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„Ruf mich an, falls du ankommst“

 

von Niels Kadritzke | 16. Mai 2023

Bei dem Zugunglück vom 28. Februar 2023 in der Nähe von Larissa kamen 57 Menschen ums Leben. Die größte Katastrophe in der Geschichte des griechischen Eisenbahnwesens hat das Land erschüttert und über Wochen auch die politischen Auseinandersetzungen dominiert. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde die Wut der Bevölkerung über ein System, das die Sicherheit des Zugverkehrs auf kriminelle Weise vernachlässigt, die Aussichten der ND-Regierung auf einen erneuten Sieg bei den anstehenden Parlamentswahlen beeinträchtigen. Auch deshalb hat Regierungschef Mitsotakis die Wahlen auf den 21. Mai verschoben. Doch inzwischen hat die ND die Stimmenverluste von rund 3 Prozent, die ihr in den ersten Umfragen nach dem Unglück bescheinigt wurden, längst wieder ausgeglichen. Die oppositionelle Syriza wiederum konnte keine Stimmen dazu gewinnen und hat keine Chancen, am 21. Mai zur stärksten Partei zu werden. Das liegt auch daran, dass ihr Versuch gescheitert ist, die Regierung Mitsotakis allein für die Tempi-Katastrophe verantwortlich zu machen. Damit hat sie das Gespür für die Stimmung in der Gesellschaft verloren, die das Versagen „des Systems“ der gesamten politischen Klasse anrechnet. Vor allem die junge Generation lässt sich längst nicht mehr mit dem Hinweis auf „menschliches Versagen“ abspeisen.



Die Unfallstelle am Tag danach, 1. März 2023
© Vaggelis Kousioras/picture alliance/AP

Das Unglück von Tempi ist für mich nichts anderes als der Beleg für die kranken Seiten und die Unfähigkeit des griechischen Gemeimwesens in den letzten 23 Jahren. Für dieses Unglück gibt es eine kollektive Verantwortung, und zwar nicht nur der politischen Klasse … Junge Menschen mussten die Pathologien des Staates – und von uns allen – mit ihrem Leben bezahlen. Deshalb ist jetzt für alle der Moment gekommen, uns selbstkritisch zu befragen.“ Sotiris Tsafoulias, Theater- und Filmemacher

Ein unvergessliches Erlebnis

Der Werbespruch auf der englischsprachigen Website von Hellenic Train soll vornehmlich ausländische Reisende ansprechen: “Zugfahren in Griechenland ist ein unvergessliches Erlebnis und eine der besten Möglichkeiten, im ganzen Land herumzukommen.”(1) Das Gefühl, mit dem griechische Fahrgäste das “unvergessliche Erlebnis” beschreiben, ist seit dem 28. Februar 2023 ein anderes. Es wird von den Jugendlichen artikuliert, die nach dem Eisenbahnunglück vom Tempi-Tal auf die Straße gingen, indem sie einen vertrauten Satz abwandelten. “Ruf mich an, wenn du ankommst”, hören sie von ihren Eltern, wenn sie in den Zug steigen. Auf ihren Plakaten haben sie ein einziges Wort verändert: “Ruf mich an, falls du ankommst.” („pare me, an ftaseis“, statt: … otan ftaseis).

Diese bittere Pointe, von jungen Leuten für junge Leute erfunden, hat einen Hintergrund, der noch bitterer ist. Die Mehrzahl der 57 Todesopfer vom 28. Februar waren unter 30 Jahre alt.(2) Der Intercity Express 62 von Athen über Larissa nach Thessaloniki wird vor allem von Studierenden und Wehrpflichtigen benutzt, denn die späte Verbindung bietet die billigsten Tarife.

Am Abend des letzten Karnevalstags saßen noch mehr junge Leute als sonst im Intercity 62 nach Thessaloniki. Ihre Fahrt endete um 23 Uhr 21, knapp 25 Kilometer hinter Larissa. Und für fast alle, die in den ersten beiden Wagen saßen, mit einem entsetzlichen Tod.(3) Sie wurden zerschmettert und verbrannten. Von den meisten blieben nur verkohlte Leichenteile übrig, die man nur per DNA-Abgleich einer Person zuordnen konnte.

12 Minuten auf dem falschen Gleis

Die Nachricht von dem Unglück in der letzten Stunde des Karnevalstags weckte die Nation am Morgen des 1. März. Obwohl die Zahl der Todesopfer noch nicht feststand, waren die Menschen wie gelähmt vor Entsetzen. Und fassungslos, als sie die Umstände des Unglücks erfuhren. Der IC 62 war auf der zweigleisig ausgebauten Bahnmagistrale des Landes frontal mit einem Güterzug zusammengestoßen. Die Wucht der Kollision kann man an folgenden Daten ermessen: Der IC 62 mit etwa 350 Personen(4) fuhr mit einer Geschwindigkeit von 150 wenn nicht 160 km/h, der entgegenkommende Güterzug mit 115 km/h. Da dieser mit Stahlplatten und Schiffs-Containern beladene Zug eine Masse von 1300 Tonnen hatte, raste der Intercity wie gegen eine Wand. Die Aufprallenergie wurde von der Lokomotive und den ersten beiden Waggons absorbiert, die sich in eine glühende Metallmasse verwandelten. Fast alle der 57 Toten befanden sich in diesen beiden Wagen. Von den Passagieren im hinteren Teil des Zugs wurden 80 verletzt, 25 von ihnen schwer.

Die Kollision ereignete sich auf dem Gleis, auf dem die Züge von Thessaloniki in Richtung Larissa-Athen fahren. Der Güterzug fuhr auf der richtigen Spur; der IC 62 dagegen auf dem falschen Gleis. Beide Züge rasten 12 Minuten aufeinander zu, ohne gestoppt oder gewarnt zu werden.
 

Der Frontalzusammenstoß war die größte Katastrophe der griechischen Eisenbahngeschichte, aber er hätte noch tödlicher enden können. Wären die Züge nur eine halbe Minute später kollidiert, hätte es weit mehr Opfer gegeben. Dann wäre der Aufprall innerhalb eines Tunnels erfolgt. Das hätte kaum ein Passagier überlebt, denn auch die griechischen Eisenbahntunnel weisen haarsträubende Sicherheitsdefizite auf, die nach dem Unglück vom 28. Februar ans Licht kamen (dazu unten mehr).

