterstellten sogar eine Tendenz zur Syriza. Das erwies sich als gravierende Fehlerquelle, denn von diesen Spätentscheidern stimmten 51 Prozent für die ND und nur 13 Prozent für Syriza.(8)

Der dritte Faktor, der zu der Fehlprognose beitrug, waren Entwicklungen in den letzten Tagen vor den Wahlen. Die Institute verwiesen insbesondere auf eine Äußerung des Syriza-Vertreters Giorgos Katroungalos, die als Hinweis auf Syriza-Pläne für höhere Steuern und Abgaben der Freiberufler verstanden wurde (dazu weiter unten mehr). Ein Experte von Metron Analysis berichtete, sein Institut habe zwei Tage vor den Wahlen einen Absturz der Syriza um 4 Prozent gemessen. Das Meinungsforschungsinstitut Pulse hatte kurz vor den Wahlen bei der Gruppe der Freiberufler einen Vorsprung der ND vor der Syriza zwischen fünf und zehn Prozentpunkten ermittelt; am Wahltag waren es über 40 Prozentpunkte.(9)

Wenn die selbstkritischen Erläuterungen der demoskopischen Institute auch nur im Ansatz zutreffen, hat die Linkspartei ihre eigenen Vorwahl-Illusionen zum großen Teil selbst produziert. Das Misstrauen gegenüber den Umfrage-Instituten, das fest in der DNA der griechischen Linken verankert ist, war schon immer übertrieben. Dass die Meinungsforscher ihren Auftraggebern – ob TV-Sender oder Printmedien – nach dem Munde reden, wie die ständige Rede von „gekauften Umfragen“ unterstellt, ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil die Institute kommerzielle Unternehmen sind, die den Großteil ihrer Einnahmen nicht mit Wählerumfragen, sondern mit anderen demoskopischen Aufträgen gerieren. Deshalb sind fehlerhafte Wahlprognosen für sie geschäftsschädigend. Das gilt erst recht für einen fürchterlichen Betriebsunfall wie die falschen Zahlen der Exit polls vom 21. Mai.

Von Wolke Sieben auf den Boden der Tatsachen

Da diese falschen Zahlen unter anderem auf das „linke Misstrauen“ gegenüber den demoskopischen Instituten zurückgingen, wurden nicht nur die Meinungsforscher von der Syriza getäuscht, sondern auch die Syriza selbst von ihren „linken Vorurteilen“. Auch deshalb waren die Exit polls, die um 19 Uhr über die TV-Sender verkündet wurden, für die Linkspartei so schockierend. Aber erst die Hochrechnung zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale offenbarte das volle Ausmaß des Syriza-Desasters. Tsipras stürzte von Wolke sieben in die brutale Realität ab.


Syriza-Anhänger verfolgen die Übertragung der Exit polls am Klafthmonos-Platz in Athen
© Michael Varaklas/picture alliance/AP

Das selbst erzeugte Trugbild soll Tsipras – nach Berichten aus der Parteizentrale – seinen Genossinen und Genossen an der Basis angelastet haben. Die hätten ihn über die Stimmung im Lande nicht realistisch informiert, klagte der Parteivorsitzende. Doch für die Pflege von Illusionen ist vor allem der Empfänger realitätsferner Botschaften verantwortlich. Das musste Tsipras schließlich selbst eingestehen, als er vier Tage nach den Wahlen vor dem Zentralausschuss der Partei die persönliche Verantwortung für die Niederlage übernahm.

Von einem Rücktritt war nicht die Rede, obwohl der Vorsitzende kurz vor den Wahlen erklärt hatte, bei mehr als sechs Prozentpunkten Rückstand gegenüber der ND werde es „Sanktionen“ geben. Auf der Parteikonferenz konnte dieses Thema nicht zur Sprache kommen, weil die Parteiführung beschlossen hatte, nach der kritischen Bestandsaufnahme des Vorsitzenden keine weiteren Redebeiträge zuzulassen. Aber es hätte ohnehin niemand den Rücktritt von Tsipras gefordert, weil alle wissen: Ohne ihren charismatischen Anführer würde die Partei noch mehr Stimmen verlieren.

Genau das macht das Dilemma der Syriza nach dem 25. Mai aus. Ein Kolumnist der linken Zeitung Efimerida ton Syntakton formulierte es so: Für die Partei ist Tsispras „sowohl ein As als auch eine verbrannte Karte“. Und ein publizistischer Intimfeind der Linkspartei frohlockte: „Syriza kann es mit Tsipras nicht schaffen, aber ohne Tsipras auch nicht.“(10)

Der spezielle Wahlkampf zwischen Syriza und Pasok

Was die Linkspartei am 25. Juni schaffen will, ist nicht nur eine Reduzierung des Rückstandes gegenüber der ND. Ihre noch wichtigere Aufgabe besteht darin, die drittstärkste Partei auf Distanz zu halten: die sozialdemokratische Pasok. Die einst von Andreas Papandreou gegründete Partei hatte das Land seit dem Ende der Militärdiktatur (1974) insgesamt 18 Jahre lang regiert. Die Pasok hatte noch 2009, unmittelbar vor der Krise, 44 Prozent der Wählerstimmen gewonnen und die Regierung von Giorgos Papandreou gestellt. Der Absturz Griechenlands in die Finanzkrise ließ auch die Pasok in die Bedeutungslosigkeit abstürzen. Doch mit ihrem im Dezember 2020 neu gewählten Vorsitzenden Nikos Androulakis ist der Partei ein beachtliches Comeback gelungen. Gegenüber den Wahlen von 2019 konnte sie ihren Stimmenanteil um gut 40 Prozent steigern: von 8,1 auf 11,5 Prozent.