Der menschliche Faktor und das System

Für eine Aufklärung der Unfallursachen – und damit der Schuldfrage – sind zwei Fragen entscheidend:
- Wie konnte der IC 62 in Larissa auf das falsche Gleis geraten?
- Warum konnte der frontale Zusammenstoß in den darauffolgenden 12 Minuten nicht verhindert werden?
Die erste Frage zielt auf die Rolle des „menschlichen Faktors", die zweite auf den „systemischen Faktor": die technischen Installationen, die dazu da sind, „menschliches Versagen“ zu korrigieren.
Die Antwort auf die erste Frage lässt sich genau lokalisieren. Es war eine falsch gestellte Weiche, die den IC 62 kurz nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof auf das falsche linke Gleis schickte. Verantwortlich für diesen fatalen Fehler war der diensthabende Fahrdienstleiter Vassilis S. Er hatte eine Stunde zuvor einen Regionalzug aus Thessaloniki kurz vor Einfahrt in den Bahnhof von Larissa vom rechten auf das linke Gleis umgeleitet. Das geschah über die Weiche Nr. 118. Die hätte der Fahrdienstleiter wieder von „diagonal“ auf „geradeaus“ stellen müssen, was er versäumt oder schlicht vergessen hat.

Damit scheint die Schuldfrage geklärt: Ohne das „menschliche Versagen“ des Vassilis S. hätte es keine Kollision gegeben. Muss man also den Tod von 57 Menschen „leider hauptsächlich einem tragischen menschlichen Fehler zuschreiben“, wie es Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis am Tag nach dem Unfall getan hat?

Mit seiner eilfertigen Schuldzuweisung wollte Mitsotakis die Frage nach dem „Systemversagen“ abblocken, also die Diskussion darüber, wer das System der Schienenverkehrssicherheit in den letzten Jahren kontrolliert und „gemanagt“ hat. Der Regierungschef, der sich seit seinem Amtsantritt im Juli 2019 als „Generalmanager“ eines straff durchorganisierten Staates anpreist, wollte nicht selbst in den Fokus der Ursachenforschung rücken.

Diese Position war angesichts des Volkszorns nicht zu halten. Am Sonntag nach dem Unglück schob Mitsotakis über die sozialen Medien eine reumütige Erklärung nach: „Wir können, wir wollen und wir dürfen uns nicht hinter einer Serie menschlicher Fehler verstecken.“ Deshalb habe er die Pflicht, „sich neben die Familien der Opfer zu stellen und den Mut zu haben, die Fehler des Staates anzuerkennen“. (Kathimerini vom 5. März 2023)

Ein Fahrdienstleiter, den es gar nicht geben dürfte

Wem die „Fehler des Staates“ zuzurechnen sind, wird im zweiten Teil dieses Textes erörtert, der die systemischen Defizite analysiert. Aber bereits auf der Ebene des „menschlichen Versagens“ geht es um mehr als die individuelle Schuld des Vassilis S. Denn schon hier tauchen Fragen auf, die auf Systemfehler verweisen:
- Warum war der Fahrdienstleiter in jener Nacht allein im Dienst?
- War S. für seine Dienstpflichten hinreichend ausgebildet?
- Und wenn nein: Wie konnte er auf eine so verantwortungsvolle Position gelangen?

Zur Frage 1: Die Kollegen gingen vorzeitig nach Hause

Vassilis S. war am Abend des Unfalls ab 22 h 15 allein im Dienst, weil zwei Kollegen, deren Schicht bis 23 Uhr gedauert hätte, vorzeitig gegangen waren. Gegen die beiden wird ebenfalls staatsanwaltlich ermittelt. Bei den ersten Vernehmungen stellte sich heraus, dass der dienstälteste der beiden vom Hauptstationsvorsteher angewiesen worden war, auf seinem Posten zu bleiben, bis der bereits als verspätet gemeldete IC 62 aus Athen abgefertigt war. (EfSyn vom 29. März 2023)

Dies ist ein aufschlussreiches Indiz: Offenbar war in Larissa bekannt, dass man den unerfahrenen S. besser nicht allein lässt. Auch der Dienstplan für März zeigte, dass S. nicht als vollwertiger Fahrdienstleiter galt: Für den ganzen Monat war ihm keine einzige Schicht in Larissa zugeteilt. Er sollte auf seinen ruhigen Posten in Kalambaka zurückkehren.

Zur Frage 2: Vom Gepäckträger zum Fahrdienstleiter

Dass Vassilis S. mit seiner Aufgabe als Fahrdienstleiter auf dem frequentierten Bahnhof überfordert war, hat mit zweierlei Ausbildungsdefiziten zu tun: mit den Schwächen des Lehrprogramms und mit fehlender Einarbeitung auf dem konkreten Posten.
Der 59-jährige S. war trotz fortgeschrittenen Alters ein Berufsanfänger. Zwar hatte er schon früher bei der staatlichen OSE gearbeitet, allerdings nur als Gepäckträger. 2010 war er im Zuge der Griechenland aufgezwungenen Sparpolitik, die auch die OSE traf, innerhalb des öffentlichen Sektors ins Bildungsministerium versetzt worden. Dort war er mit der Verteilung von Lehrmaterial an die Schulen betraut. 2021 bewarb er sich für ein Ausbildungsprogramm der OSE, über das sich Quereinsteiger zum Fahrdienstleiter qualifizieren können.

Damit begann eine unselige Karriere, die es eigentlich nicht geben dürfte: Die offizielle Altersgrenze für die Ausbildung zum Fahrdienstleiter liegt bei 48 Jahren, für das Programm war Vassilis also zehn Jahre zu alt.(5)

Defizite hatte aber auch das Programm als solches. Es sieht 712 Stunden theoretischen Unterricht in zwei Zyklen, parallel zu dem zweiten kleineren Zyklus ist eine 75-tägige praktischen Ausbildung in der Fahrdienstzentrale eines größeren Bahnhofs vorgesehen. Zum Abschluss erfolgt eine Prüfung; wer die besteht, hat eine Lizenz für den Beruf des Fahrdienstleiters erworben.

Eine Prüfung mit Erfolgsgarantie

Diese Ausbildung ist im Vergleich mit den Eisenbahn-Gesellschaften der meisten EU-Länder deutlich kürzer. Aber das Hauptdefizit liegt beim Kontroll- und Prüfungssystem, wie die griechische Öffentlichkeit nach dem Unglück erfahren musste.(6)
- Die vollständige Teilnahme an dem Kurs war nicht zu belegen, weil für einige Unterrichtseinheiten Anwesenheitslisten mit Unterschriften fehlten;
- über die Absolvierung des praktischen Ausbildungsteils lagen keine beglaubigten Dokumente vor;
- die mündliche Prüfung wird vor einem Ausschuss abgelegt, dessen drei Mitglieder die Ausbilder selbst sind;
- die Prüfungsfragen werden den Geprüften einen Tag vorher mitgeteilt.
Wo die Prüfenden über ihre eigene Lehrleistung befinden, haben die Geprüften nichts zu befürchten. Durchfallen ist nicht vorgesehen. Bei dem Kurs, den Vassilis S. im August 2022 abgeschlossen hat, betrug die Erfolgsquote 100 Prozent. Ein solches System könne man nicht als Ausbildung bezeichnen, kommentierte der Stationsvorsteher a.D. Giorgos Apostoleris in einem TV-Interview, „auf diese Weise könnte ich auch ein Arztexamen bestehen“.(7)

Ein Vehikel des parteipolitischen Klientelismus

Ein derartiges Qualifikationssystem bedeutet, dass bereits die Aufnahme in den Kurs den angestrebten Job garantiert. Damit ist es das ideale Vehikel für das, was in Griechenland rousfeti heißt. Das Wort wird gewöhnlich mit „Korruption“ übersetzt, aber rousfeti ist ein komplexerer Begriff und umfasst ein Spektrum von Patronage, das von kleinen administrativen Gefälligkeiten bis zu milliardenschweren Staatsaufträgen reicht. Wobei der gemeinsame Nenner ist, dass es sich um Erscheinungsformen des Klientelismus handelt.

Das gesellschaftlich-politisch-ökonomische Geflecht, das man als Klientelsystem bezeichnet, ist keineswegs auf Griechenland beschränkt. Doch hier ist es gesellschaftlich am tiefsten verwurzelt und treibt deshalb die prächtigsten Blüten – zumindest im europäischen Vergleich.
Woran das liegt, ist eine Frage, die in der historischen Forschung kontrovers diskutiert wird. Herrschende Meinung ist jedoch, dass der rousfeti-Klientelismus seinen Ursprung in der Zeit der „Türkenherrschaft“ (tourkokratia) hat, in der die lokalen Eliten klientelistische Beziehungen zur osmanischen Obrigkeit unterhielten. Wobei die entscheidende Frage ist, wie sich der Klientelismus nach 1830 innerhalb des neuen griechischen Nationalstaats reproduzieren und verfestigen konnte.

Träger der klientelistischen Kontinuität waren die politischen Parteien, die sich innerhalb des griechischen Königreichs aus zunächst lokalen, von einflussreichen Familien beherrschten Beziehungsgeflechten zu nationalen Netzwerken entwickelten, deren Daseinszweck die Eroberung der politischen Zentralmacht war. In einem solchen System wird „der Staat“ zur Beute, die sich diejenige Partei, die mittels – mehr oder weniger – „demokratischer“ Wahlen an die Regierung kommt, als Ressource aneignet. Mit dem Ziel, die eigene Anhänger- und Wählerschaft mit Vergünstigungen aller Art für ihre Loyalität zu honorieren, oder die Stimmen neuer Wählergruppen zu erkaufen.

Griechenland größte Plage, schrieb der kritische Wirtschaftsjournalist Kostas Kallitsis nach dem Tempi-Unglück, ist nach wie vor „der alte klientelistische Staat, der nicht nur außerstande ist, seine komplexen zeitgemäßen Aufgaben zu erfüllen, der sich vielmehr sogar als lebensgefährlich für seine Bürger erweist“. (Kathimerini vom 26. März 2023)

Der Modernisierer Mitsotakis und die Tradition der Korruption

Dieser Grundbefund enthält die Antwort auf unsere dritte Frage: Wie konnte Vassilis S. in den Kurs aufgenommen werden, der ihm eine Anstellung als Fahrdienstleiter garantierte?

Ein ehemaliger Stationsvorsteher von Larissa behauptete, S. sei durch „Vermittlung der Partei“ (also der ND) zu seinem Posten gekommen.(8) Das ist, wie in vielen rousfeti-Fällen, nicht zu beweisen. Aber das spielt im Grunde keine Rolle. Entscheidend ist, dass 90 Prozent der Bevölkerung wie selbstverständlich von parteipolitischer Protektion ausgehen, die sie in ihrem eigenen Alltag ständig erleben.

Da die Nea Dimokratia seit 1974 insgesamt 23 Jahre und 9 Monate lang an der Macht war, verfügen die griechischen Konservativen über eine besonders eingefleischte rousfeti-Tradition. Und der vorgebliche „Modernisierer“ Mitsotakis hat die klientelistische Personalpolitik perfektioniert. Dafür gibt es eine Fülle von Belegen. Hier will ich nur zwei Trendzahlen nennen und einen exemplarischen Fall schildern.
1. Die Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst ohne formelle Ausschreibungs- und Auswahlverfahren, die laut Gesetz die Ausnahme sein sollen, sind seit Juli 2019 weitaus häufiger und in bestimmten Bereichen (etwa bei PR-Beratern) fast zur Regel geworden.
2. Die Zahl der bewilligten Versetzungen – fast immer auf besser bezahlte oder weniger arbeitsintensive Posten – hat sich im Vergleich zur Regierungszeit von Alexis Tsipras (2015 bis 2019) fast verdreifacht.(9)

Diese Praktiken bedeuten einen Missbrauch öffentlicher Mittel im doppelten Sinne: Zum einen wird ein Batzen öffentlicher Gelder zugunsten einer politischen Klientel „privatisiert“. Zum anderen werden Führungspositionen nach fachfremden Kriterien, also an die „falschen Leuten“ vergeben, was die Qualität des öffentlichen Dienstes beeinträchtigt.