Damit hat für die Syriza bereits das Duell mit der Pasok um die Hegemonie in der griechischen Linken begonnen. Sollte sie weiter an Boden verlieren und die Pasok erneut zulegen, könnte das eine Wählerdynamik in Gang setzen, die auf mittlere Sicht die Pasok erneut zur stärksten Kraft im linken Spektrum machen würde. Die Syriza hatte die Pasok bei den Wahlen vom Mai 2012 erstmals überholt (17 gegenüber 13 Prozent) und bei den Neuwahlen drei Monate später bereits abgehängt (27 gegenüber 12 Prozent). Bei der Wahl vom Januar 2015, aus der die erste Tsipras-Regierung – als Koalition der Linkspartei mit der rechtspopulistischen Anel – hervorging, war die Pasok auf ihren Tiefpunkt abgesunken. Mit ihrem Wähleranteil von 4,8 Prozent lag sie um mehr als 31 Prozentpunkte hinter der Syriza (36,1 Prozent). Bei den nächsten beiden Wahlen vom September 2015 und vom Juli 2019 blieb sie unterhalb der 10-Prozent-Grenze, die sie erst jetzt wieder durchbrechen konnte.

Damit sieht die Pasok-Führung am entfernen Horizont eine Parteienlandschaft aufscheinen, in der sich – wie bis zum Beginn der Grexit-Krise – die traditionelle Rechtspartei ND und die Pasok als Partei der linken Mitte an der Macht abwechseln. So weit ist es noch lange nicht. Aber vor dem Hintergrund dieser „alten Zeiten“ verliert das Wahlergebnis vom 21. Mai erheblich an Dramatik. Was der Syriza eine schwarze Wahlnacht bescherte, ist bei Tageslicht betrachtet keineswegs ein „tektonisches“ Ereignis, wie es die Rede vom politischen Erdbeben suggeriert. Tatsächlich lag der Wählerzuspruch für die ND im Bereich des Erwartbaren und war schockierend nur für realitätsblinde Linke, die Mitsotakis auf der Verliererstraße sahen. Aber auch der Zuwachs für die Pasok war keine Überraschung.

Die Linke und der Krisenzyklus

Beide Entwicklungen bestätigen auf den ersten Blick die Theorie, dass der Aufstieg der Linkspartei nur ein Produkt der Krise ist, dass also ihre Tage mit dem Ende der Krise gezählt seien. Und das ist nicht nur das Wunschbild konservativer Beobachter. Auch ein Sozialdemokrat wie Petros Evthymiou, vor 20 Jahren Bildungsminister in der Pasok-Regierung Simitis, interpretiert die Niederlage der Syriza als „Schlusskapitel“ der politischen Ära nach der Junta (1974), „die mit diesen Wahlen ihren Zyklus vollendet hat“.

In dieser Sichtweise steckt ein Stück unbequemer Wahrheit, die Tsipras und die Syriza lange Zeit verdrängt haben. Der Aufstieg der Syriza im Zuge der Krise basierte auf einem Sockel von Pasok-Wählerinnen und Wählern, die gut zwei Drittel ihrer Gefolgschaft ausmachten. Einen Teil dieses Wählerreservoirs hat sich die heutige Pasok am 21. Mai zurückgeholt. Und auf mittlere Sicht will sie natürlich auch den Rest, um damit die Syriza wieder zu der 5-Prozent-Partei zu machen, die sie vor Beginn der Krise war.

Die zyklische Theorie über „Aufstieg und Fall der Linkspartei“ ist jedoch viel zu einfach. Und aus linker Perspektive ist sie vor allem viel zu bequem. Wer den Verschleiß der Syriza als „unvermeidliche“ Entwicklung sieht, drückt sich um die Frage, welchen Anteil die Partei und ihre Führung an dem Desaster vom 21. Mai haben. Eine Antwort auf diese Frage setzt eine nüchterne Bestandsaufnahme ihrer Wählerverluste voraus.

Verluste in alle Himmelsrichtungen

Die Linkspartei hat Stimmen nicht nur verloren, sondern großzügig in alle Himmelsrichtungen verstreut – auf der parteipolitischen wie auf der sozialen Ebene. Von den 1,78 Millionen Stimmen, die sie 2019 verbuchen konnte, verlor sie 10,5 Prozent an die ND, 17,7 Prozent an die Pasok, knapp 4 Prozent an die KKE und knapp 5 Prozent an kleinere linke Parteien. Der größere Teil wanderte also nach rechts: zur ND und zur sozialdemokratischen Pasok; der kleinere Teil nach links, zu der orthodox-leninistischen KKE, die mit einem Stimmenanteil von 7,2 Prozent ihre Parlamentsfraktion verstärken konnte; wie auch zur MeRA25 von Ex-Finanzminister Varoufakis und zu der linksnationalistischen Partei „Kurs der Freiheit“, die beide knapp an der 3-Prozent-Hürde scheiterten.(11)

Entscheidend war allerdings der „Verlust der Mitte“. Auch in Griechenland entscheidet dieses umworbene Wählerspektrum über Sieg und Niederlage. Die Wählerinnen und Wähler, die sich selbst der politischen Mitte zurechnen, machen ein gutes Fünftel aller Wahlberechtigten aus. Von deren Stimmen gingen 40,6 Prozent an die ND und 25,1 Prozent an die Pasok. Für die Syriza, deren strategisches Wahlziel die Eroberung der „linken Mitte“ war, stimmten gerade mal 12,4 Prozent.

Das Scheitern dieser Strategie zeigt sich auch auf der sozialen Ebene. Hier erlitt die Partei ihre größten Verluste bei den Klassen und Berufsgruppen, die Tsipras und seine Partei am intensivsten umworben hatten: zum einen die „Armen und Unterprivilegierten“, zum anderen die wichtige Kohorte der Mittelklasse.