Eine rousfeti-Orgie im staatlichen Gesundheitswesen

Die Regierung Mitsotakis hat für diese doppelte Misswirtschaft gleich zu Beginn ihrer Amtszeit neue Maßstäbe gesetzt. Im November 2019 verteilte sie die Verwaltungsleiter-Posten bei den 112 staatlichen Krankenhäuser des Landes derart schamlos an die eigene Klientel, dass die Opposition von einer „rousfeti-Orgie“ sprach. Und die linke Tageszeitung EfSyn („Zeitung der Redakteure“) stellte fest, noch nie sei die Liste der höheren Verwaltungsposten im Gesundheitssystem so stark parteipolitisch gefärbt gewesen.(10) Dabei hatten die meisten der Postenjäger keinerlei Bezug zum Gesundheitswesen. Seit 2019 werden ESY-Krankenhäuser im ganzen Land von pensionierten Militärs geleitet, von ehemaligen Lehrerinnen und Lehrern, oder auch von Buchhaltern und in die Jahre gekommenen Fußballtrainern.

Die EfSyn deckte damals auf, dass die rousfeti-Liste vom Stab des Ministerpräsidentenamts erstellt worden war. Also unter direkter Aufsicht des „Modernisierers“ Kyriakos Mitsotakis, der ständig von einem entschlackten Staat spricht, dem nur „die Besten“ dienen sollen, die strikt nach dem „Leistungsprinzip“ bestimmt würden. Noch kurz von den Wahlen vom 7. Juli 2019 hatte er angekündigt: „Ich werde nicht dulden, dass in den Verwaltungen der Krankenhäuser gescheiterte Politiker platziert werden, die einen Versorgungsposten im öffentlichen Sektor suchen“. (EfSyn vom 27. November 2023)


Kyriakos Mitsotakis im Tempital, 1. März 2023.
© Vasilis Ververidis/picture alliance/ANE/Eurokinissi

Dabei hatte der Verfechter des „meritokratischen“ Prinzips einen besonders frechen rousfeti-Deal schon zwei Monate vor den Wahlen eingefädelt. Im Mai 2019 traf er sich mit einem thessalischen Provinzpolitiker namens Konstantinos Pateras, der von der ND zur rechtspopulistischen Anel („Unabhängige Griechen“) übergelaufen war. Mitsotakis überredete den Abtrünnigen, in seinen alten Stall zurückzukehren und seine lokale Wählerherde mitzubringen. Pateras forderte als Gegenleistung einen Verwaltungsleiter-Posten, der ihm offensichtlich zugesagt wurde.(11) So kam es, dass ein 81-jähriger pensionierter Lehrer zum Verwaltungschef des Krankenhauses Karditsa berufen wurde. Allerdings war in diesem Fall die Empörung in der lokalen Öffentlichkeit – und sogar bei thessalischen ND-Notablen – so groß, dass Pateras auf seinen Posten verzichten musste. So viel zum Kampf des Kyriakos Mitsotakis für das Leistungsprinzip und gegen das rousfeti-Unwesen.

Rousfeti führt zu Qualifikationsverlust auch bei der Bahn

Rousfeti hat auch bei der griechischen Staatsbahn OSE eine jahrzehntelange Tradition. Die gehobenen Stellen wurden mit Leuten besetzt, „deren einzige Qualifikation ihr Zugehörigkeit zum jeweiligen Regierungslager war, und deren berufliche Befähigung auf überholten Kenntnisse aus vergangenenen Jahrzehnten beruhte.“ So urteilt der ehemalige OSE-Chefmechaniker Dimitris Makrodimopoulos. Er verweist darauf, dass diese nach Parteibuch erfolgten Einstellungen – wie auch die unzähligen Beförderungen – einen ständigen Verlust an Qualifikation bedeuteten, sodass eine „Kluft zwischen den Anforderungen der neuen Technologien und den Fähigkeiten des Personals“ entstanden ist. Diese Kluft wurde durch die radikale Ausdünnung des Personals im Zuge der seit 2010 auferlegten Sparzwänge noch weiter vertieft.

Für Makrodimopoulos ist auch der Fahrdienstleiter Vassilis S. ein „Produkt des politischen Systems“. Im diesem Fall gelang der Sprung auf einen besser dotierten Posten über das geschenkte Examen. Doch diese unorthodoxe Beförderung erklärt noch nicht, wie man den frisch „examinierten“ Fahrdienstleiter mit dem ansspruchsvollen Dienst auf dem Bahnhof Larissa betrauen konnte.

Keine Einweisung in moderne Kontrolltechniken

Hier kommt ein Defizit ins Bild, das noch problematischer ist als das Ausbildungs- und Prüfungsprogramm: das Praxis-Defizit des Berufsanfängers.

Bei S. beschränkte sich die „praktische“ Ausbildung – nach dem geschenkten Examen – auf eine Art Schnupperkurs von gut zwei Wochen. Der erfolgte nicht etwa auf einem größeren Bahnhof mit moderner technischer Ausstattung, etwa einem elektronischen Stellwerk, in dem die Weichen per Mausklick am Computer gestellt werden. Vassilis S. wurde nur 16 Tage lang auf zwei kleinen Stationen angelernt: Zwei Tage auf der Bahnstation von Litochoro, wo das elektronische Stellwerk nicht funktionierte, danach 14 Tage auf dem Bahnhof von Kalambaka, der über keine elektronische Ausstattung verfügt.

Mit anderen Worten: S. kam mit keiner modernen Kontrolltechnik in Berührung. Die lernte er erst Anfang Februar 2023 bei seinen ersten eigenverantwortlichen Einsätzen kennen: zunächst bei zwei Morgenschichten in der Station Nei Poroi (am nördlichen Ausgang des Tempi-Tals), die er an der Seite eines erfahrenen Kollegen ableistete. Es folgte ein 14 Tage langer Dienst auf dem idyllischen Bahnhof von Kalambaka.(13) Dann folgte bereits der Einsatz in Larissa, wo S. fünf Nachtschichten zugeteilt waren. Gleich zu Beginn der fünften geschah die Katastrophe.

Ein Systemvergleich

Was bei dieser Kette der Ausbildungsetappen fehlt, ist das Zwischenglied zwischen der praktischen Ausbildungsphase und der eigenverantwortlichen Berufsausübung an einem bestimmten Arbeitsplatz. Dieses Zwischenglied ist in anderen Ländern eine Selbstverständlichkeit, wie ein Blick auf die Fahrdienstleiter-Ausbildung in Deutschland zeigt. Hier gibt es ebenfalls einen Ausbildungsgang für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, mit einer ähnlichen Kombination von Theoriephasen und Praxistraining. Auch in Deutschland kann man den Beruf des Fahrdienstleiters in vier bis zehn Monaten erlernen. Allerdings gibt es zwei erhebliche Unterschiede.

Zum einen setzt die Bewerbung für diesen zweiten Bildungsweg eine abgeschlossene Berufsausbildung und „gutes Verständnis für Technik“ voraus, das in einer Eignungsprüfung nachzuweisen ist. Ein Kandidat ohne jegliche Berufsausbildung (wie Vassilis S.) würde in dieses Programm gar nicht aufgenommen. Noch wichtiger ist der zweite Unterschied: Der erfolgreiche Abschluss des Kurses durch eine schriftliche plus mündliche Prüfung (vor der Prüfungskommission der Deutschen Bahn) verschafft dem Absolventen oder der Absolventin zwar die „Befähigung“ zur Ausübung des Berufs, nicht aber schon die „Lizenz“, die zum Einsatz auf einem bestimmten Stellwerk berechtigt. Diese gibt es erst nach einer „örtlichen Einweisung“, die mehrere Wochen dauert und „durch den erfahrenen diensthabenden Fahrdienstleiter“ erfolgt.(14) Wäre auch in Griechenland eine solche Etappe der „Einweisung“ erforderlich, um eine konkrete „Lizenz“ zu erwerben, hätte Vassilis S. eine mehrwöchige Lehrzeit auf dem Bahnhof Larissa durchlaufen müssen. Erst dann hätte er einen regulären Schichtdienst leisten dürfen.

Der unglückliche Fahrdienstleiter, den Mitsotakis am Tag nach dem Unglück zum Alleinschuldigen machen wollte, hat in seiner ersten Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft selbst erklärt, dass er sich für seinen Einsatz in Larissa nicht qualifiziert fühlte. Er sei nie an einem Tele-Überwachungssystem ausgebildet worden, deshalb hätte man ihn nicht mit einer Technologie, die er weder kannte noch kannte, allein lassen dürfen.(15)

Menschliches und systemisches Versagen

Das Fazit auf der Ebene des “menschlichen Faktors” lautet: Die Katastrophe im Tempi-Tal hätte es nicht gegeben, wenn Vassilis S. für seine verantwortungsvolle Aufgabe ausgebildet gewesen wäre, oder wenn in jener Nacht ein zweiter Fahrdienstleiter seinen unerfahrenen Kollegen beaufsichtigt hätte.

Beide Versäumnisse verweisen auf Defizite des „Systems“: Das erste auf die Mängel in der Ausbildung; das zweite auf eine Personalpolitik, die nicht für eine (mindestens) doppelte Besetzung wichtiger Positionen im Kontroll- und Sicherheitsbereich sorgt.

Die entscheidende „Systemfrage“ setzt jedoch jenseits des „menschlichen Versagens“ an. Vor drei Jahren klagte der Vorsitzende der Gewerkschaft des Zugpersonals in einem Interview: „Wir haben kein System, das gegen individuelle Irrtümer schützt …“(16) Um herauszufinden, warum das so ist, müssen wir uns die Organisation des griechischen Eisenbahnsystems ansehen.

Das Schienennetz des Landes ist im europäischen Vergleich sehr bescheiden. Von den 2293 Kilometern werden ganzjährig nur 1800 Kilometer befahren.(17) Die weitaus wichtigste Bahnlinie ist die „Magistrale“, die Athen und Thessaloniki verbindet, aber selbst diese 520 Kilometer lange Strecke ist erst seit 2018 zweispurig ausgebaut und voll elektrifiziert. Das übrige Netz (mit Ausnahme des Schienennahverkehrs im Raum Athen) ist technisch um Jahrzehnte veraltet, wie etwa die mehr als 500 unbeschrankten Bahnübergänge zeigen.

Eine staatliche griechische Eisenbahngesellschaft gibt es seit 1920, seit 1971 trägt sie den Namen OSE (Οrganismós Sidyrodrómon Elládos). Innerhalb der OSE wurde bereits 1996 das Subunternehmen ErgOSE gegründet, das für Wartung und Ausbau der Infrastruktur verantwortlich ist.(18) Auf Verlangen der „Troika“ wurde 2013 der Verkehrsbetrieb (Personen- wie Güterzüge) unter dem Namen TrainOSE ausgegliedert, mit dem erklärten Ziel, diese Sparte zu privatisieren.

Privatisierung mit nur einem Bieter

Mit der Aufspaltung in ein Verkehrs- und ein Infrastruktur-Unternehmen, das u.a. für die Wartung und Entwicklung des Gleisnetzes und der Zugleitsysteme verantwortlich ist, erfüllte Griechenland verspätet die Vorgaben der EU-Verkehrspolitik, die in den meisten anderen Ländern längst umgesetzt waren. Die alte OSE hatte diese Aufspaltung zwar schon 2005, unter der ND-Regierung Karamanlis, und lange vor der „griechischen Krise“ und den Sparauflagen der Troika beschlossen. Doch das chronisch defizitäre und hoch verschuldete Staatsunternehmen fand für die angestrebte Privatisierung seiner Betriebssparte jahrelang keinen Käufer.