Die größten Stimmverluste gegenüber den Wahlen von 2019 erlitt die Syriza in den proletarisch-kleinbürgerlichen Vierteln von Athen, Piräus und Thessaloniki. Aber selbst bei den wählenden Arbeitslosen fiel sie von 42 auf 26 Prozent zurück. Einzig bei den abhängig Beschäftigten im Privatsektor lag die Linkspartei noch knapp vor der ND. Bei den öffentlichen Bediensteten dagegen, bei denen sie 2019 noch in Führung gelegen hatte, blieb sie um 5,2 Prozentpunkte hinter der ND zurück (29,9 gegenüber 35,1 Prozent). Die Regierungspartei bekam auch bei den Hausfrauen (44,3 Prozent) und Rentnern (46,4 Prozent) fast doppelt so viel Stimmen wie die Syriza; bei der bäuerlichen Bevölkerung waren es sogar drei Mal so viel.

Den katastrophalsten Einbruch erlebte die Partei bei der Gruppe, die den Kern der griechischen Mittelschichten ausmacht: bei den Freiberuflern. Von denen stimmten 55 Prozent für die ND und nur 13 Prozent für die Syriza. Der Vorsprung von 43 Prozentpunkten bei dieser sozialen Wählerkohorte wurde von der ND nur noch in der Alterskohorte der über 65-Jährigen übertroffen. Aber auch in allen übrigen Altersgruppen hatte die Mitsotakis-Partei einen deutlichen Vorsprung – sogar bei der jüngsten (17-29 Jahre), bei der die Syriza in allen Vorwahl-Umfragen noch vorn gelegen hatte.

Dramatischer Einbruch in traditionell roten Hochburgen

Besonders schockierend war für die Syriza der dramatische Einbruch in den traditionellen Hochburgen der Linken, in denen sie sich selbst bei ihrer Niederlage im Juli 2019 noch gut behauptet hatte. Der Schock war auch deshalb so groß, weil die Partei sich diesen sozialen Gruppen – von der Arbeiterklasse bis zu den vom sozialen Abstieg bedrohten Kleinbürgerschichten – zu sicher gewesen war. Aber genau in diesen urbanen Zonen des „Prekariats“ verzeichnete die Linkspartei die größten Verluste: 18 Prozentpunkte im Wahlbezirk West-Attika; 17,5 Prozent im verarmten Westen von Piräus, 15,9 Prozent in den westlichen Stadtteilen von Athen. Was bedeutete, dass sie in diesen Wahlbezirken um 17 bis 27 Prozentpunkte hinter die ND zurückfiel, die ihr Ergebnis von 2019 um sieben bis acht Prozentpunkte verbessern konnte.

Auf das Ergebnis in diesen „Problemzonen“ war Mitsotakis besonders stolz, wie er in seinem ersten Zeitungsinterview nach der Wahl betonte: „Für mich war besonders eindrucksvoll, was im Athener Westen geschehen ist. Dort haben wir die soziale Seite unserer Partei unter Beweis gestellt. Wenn man uns in Perama [einem von der Werftindustrie geprägten Stadtteil, NK] 37 Prozent der Stimmen gibt, heißt das, dass Menschen, die sehr große Probleme haben, sich um ihre Zukunft, ihre Arbeitsplätze und ihre Umwelt Gedanken machen.“ Dass diese Leute also das Gefühl haben, die ND werde ihre Lebensumstände verbessern: „Genau darum ging es letzten Endes bei dieser Wahl: Wer packt die tatsächlichen Probleme an.“(12)

Wie wirksam diese Botschaft war, zeigen mehrere Nachwahl-Reportagen auf, die ein Stimmungsbild aus diesen Vierteln vermitteln. Zum Beispiel aus Nikaia, einem Stadtteil von Piräus, der in den 1920er Jahren als Siedlung von Kleinasienflüchtlingen gegründet wurde und bis 1940 den programmatischen Namen Kokkinia (das „rote Viertel“) trug.(13) Elvira Krithari gibt in ihrem Bericht in der Kathimerini vom 3. Juni 2023 den Eindruck wieder, dass man hier Mitsotakis auf keinen Fall gewählt hat, „weil man ihn mag oder an ihn glaubt.“ Das rote Viertel wurde vielmehr blau, weil die Leute das kleinere Übel gewählt haben. Und zwar aus Angst, wie eine Wählerin der Reporterin erzählte: „Ich glaube, die Leute haben vor allem Angst vor dem Unbekannten. Sie sagen dir, das Unbekannte haben sie einmal ausprobiert, und das habe ihnen nichts gebracht.“

Das ist eine Anspielung auf die Regierungszeit der Tsipras-Regierung, die keines ihrer Wahlversprechen von 2015 einzulösen vermochte, weil sie die Auflagen der „Troika“ exekutieren musste, deren soziale Folgen sie nicht einmal „gerecht“ verteilen konnte. In diesen Vierteln zieht die „Erzählung“ der Syriza nicht, wonach sie das Land 2019 am Ende ihrer vierjährigen Amtszeit von der strengen Aufsicht der Sparkommissare „befreien“ konnte. Vor allem aber hat sich die Linkspartei weder in Nikaia noch in anderen Vierteln der sozialen Peripherie von Athen und Piräus ernsthaft bemüht, eine kommunale Basis aufzubauen, um die Alltagsnöte und -ängste der Bevölkerung zumindest kennenzulernen.(14) Und so traten die Wahlkreis-Kandidaten der Syriza wie Abgesandte der Parteizentrale auf, die im Vertrauen auf den Mythos des „roten Viertels“ die ihnen zustehenden Stimmen eintreiben wollten, ohne sich um die konkreten Probleme zu kümmern.

Eine Rezeptur der Selbstzerstörung

All die Stimmenverluste der Linkspartei gehen sowohl auf eine illusionäre Strategie als auch auf taktische Fehler zurück, die sich zu einer Rezeptur der Selbstzerstörung summierten. Tsipras selbst hat einen Teil der linken Stammwähler verprellt, als er in einem Interview äußerte, die Syriza wolle auch die Stimmen „irregeleiteter“ Ex-Wähler der verbotenen neonazistischen Partei Chrysi Avgi gewinnen. Der Schuss ging nach hinten los, denn er vertrieb tausende engagierter Antifaschistinnen und Antifaschisten in Richtung der KKE und kleiner Linksparteien, die es nicht ins Parlament schafften.