Das gelang erst Anfang 2017 durch den Verkauf an eine Tochter des italienischen Staatsunternehmens Ferrovie dello Stato Italiane (FSI). Dabei konnte FS als der einzige Bieter den Kaufpreis auf 45 Millionen Euro drücken – weit unter die 300 Millionen, die sich die Sparkommissare der Troika versprochen hatten. Das italienische Unternehmen TrainOSE wurde im Juni 2022 in Hellenic Train umbenannt. Bei der staatlichen OSE (Hellenic Railways) verblieb der Aufgabenbereich der ErgOSE, also Wartung und Modernisierung der Infrastruktur.

Der Verkauf von 2017, der unter dem Druck der Troika erfolgte, bedeutete im Grunde allerdings keine „Privatisierung“, da FSI auch ein Staatsunternehmen ist. Damals war es jedoch der einzige Weg zur „Rettung“ der TrainOSE, da Brüssel die Rückzahlung staatlicher Subventionen in Höhe von 750 Millionen Euro forderte, was den Bankrott des Staatsunternehmens bedeutet hätte.(19)

Die Rolle der Tsipras-Regierung

Die Übernahme durch die italienische Staatsbahn wurde unter der Tsipras-Regierung vollzogen. Damit stellt sich auch die Frage nach der Mitverantwortung der Linkspartei Syriza für die Misere des griechischen Eisenbahnsystems. Die Syriza verteidigt ihre damalige Entscheidung mit zwei Argumenten: Erstens sei man zum Verkauf gezwungen gewesen, weil das Defizit von TrainOSE auf 15 Milliarden Euro angewachsen war, wie Tsipras in einem Interview mit Mega TV argumentierte (news 24/7 vom 14. März 2023). Und zweitens habe man es immerhin geschafft, die OSE in staatlicher Hand zu behalten, und damit die Kontrolle über die Infrastruktur und über die Verwendung der Gelder aus den Infrastruktur-Fonds der EU.

Das zweite Argument mag ökonomisch einleuchten, ist unter dem Aspekt der Betriebssicherheit jedoch höchst fragwürdig. Bereits 2019 hat Philippos Tsalidis, damals CEO des Fahrdienstunternehmens TrainOSE, auf die Folgen einer Trennung der beiden Bereiche hingewiesen. Der Zustand des Gleisnetzes, auf den TrainOSE keinen Einfluss hat, sei das größte Hindernis für „die reibungslose Durchführung von Bahntransportleistungen“, denn die staatliche OSE zeige sich außerstande, „elementare Infrastruktureinrichtungen wie das Zugüberwachungs- und das Signalsystem“ fertigzustellen.(20)

Die systemische Sicherheitslücke

Dieses Versagen des Staatsunternehmens hatte Folgen nicht nur für die Pünktlichkeit, sondern auch für die Sicherheit des Zugverkehrs. Damit individuelle Fehler keine tödlichen Folgen haben, wurden die sogenannten „Zugbeeinflussungssysteme” entwickelt: elektronische Leitungs- und Kontrollsysteme, die Fehler erkennen und in Echtzeit korrigieren können.

Die meisten europäischen Länder verfügen über ein Zugbeeinflussungssystem für das gesamte nationale Bahnnetz, Griechenland nicht.(21) Allerdings gibt es im Stellwerk von Larissa ein elektronisches Kontrollsystem von begrenzter Reichweite, wie es auf etwa der Hälfte der griechischen Bahnhöfe installiert ist. (Kathimerini vom 12. März 2023) Das von Larissa wurde erst Anfang 2023 wieder in Betrieb genommen, nachdem es 2016 durch einem Brand zerstört worden war. Doch dieses Kontrollsystem deckt lediglich die ersten 1,7 Streckenkilometer in Richtung Tempital ab.(22) Innerhalb dieser Reichweite liegt die Weiche Nr. 118, die den IC 62 auf das linke Gleis lenkte. Die falsche Weichenstellung wäre Vassilis S. per Warnsignal auf seinem Kontrollmonitor gemeldet worden; doch den hat dieser entweder nicht beachtet oder abgeschaltet.

Auch auf diesem Bildschirm hätte der Fahrdienstleiter allerdings nicht gesehen, dass dem IC 62 ein Güterzug aus Thessaloniki entgegenkam. Das wäre nur mit einem integrierten „horizontalen“ Überwachungssystem möglich, das die gesamte Strecke und sämtliche Zugbewegungen abbildet. Ein solches zentrales System – eine Art „nationales Stellwerk“ – hätte auch die Lokführer der beiden Züge alarmiert, die aufeinander zurasten, oder eine automatische Bremsung eingeleitet.

Geplant aber nicht umgesetzt

Ein elektronisches Signal- und Kontrollsystem ist für die Eisenbahn-Magistrale Athen-Thessaloniki seit vielen Jahren geplant. Es ist auch die Voraussetzung für die Integration des griechische Bahnnetzes in das „European Train Control System“ (ETCS), das die verschiedenen nationalen Systeme ablösen soll. Ein integriertes ETCS gewährleistet die notwendige Signal- und Kontrolltechnologie für das geplante „European Railway Traffic Management System“ (ERTMS), das ein europaweites Netz von Hochgeschwindigkeitszügen ermöglichen soll.(23)

In Griechenland ist ein solches Kontrollystem heute nur auf einem 106 Kilometer langen Streckenabschnitt südlich von Larissa (zwischen Tithorea and Domokos) in Betrieb und auch auf diesem Abschnitt immer noch störanfällig. So kam es auf dem Bahnhof von Tithorea im Oktober 2022 – fünf Monate nach der pompösen Einweihung des Systems – zu zwei Unfällen; beim zweiten entgleiste ein Zug wegen einer falsch gestellten Weiche. Das beweise, dass „im griechischen Eisenbahnwesen nichts richtig funktioniert“, erklärte damals die Gewerkschaft PEPE, die das Bahnpersonal repräsentiert. Sie kritisierte insbesondere das Transportministerium, das sich weigere, mit den Gewerkschaften zu sprechen und sich über „den tatsächlichen Zustand der Bahn-Infrastruktur“ informieren zu lassen. (EfSyn vom 22. Oktober 2022)

Der tatsächliche Zustand stellt sich nach dem ersten Untersuchungsbericht über das Tempi-Unglück, der am 21. April 2023 vorgelegt wurde, wie folgt dar: Das ETCS „funktioniert in keinem Bereich des griechischen Eisenbahnnetzes vollständig“ (zitiert nach EfSyn vom 21. April). Und es gibt auch kein anderes „Train Protection System“(TPS), wie es in den meisten EU-Ländern installiert ist.(24)

Ein abgesagter Auftritt

Wie die Athener Regierung die „tatsächlichen Zustände“ verschleiert, zeigt eine bizarre Episode, die nicht stattgefunden hat. Für den 1. März hatte Regierungschef Mitsotakis eine Vorwahlkampf-Reise geplant, bei der er auch das “Zentrum für Tele-Überwachung des Eisenbahnnetzes Nordgriechenlands” besuchen wollte. Dafür gibt es auf dem Bahnhof von Thessaloniki bereits ein Gebäude, aber nichts zu überwachen. Es existiert zwar ein Vertrag mit dem französischen Großkonzern Alstom über die Installation des digitalen Kontrollsystems „Iconis“ in ganz Nordgriechenland, aber der sieht die Fertigstellung erst für 2025 vor. (Global Railway Review vom 15. März 2022)

Angesichts dessen frotzelte der PEPE-Vorsitzende Kostas Genidounias: „Kann uns jemand sagen, wo es das automatische Signal- und Streckenüberwachungssystem in Nordgriechenland gibt und wo es funktioniert?” In Richtung Osten gebe es so was nicht und in Richtung Athen liege sowieso “alles im Dunkeln”. (zitiert nach EfSyn vom 2. März 2023)

Wenige Stunden vor dem geplanten Auftritt von Mitsotakis geschah das Tempi-Unglück. Die Ansprache in dem Potemkinschen Kontrollzentrum musste ausfallen. Und so gab es am 1. März auf dem Bahnhofsvorplatz von Thessaloniki statt einer Jubelkulisse von ND-Getreuen eine Demonstration von mehreren Hundert Studierenden, die skandierten: "Es war kein Unglück, sondern ein Verbrechen."

Der Verkehrsminister ist empört

Welche Sprüche die PR-Berater von Mitsotakis für den 1. März aufgeschrieben hatten, werden wir nie erfahren. Doch sicher hätte der Regierungschef – mit Blick auf die Parlamentswahlen – ähnliche Töne angeschlagen wie sein Verkehrsminister Karamanlis. Der verkündet seit Jahren, Griechenland sei dazu bestimmt, zum „Verkehrs- und Infrastruktur-Knotenpunkt des Balkans zu werden“. Dank der ND-Regierung, die dabei sei, mit Investitionen von mehr als 3 Milliarden Euro „die Landkarte des Transportwesens zu verändern“.(25)

Visionen für mehr Sicherheit hatte Karamanlis dagegen nicht zu bieten. Als er am 20. Februar 2023 von Syriza-Abgeordneten nach der Sicherheit des Schienenverkehrs gefragt wurde, fand er es „empörend“ und „eine Schande“, dass die Opposition dieses Thema überhaupt ansprach. (news 24/7 vom 6. März 2023)

Acht Tage später fand die Sicherheitsfrage ihre Antwort im Tempital. Verkehrsminister Karamanlis musste zurücktreten. Doch er empfand es nicht als schändlich, einen Monat später anzukündigen, er werde bei den Wahlen am 21. Mai erneut für das Parlament kandidieren, um den ND-Sitz im nordgriechischen Wahlkreis Serres zu verteidigen.

Überhörte Alarmsignale

Was Karamanlis im Parlament nicht erwähnte – und Mitsotakis am 1. März nicht erwähnt hätte – waren die Alarmsignale von Gewerkschafts- und von Expertenseite. So hatte die PEPE am 22. Oktober 2022 in einem Brandbrief an den Verkehrsminister die chronische Vernachlässigung der Infrastrukturen beklagt und konkrete Defizite benannt: „ausbleibende Instandhaltungsarbeiten“, „nicht funktionierende Fotosignaltechnik und Fernsteuerung“, und das „seit vielen Jahren nicht funktionierende System ETCS, ... obwohl es an den Lokomotiven schon installiert war“.(26)


Wenige Stunden nach dem Unglück erklärte Verkehrsminister Karamanlis seinen Rücktritt.
© Vasilis Ververidis/picture alliance/ANE/Eurokinissi

Der Verkehrsminister erwähnte auch nicht, dass ein Jahr zuvor ein hochrangiger Sicherheitsexperte die Zustände bei der ErgOSE scharf kritisiert hatte. Der Elektroingeniuer Christos Katsioulis leitete bei dem Subunternehmen der OSE das Arbeitsteam, das die Anpassung des griechischen Bahnnetzes an die Standards des ETCS organisieren sollte. Damit war Katsioulos auch für die Einführung des Signal- und Zugüberwachungssystem zuständig. Am 24. April 2022 reichte er seinen Rücktritt ein, aus Protest gegen „nicht zu rechtfertigende gigantische Verzögerungen“, gegen die „grundlose Demontage von Systemen“ und die „schlechte Umsetzung“ der Verträge durch die Unternehmen, die mit dem weitgehend EU-finanzierten ErgOSE-Programms betraut waren. (EfSyn vom 2. März und Ta Nea vom 5. März 2023)

Der letzte Kritikpunkt zielte auf das Konsortium, das der französische Konzern Alstom Transport und Τomh Abete, eine Tochter des griechischen Bauriesen Ellaktor, gegründet hatten, um den lukrativen ErgOSE-Auftrag zu bekommen. Der wurde ihnen mit dem Vertrag 717 vom Oktober 2014 erteilt, der die Entwicklung und Installation eines Systems auf ETCS-Niveau vorsah, das bis September 2016 einsatzfähig sein sollte.

Ein Konsortium, das nicht zusammenarbeitet

Ein Konsortium ist ein Zusammenschluss von selbständigen Unternehmen „zur zeitlich begrenzten Durchführung eines vereinbarten Geschäftszwecks“ (Wikipedia). In diesem Sinne hat das Tandem Alstom/Ellaktor nie funkioniert. Das liegt vor allem an den sehr unterschiedlichen technischen Kompetenzen. Während Alstom auf Verkehrstechnik spezialisiert und auf dem Gebiet der Bahntechnik das zweitgrößte Unternehmen weltweit ist, handelt es sich bei Ellaktor um einen Baukonzern, der in Richtung Alternative Energien, Müllaufbereitung und Immobilienverwertung expandiert.