Dass die Syriza keine Hemmungen hatte, in rechten Gewässern zu fischen, bewies sie auch mit ihrer Positionierung in einer absurden, chauvinistisch aufgeheizten Debatte über das Label „TurkAegean“, das die Türkei für ihre Tourismus-Werbung nutzt. Die Regierung habe gegen diesen „Missbrauch“ nichts unternommen, behauptete Ex-Außenminister Giorgos Katroungalos vier Wochen vor den Wahlen und geißelte die „mangelnde Entschlossenheit, unsere nationalen Interessen zu verteidigen.“

Derselbe Katroungalos schaffte es, drei Tage vor den Wahlen die Kohorte der Freiberufler zu verschrecken – die wichtigste Zielgruppe im „Kampf um die Mitte“. Er ließ sich in einer TV-Debatte von einem ND-Kontrahenten zu der Feststellung verleiten, dass diese große Berufsgruppe zu wenig Beiträge in die Rentenversicherung abführt. Das ist völlig korrekt, denn ein Großteil der Privatärzte, Rechtsanwältinnen und Handwerker meldet viel zu niedrige Einkommen, womit sie auch ihre Einkommenssteuer minimieren. Aber natürlich war die Aussage eine Steilvorlage für die ND, die behaupten konnte, die „heimliche Agenda“ der Syriza sehe Beitrags- und Steuererhöhungen für die Freiberufler vor. Das wurde von Tsipras zwar umgehend dementiert, der den Übeltäter auch von der Liste der Parlamentskandidaten strich. Aber der Schaden war nicht mehr zu reparieren. Demoskopen schätzten den Stimmenverlust, den Katroungalos verursacht hat, auf 3 bis 5 Prozent.

Ein Programm ohne Resultante

Hier zeigt sich das grundsätzliche Dilemma einer Linkspartei, die ohne politischen Raumgewinn in der Mitte keine Chance auf eine Regierungsmehrheit hat. Natürlich muss sie die Mittelklasse umwerben, die viele ihrer früheren Privilegien in dem Krisenjahrzehnt verloren hat. Aber sie muss sich vor allem um den Teil der Gesellschaft kümmern, der von Armut oder sozialer Exklusion bedroht ist. Das sind in Griechenland – auch nach dem Ende der akuten Krise – noch fast 30 Prozent der Bevölkerung, von denen allerdings viele seit langem nicht mehr wählen gehen.

Ein Wahlprogramm, das alle wichtigen Gruppen gewinnen will, muss dennoch eine „Resultante“ haben, argumentiert Tassos Pappas in der linken Zeitung EfSyn. Eine solche Generallinie habe die Syriza nicht erkennen lassen. Vielmehr habe sie allen Zielgruppen das erzählt, was die hören wollten.(15) Damit schuf sich die Oppositionspartei ein weiteres Problem, das ihr die ND ständig vorhalten konnte. Sie musste die Frage beantworten, wer die Zeche bezahlen soll. Die Syriza versprach, die extremen sozialen Ungleichheiten zu mildern, die sich in den Krisenjahren und unter der Mitsotakis-Regierung nachweislich verstärkt haben. Aber ihre klassisch „sozialdemokratische“ Agenda – höhere Mindestlöhne, höhere Renten, Schutz des Wohneigentums, Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen, insbesondere des Gesundheitssystems – muss gegenfinanziert werden, ohne umworbene Wählergruppen abzuschrecken, wie es Katroungalos getan hat.

Auch deshalb brachte die Oppositionspartei ihr „positives“ Programm im Wahlkampf kaum zur Sprache. Stattdessen setzte sie auf „negative“ Themen und betete die Liste der Skandale herunter, die sich Mitsotakis und die ND in vier Jahren geleistet haben: die unverhüllte Subventionierung der regierungsfreundlichen Medien, die Lauschangriffe des von Mitsotakis kontrollierten Geheimdienstes(16); die notorische Vetternwirtschaft; die skandalöse Unterfinanzierung der öffentlichen Krankenhäuser, die sich auch in den hohen Zahlen von Corona-Toten gezeigt hat; das Versagen der staatlichen Kontrolle und Vorsorge, das für die Waldbrände verantwortlich ist(17), und vor allem für die 57 Toten des Zugunglücks vom 28. Februar.(18)

Fast alle Punkte auf dieser Negativliste sind echte Skandale. Aber von denen wollte das Wählervolk nichts hören. Man hatte sie zur Kenntnis genommen, aber auch abgehakt. Die Skandal-Bilanz hatte auch deshalb nur begrenzte Wirkung, weil die Syriza – als Regierungspartei der Jahre 2015 bis 2019 – von vielen als Teil des „Systems“ wahrgenommen wird, das immer neue Katastrophen hervorbringt. Zu denen gehörte auch die Waldbrandkatastrophe vom Juli 2018 an der Ostküste Attikas, bei der mehr als 100 Menschen zu Tode kamen. Auf das „Höllenfeuer von Mati“, das im öffentlichen Bewusstsein als Versagen der Tsipras-Regierung abgespeichert ist(19), konnte die ND-Propaganda immer wieder verweisen, um ihre Verantwortung für die Katastrophen in ihrer eigenen Regierungszeit zu relativieren.

Stabilität oder Chaos

Dass die „negative“ Syriza-Propaganda jenseits der Stammwählerschaft nicht ankam, erklärt noch nicht, warum Mitsotakis mit der zentralen ND-Parole „Stabilität oder Chaos“ so durchschlagenden Erfolg hatte. Dieser Erfolg lässt sich zu einem erheblichen Teil auf den strategischen Kardinalfehler der Syriza zurückzuführen.

Tsipras proklamierte als Wahlziel – da eine absolute Syriza-Mehrheit unerreichbar war – eine Koalition der „progressiven“ Kräfte. Für griechische Verhältnisse ist eine Koalition ohnehin nur eine Art Notregierung, also Symptom einer schweren Krise. Eine „freiwillige“ Koalition von Parteien, die sich die „Beute der Macht“ teilen, ist im politischen System nicht vorgesehen. Dass die Syriza so etwas vorschlug, wurde als Zeichen der Verzweiflung wahrgenommen. Zudem kamen als Koalitionspartner nur zwei Parteien in Frage: die Pasok und die MeRA25. Die Pasok verweigerte sich schon deshalb, weil die neue Parteiführung unter Nikos Androulakis nicht als „Juniorpartner“ der Syriza antreten wollte. Vielmehr strebt sie selbst die Dominanz innerhalb der griechischen Linken an, die die alte Pasok in den Krisenjahren verloren hatte.

Der zweite theoretische Partner war die MeRA25 von Jannis Varoufakis. Doch zu einer Koalition mit Varoufakis konnte sich die Syriza nicht klar bekennen, weil sie sonst Wähler und Wählerinnen der linken Mitte verloren hätte. Die identifizieren den Finanzminister der ersten Tsipras-Regierung noch immer mit dem Grexit-Szenario, das dem Land im Sommer 2015 drohte.

Für die ND waren die Rechenübungen über eine mögliche „progressive Koalition“ jedenfalls ein generöses Wahlgeschenk. Sie konnte „das Volk“ nicht nur vor die Alternative Mitsotakis oder Tsipras stellen, sondern auch noch mit der Warnung „Mitsotakis oder Varoufakis“ abschrecken (so ein Kommentator in Ta Nea vom 22. Mai 2023).

Das Luftschloss einer linken Koalition

Aber Varoufakis war auch für die Pasok ein rotes Tuch. Schon das machte ein Bündnis dieser drei Parteien undenkbar. Auch rein numerisch war für eine linke parlamentarische Mehrheit noch eine weitere Linkspartei vonnöten. Allerdings zeigte die KKE der „Koaliton des Fortschritts“ die kalte Schulter. Für ihren Generalsekretär Dimitris Kotutsambas ist Alexis Tsipras nur eine „kapitalistische Marionette“ und die Syriza-Regierung (2015-2019) die „schlechteste“, die das Land seit dem Ende der Junta erlebt hat.

Die Absage der KKE an jede Art von „linker“ Koalition war keine Überraschung. Die Kommunistische Partei Griechenlands ist ein Solitär in der europäischen Parteienlandschaft. Für den Rechtsphilosophen Kostas Douzinas, Direktor des Nikos Poulantzas-Instituts (Thinktank der Syriza), ist die KKE „die orthodoxeste kommunistische Partei der Welt“, die den „realen Sozialismus“ der Vergangenheit verklärt und jedes Bündnis mit einer Linken ablehnt, „die ihre Gewissheiten und ihre Nostalgie nicht teilt“ (EfSyn vom 12. Juni 2023). Für diese KKE sind Parteien wie Syriza und Pasok ohnehin Verräter an der Arbeiterklasse, die das Spiel der Monopole mitmachen.

Das Projekt einer linken Koalition hatte also nicht nur keine ausreichende Basis, es war von vornherein in die Luft gebaut. Und so wählten viele Wähler der linken Mitte statt eines Luftschlosses lieber ein bereits stehendes und offenbar solides Gebäude. Denn statt eines realistischen Gegenentwurfs sahen sie etwas, was Tassos Pappas mit dem griechisch-osmanischen Wort achtarmas beschreibt: Ein einziges Kuddelmuddel, das noch verwirrender wurde, als Tsipras – statt der verweigerten Koalition – ein weiteres „Denkmodell“ ins Spiel brachte. Er schlug eine von Pasok, KKE und MeRA25 tolerierte Minderheitenregierung vor, die von den angesprochenen Parteien nur mit Hohn und Spott bedacht wurde. Ex-Außenministerin Dora Bakoyanni, die ältere Schwester von Mitsotakis, bedankte sich bei Tsipras für dieses „Geschenk“ an die ND.

In der Efsyn hat Tassos Pappas sehr anschaulich beschrieben, wie dieses achtarmas der Linken auf unentschiedene Wählerinnen und Wähler wirkte. Er berichtet von dem Anruf eines seiner Leser, der ihm erklärte: „Die haben ständig nur gestritten, wer linker ist, wer seriöser ist, wer die besseren Lösungen hat, dem Volk besser dient. Aber auf die zentrale Frage: Wer wird regieren – da kam immer nur blablabla. In Wirklichkeit wollten sie keine Zusammenarbeit, stellten Bedingungen, die nicht erfüllbar waren.“ Der letzte Satz bezieht sich auf die Pasok, deren Vorsitzender Androulakis die Absage an eine linke Koalition in die ultimative Forderung kleidete, auf keinen Fall dürfe Tsipras Regierungschef werden.(20)

Das Wahlvolk beschwört die Normalität

„Die Bürger wollen eine starke Regierung mit einem Horizont von vier Jahren", erklärte der Regierungschef am Tag danach seinen unerwartet hohen Wahlsieg, zu dem die Opposition maßgeblich beigetragen hatte. Stabilität oder Chaos, lautete die Zauberformel des Kyriakos Mitsotakis. Aber erst Tsipras’ unrealistische Vorschläge verliehen diesem Slogan seine fast ultimative Überzeugungskraft.

Noch entscheidender war jedoch ein psychologischer, also irrationaler Faktor: das Bedürfnis eines Großteils der griechischen Gesellschaft, zu einer Art Normalität zurückzukehren, nachdem der „Zyklus des Staatsbankrotts” abgeschlossen ist. Die Normalität mag eine andere sein als vor der großen Krise, und in mancher Hinsicht nur ein Schein. Aber viele Leute sind bereit, der Erzählung zu glauben, dass es wieder aufwärts geht, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt – auch wenn viele der neuen Stellen nur schlecht bezahlte Saisonjobs in der Tourismusbranche sind –, wenn der Mindestlohn steigt – auch wenn die Kaufkraft zu den niedrigsten der Eurozone gehört –, wenn ärmere Familien mit Einkaufscoupons beglückt werden – auch wenn ihr Warenkorb damit immer noch teurer ist als vor einem Jahr. Und das alles garniert mit der neoliberalen Trickle-down-Erzählung, dass irgendwann alles besser wird, weil die Regierung mit ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik ausländische Investionen anzieht.

Die von einer hochprofessionellen PR-Maschine verbreitete Botschaft wurde von vielen schon deshalb geglaubt, weil sie die schlechten Nachrichten satt haben. Ein kluger Kommentator formulierte es so: Wir leben in einer Gesellschaft, die von der Intensivstation kommt. Da hören die Leute lieber die „Bestätigung ihrer Hoffnungen“ als die düstere Syriza-Warnung, „dass das Land schon wieder am Rand des Abgrunds stehe“.(21)

Die harten Wahlkriterien

Und was ist mit den Skandalen, die das Land in den letzten Wochen und Monaten bewegt haben? Die sind zwar nicht vergessen, werden aber von nüchternen Erwägungen überlagert. Eine Umfrage unter den Wählerinnen und Wählern vom 21. Mai, welche Kriterien für ihre Stimmabgabe die wichtigsten waren (wobei die Befragten drei Kriterien nennen konnten), ergab folgende Rangfolge: An der Spitze lag das Kriterium „ein gut funktionierender Staat“ mit 32 Prozent; knapp dahinter die Themen Wirtschaft und nationale Fragen, also Außenpolitik; an vierter Stelle folgte das Kriterium „besseres Führungspersonal“.


Kyriakos Mitsotakis schwört seine Anhänger auf die neue Wahl am 25. Juni ein.
© Nicolas Koutsokostas/picture alliance/NurPhoto

Das heißt: Die vier wichtigsten Wahlkriterien betreffen Bereiche, in denen die ND und Regierungschef Mitsotakis laut Umfragen regelmäßig besser bewertet werden als die Syriza und Tsipras. Die Kriterien, die für die Oppositionspartei sprechen, folgen erst auf Platz 5 und 6: der Kampf gegen die Armut und gegen Korruption. Auf den letzten beiden (von 14) Plätzen finden sich die Themen, mit denen die Linkspartei gegen die Regierung punkten wollte: das Eisenbahnunglück und der Abhörskandal (mit 6 und 5 Prozent).

Das bedarf keines Kommentars, aber einer kleinen Anmerkung: ND-Verkehrsminister Karamanlis, der nach dem Tempi-Unglück zurückgetreten war, durfte sich gleichwohl am 21. Mai um das Direktmandat seines nordgriechischen Wahlkreises Serres bewerben. Er erzielte für die ND das landesweit sechstbeste Ergebnis.

Ein abschließender Hinweis, der nicht die nächste Regierungsperiode, sondern die nahe Zukunft betrifft: Griechenland wird dieses Jahr einen touristischen Rekordboom erleben, für den bereits Reinigungs- und Küchenpersonal aus Pakistan und Bangladesch angeheuert wird. Aber die Klimaforscher sagen auch neue Hitzerekorde voraus, die das Thema hochkochen werden, das in diesem Wahlkampf alle Parteien gemieden haben. Weder ND, noch Syriza, noch Pasok, noch KKE wollten die Bürgerinnen und Bürger mit der Klimakrise konfrontieren, die ihr Land in eine subtropische Zone verwandeln wird. Die wichtigste Zukunftsfrage wurde nur von zwei grünen Kleinsparteien thematisiert. Sie erhielten zusammen nicht einmal ein Prozent der Wählerstimmen.

Nachtrag

In die „patriotische“ Agenda, mit denen Mitsotakis und die ND den Kleinparteien zu ihrer Rechten noch mehr Stimmen abjagen will, versuchen sie im zweiten Wahlkampf auch die Flüchtlingstragödie vom 14. Juni einzubauen. Dass die griechische Küstenwache mittlerweile in den Verdacht unterlassener Hilfeleistung geraten ist, braucht den kommenden Wahlsieger in keiner Weise zu stören. Mitsotakis fühlt sich in seiner harten Linie bestätigt, mit der er schon bei der ersten Wahl vom 21. Mai erfolgreich geworben hat.

Die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer, bei der in der Nacht zum 15. Juni mindestens 600 Menschen – Kinder, Frauen und Männer – mit ihrem seeuntüchtigen Boot in die Tiefe gerissen wurden, ist in ihrem genauen Ablauf noch nicht aufgeklärt. Das gilt auch für die Rolle der griechischen Küstenwache (HCG wie Hellenic Coast Guard), die nach internationalem Recht für die Rettung der Schiffbrüchigen zuständig war, weil sich der 30 Meter lange, mit etwa 750 Menschen überlastete Fischereitrawler mehr als 24 Stunden lang innerhalb der griechischen „Save and Rescue“-Zone befand. Die SAR-Zone gehört nicht zur Hoheitszone, aber der jeweilige Küstenstaat ist in diesem Seegebiet für die Seenotrettung zuständig.

Als ein Frontex-Überwachungsflugzeug das von Libyen kommende Flüchtlingsschiff südwestlich der Peloponnes-Küste entdeckte, alarmierte Frontex die HCG, die eines ihrer hochmodernen Patrouillenboote aus Kreta entsandte. Was dieses PPLS 920 bis zum Kentern des Flüchtlingsboots unternommen oder unterlassen hat, wird von der Staatsanwaltschaft in Kalamata (dem nächsen HCG-Standort) untersucht. Ein Ergebnis kann vor den Wahlen am nächsten Sonntag natürlich nicht vorliegen. Dennoch ist die Tragödie auf eine Weise zum Wahlkampfthema geworden, die für die Streitkultur der griechischen Gesellschaft bezeichnend ist.

Schon jetzt ist absehbar, dass die Regierung das Unglück trotz der ungeklärten Fragen über die Rolle der HCG erfolgreich in ihrem Sinne instrumentalisieren kann. Sie schiebt die ausschließliche Verantwortung auf die ägyptische Gang, die mit dem Trawler die Flüchtlingsroute Libyen-Italien bedient und von ihren „Passagieren“ für die Fahrt in den Tod pro Person zwischen 3000 und 6000 Dollar kassiert haben soll. Die griechischen Behörden haben unter den 104 geretteten Flüchtlingen (durchweg Männer) neun Ägypter verhaftet, die jetzt in Kalamata unter Anklage stehen.

Die nationale Pflicht zur Trauer wurde mit dem Ausrufen einer dreitägigen Staatstrauer abgeleistet. Aber das bleibt eine zynische Geste, wenn zugleich jede Stimme, die Fragen nach der „griechische Verantwortung“ stellt, als unpatriotisch oder gar als „nationaler Verrat“ denunziert wird. Und wenn Regierungschef Mitsotakis bei seinen letzten Wahlkampfauftritten unbeirrt verkündet, Griechenland werde an seiner „harten aber gerechten“ Flüchtlingspolitik festhalten. Was bedeutet: Die „Bewehrung der nationalen Grenzen“ hat Vorrang vor dem Recht der Geflüchteten auf einen Asylantrag. Deshalb hat die ND in ihrem Wahlkampf den drei Meter hohen Sperrzaun an der Evros-Grenze in Thrazien als nationale Errungenschaft gepriesen und versprochen, dieses Bollwerk entlang der gesamten griechisch-türkischen Grenze hochzuziehen. Dabei brüstet sich Mitsotakis immer wieder mit der Bilanz, dass seine Regierung die „Flut“ aus dem Osten erfolgreich eingedämmt hat, während die Tsipras-Regierung (2015-2019) mit ihrer laxen Politik für überfüllte Flüchtlingslager auf den ostägäischen Inseln gesorgt habe.

Wie berechtigt die Frage nach dem griechischen Anteil an der Verantwortung für den Tod von mindestens 600 Menschen ist, wird von Tag zu Tag deutlicher. Zum Stand vom 20. Juni 2023 sind insbesondere folgende Aspekte der Tragödie ungeklärt, die das Verhalten der HCG betreffen:

1. Obwohl das Flüchtlingschiff etwa 11 Stunden lang nicht manövrierfähig war und die Fahrt Richtung Italien nicht fortsetzen konnte, verzeichnet das HCG-Protokoll für diesen Zeitraum eine „stetige Fahrt in Richtung Italien.“
2. Der Öltanker Faithful Warrior, der das Boot mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgte, wurde von der HCG aufgefordert, weiterzufahren; der Kapitän wurde ausdrücklich von seiner völkerrechtlichen Verpflichtung entbunden, sich für eine mögliche Rettung der Flüchtlinge bereit zu halten.
3. Es gibt inzwischen mehrere Aussagen von Überlebenden, wonach das PPLS 920 in der Nacht zwei Mal versucht habe, das havarierte Flüchtlingsschiff abzuschleppen; beim zweiten Manöver habe es so heftig gezogen, dass das Boot ins Schwanken geriet und kenterte. Die Aussagen unterscheiden sich nur in der Einschätzung, ob die HCG die Flüchtlinge in Richtung Griechenland oder in Richtung Italien schleppen wollte, um das Problem in die italienische SAR-Zone zu verschieben.(22)
4. Die griechische Küstenwache hatte den Abschleppversuch drei Tage lang verschwiegen. Neuerdings gibt sie ihn zu, behauptet aber, das Manöver habe zwei Stunden vor dem Sinken stattgefunden.
5. Der Pressesprecher der HCG hat versichert, zur Operation ihres Bootes gebe es keine Kameraaufzeichnungen, obwohl PPLS 920 über Nachtsichtkameras und eine Nachtsichtvideo-Ausrüstung verfügt. Zeugen wollen gesehen haben, dass der Kapitän des Bootes dem Kommandeur der Küstenwache eine Diskette mit optisch-akkustischem Material und eine Kopie des Logbuches ausgehändigt hat. Ob dieses Material bei der Staatsanwaltschaft von Kalamata gelandet ist, ist unbekannt.

Das Misstrauen gegenüber den offiziellen Auskünften der griechischen Küstenwache, das sich auch in den internationalen Medien spiegelt, ist nur zu verständlich. In der Vergangenheit haben sowohl die HCG als auch die griechische Regierung wider besseres Wissen beharrlich geleugnet, dass in der Ägäis an den Grenzen der griechischen Hoheitsgewässer zur Türkei jemals Pushback-Aktionen stattgefunden haben. Diese völkerrechtswidrige Methode, Bootsflüchtlinge aus den eigenen Hoheitsgewässern zu vertreiben, wurde aber seit Jahren von humanitären NGOs und internationalen Medien vielfach dokumentiert. Gerade in Sachen Pushbacks hat Regierungschef Mitsotakis wiederholt öffentlich gelogen (wie in mehreren Texten auf diesem Blog dargelegt). Erst vor einem Monat hat die New York Times über einen mit Video-Dokumenten belegten Pushback-Fall vor der ostägäischen Insel Lesbos berichtet. Darauf angesprochen, hat Mitsotakis in einem CNN-Interview vom 23. Mai erstmals nicht ausgeschlossen, dass es solche „absolut unakzeptablen“ Praktiken gegeben haben könnte. Aber auch in diesem Fall sagte er die Unwahrheit, als er behauptete: Der Vorfall „wird von meiner Regierung bereits untersucht“.

Im Fall der Bootskatastrophe vom 14. Juni ist eine gerichtliche Untersuchung unvermeidlich. Auf das Wahlergebnis vom kommenden Sonntag wird dies keinen Einfluss haben. Mitsotakis und die ND haben die „Flüchtlingsfrage“ erfolgreich zu einer Frage der „nationalen Souveränität“ gemacht. Und die ist für die griechischen Wählerinnen und Wähler so heilig, dass keine Partei es wagen kann, die berechtigten Zweifel konsequent zu thematisieren.

Anmerkungen

1) Der Bonus fällt auch dann an die stärkste Partei, wenn diese nur einen winzigen Vorsprung vor der zweiten Partei hat. In früheren Fassungen waren das automatisch 50 Sitze; nach der neuen Fassung hängt deren Zahl vom Stimmenanteil der stärksten Partei ab. Bei 25 Prozent stehen ihr nur 20 Sitze zu; aber diese Zahl erhöht sich mit jedem halben Prozent um einen weiteren Sitz. Mit 30 Prozent erhält die begünstigte Partei also 30, mit 35 Prozent 40, und ab 40 Prozent 50 Bonussitze. Das alte neue Bonus-Wahlsystem kam am 21. Mai noch nicht zur Anwendung, weil die Änderung vom Januar 2020 erst für die übernächsten Wahlen in Kraft trat. Für die nächsten Wahlen hätte es nur gegolten, wenn das Parlament die Wahlrechtsänderung mit einer Zweidrittelmehrheit verabschiedet hätte, was nicht der Fall war.

2) So die Übersetzung der Mitsotakis-Botschaft in einem Kommentar der EfSyn vom 10. Juni 2023, der durchaus nicht satirisch überzogen ist.

3) So im samstäglichen Morgenmagazin des TV-Senders Skai vom 10. Juni 2023.

4) Das berichten fast alle griechischen Medien, siehe etwa: Ta Nea vom 22. Mai 2023: „Der politische Big Bang hat auch die ND-Zentrale überrascht“.

5) Die Zahl der Syriza-Stimmen ging von 1,78 auf 1,18 Millionen zurück; die Wahlbeteiligung stieg um drei Prozentpunkte auf 60,94 Prozent.

6) Diese Exit polls wurden gemeinsam erarbeitet und verantwortet von den Instituten Pulse, Alco, GPO, Marc, Metron Analysis und MRB. Die Exit polls von Kapa Research prognostizierten für die ND ein halbes Prozent mehr, für Syriza ein halbes Prozent weniger; hier war der Abstand also 12 Prozent.

7) Siehe EfSyn vom 25. Mai und Kathimerini vom 28. Mai 2023.

8) So Vertreter der Institute Rass und Pulse; zitiert in Ta Nea vom 24. Mai und Efsyn vom 25. Mai 2023.

9) So Giorgos Arapoglou in der Efsyn vom 25. Mai 2023.

10) Giorgos Yiannoulopoulos in EfSyn vom 27. Mai und Yiannis Petrenteris in Ta Nea vom 25. Mai 2023.

11) Die hier aufgeführten Zahlen über die Wählerbewegungen weichen von denen in meinem LMd-Text genannten ab; sie beruhen auf einer genaueren Auswertung der Resultate der Exit polls durch das Institut Public Issue (nach dem sogenannten Quadratic Programming Model). Siehe die ausführliche Analyse von Yiannis Mavris vom 6. Juni 2023.

12) Interview mit dem Chefredakteur von Kathimerini vom 28. Mai 2023.

13) Der Mythos des Stadtteils geht auf den militanten Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg zurück, als Einheiten der ELAs im März 1944 die Wehrmacht im „Kampf von Kokkinia“ aus dem Viertel vertrieben. Die Rache der Nazi-Truppen und ihrer griechischen Kollaborateure folgte im August 1944: Nach einer Razzia wurden 78 griechische Kämpfer sofort exekutiert und an die 3000 Menschen als Geiseln festgenommen, von denen viele zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurden.

14) So auch die Kritik von Kostas Pieridis in der EfSyn vom 28. Mai 2023: Die Syriza habe sich als „Regierung im Wartestand“ deklariert, nicht aber als Partei, die jenseits des Parlaments in der Gesellschaft verankert ist.

15) EfSyn vom 25. Mai 2023; ganz ähnlich argumentierte die Sozialwissenschaftlerin Danai Koltsida: „Die Syriza versuchte alle möglichen gesellschaftlichen und politisch-ideologischen Zielgruppen zu bedienen, was dazu führte, dass die Botschaft letztlich unklar und widersprüchlich ausfiel“ (EfSyn vom 28. Mai). Zu dieser Einsicht bekannte sich auch Tsipras selbst im Kathimerini-Interview vom 11. Juni, in dem er einräumte, die Syriza habe kein „kohärentes Bild“ geboten.

16) Siehe meinen Blog-Text vom 23. November 2022.

17) Siehe meinen Blog-Text vom 7. Oktober 2021.

18) Siehe meinen Blog-Text vom 16. Mai 2023.

19) Siehe meinen Blog-Text vom 13. August 2018.

20) Diese Position vertrat er auch gegenüber der ND: keine Regierungsbeteiligung mit einem Ministerpräsidenten Mitsotakis. Für eine Zehn-Prozent-Partei war das eine kühne Aussage.

21) So Tassos Giorgiannoulopoulos EfSyn vom 10. Juni 2023.

22) Die Aussage eines geretteten Palästinensers lautete (nach Kathimerini vom 20. Juni 2023): „Das griechische Schiff [der Küstenwache, NK] befestigte ein Tau am vorderen Teil unseres Schiffes und begann langsam zu ziehen, aber das Tau ist gerissen. Danach probierten sie es mit einem Tau, das sie zwei Mal festmachten … Beim zweiten Mal hatten wir zunächst das Gefühl, dass sie uns ziehen, aber dann geriet unser Schiff in Schieflage. Das griechische Schiff legte an Tempo zu, und wir riefen auf Englisch „STOP“. Wir schrien alle, aber die haben uns nicht verstanden. Als sie uns am Anfang das Tau zuwarfen, waren wir noch ganz ruhig, weil wir dachten, dass sie uns nach Italien schleppen. Beim zweiten Mal neigte sich das Schiff zuerst nach links, dann nach rechts und danach kippte es einfach um [und versank, NK]."


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