Dass Ellaktor zum Teilhaber am lukrativen Vertrag 717 mit einem Auftragsvolumen von 41,3 Millionen Euro werden konnte, hatte nichts mit technischer Expertise zu tun. Der einzige Grund war, dass der international aktive Baugigant (der 2022 einen Umsatz von 1,04 Milliarden Euro erzielte) an jedem öffentlich finanzierten Großprojekt auf griechischem Boden beteiligt wird. Das gilt für die Hängebrücke am Eingang zum Golf von Patras, die Großbauten für Olympia 2004 in Athen (Stadion und Olympisches Dorf) oder das Akropolis-Museum, wie auch für das griechische Autobahnnetz und die Athener Stadtautobahn (Attiki Odos).

Das Geschäftsmodell von Ellaktor beruht auf klassisch „klientelistischen“ Beziehungen zu jedweder Athener Regierung und auf der optimalen Verwertung der erlangten Aufträge. Wie diese Optimierung funktioniert, lässt sich an dem 2,6-Milliarden Projekt Attiki Odos besichtigen. Als ich einmal mit einem Freund, der Bauingenieur ist, über die Stadtautobahn fuhr, machte der mich auf das Volumen der massiven Betonmauern und -stützen aufmerksam und erläuterte: Da wurde um 30 Prozent mehr Beton verbaut, als von der Statik her nötig ist; und natürlich lag die Projektplanung bei Ellaktor, der seine Gewinne proportional zum Betonvolumen steigern konnte.

Verzögerungen am laufenden Band

Was den Vertrag 717 über die Installation eines modernen Zugbeeinflussungssystems betrifft, so war der (mittlerweile zur Hälfte niederländische) Baugigant für den führenden Verkehrstechnik-Konzern Alstom nie ein echter Partner. Das Know-how-Gefälle zeigte sich schon daran, dass die Planstudien für die Teilprojekte, die Tomh Abete/Ellaktor übernehmen sollte, vom französischen Partner geprüft und abgezeichnet werden mussten. Einer der Gründe für die ständigen Verzögerungen bei der Umsetzung des Vertrags 717 war, dass die Alstom-Experten ihre Unterschrift unter diese Studien jahrelang verweigerten. Hinzu kam, dass die Ellaktor-Tochter zahlreiche Subaufträge an kleinere Unternehmen vergab, von denen etliche das Geld kassierten, ohne den Auftrag auszuführen. Solche Unteraufträge sind auf der unteren rousfeti-Ebene ein gängiges Mittel, um lokale Klienten zu bedienen, da man sie meist ohne formelle Ausschreibung vergeben kann. Die Folgen schilderte ein Eisenbahnexperte gegenüber der Nachrichten-Website news 24/7 am 4. März 2023 an einem Beispiel: „Die elektronischen Systeme der Auftragnehmer, denen kleinere Teile des Projekts zugeteilt wurden, konnten von den Systemen der französischen Alstom nicht ‚gelesen werden‘.“

Das führte dazu, dass die ETCS-kompatible Software in den Zügen zeitweise bereits installiert war, aber nicht funktionierte, weil sie nicht mit den an den Gleisen installierten Sensoren kompatibel war.(27) Als news 24/7 nach dem Tempi-Unglück bei Kostas Genedounias, Chef der Lokführergewerkschaft (PEPE) nachfragte, warum es kein funktionierendes Zugkontrollsystem gebe, lautete die Antwort: „Fragt die Verantwortlichen … Die sagen immer nur, dass es nicht funktioniert, dass sie es aber hinkriegen werden; dann sagen sie uns, dass es kaputt ist, aber dass sie einen Vertrag mit einem Unternehmen machen, dann wieder, dass sie einen Vertrag mit einem anderen Unternehmen machen … und so geht es weiter.“

Das jüngste Beispiel für eine solche „systemische“ Verzögerung: Im Mai 2017 hatte die ErgOSE zugesagt, spätestens 2019 werde das gesamte Schienennetz mit dem automatischen Zugsicherungssystem nach ETCS-Standard ausgestattet sein. Dann werde es ein zentrales Kontrollzentrum geben, das „im Fall eines schwerwiegenden Fahrfehlers die Steuerung eines Zuges in Echtzeit übernimmt“. (Kathimerini vom 26. Mai 2017)

Am 28. Februar wäre das die Rettung gewesen. Aber ein solches System hat „zu keinem Zeitpunkt als ganzes und integriertes System funktioniert“, befindet der Verkehrsexperte Achilleas Chekímoglou. Das Bahnpersonal sei bis heute darauf angewiesen, per Mobiltelelefon zu kommunizieren. (Kathimerini vom 5. März 2023)

Statt Rückzahlungen ein Nachschlag

Wenn die installierte Technik jahrelang nicht funktioniert, entsteht auch ein Verschleiß-Problem. Bei der OSE verlotterten die Apparaturen an den Gleisen mangels Wartung – oder sie wurden schlicht geplündert. Professionelle Diebesbanden, die auf wertvolle Metalle spezialisiert sind, entdeckten den Schatz an Kupferleitungen, den es aus dem unbewachten OSE-Gleisbett zu heben gab.(28)

Chronische Verluste und Verzögerungen veranlassten die griechische Watchdog-Kommission namens EDEL Ende 2018 zu einer Kontrolle des ErgOSE-Programms. Die Kommission, die über die Verwendung öffentlicher Gelder (auch der EU) zu wachen hat, stellte gravierende Probleme und Vertragsverletzungen seitens des Konsortiums fest. So waren zwei Jahre nach dem vereinbarten Abschluss der Arbeiten noch nicht einmal alle unerlässlichen Studien fertiggestellt und abgezeichnet (Kathimerini vom 3. März 2023). Deshalb verlangte das Komitee vom Projektträger ErgOSE die Rückzahlung von 2,42 Millionen Euro. Dieser Bescheid erging wenige Tage vor den Wahlen vom 7. Juli 2019, die von der konservativen ND gewonnen wurde.

Die neue Regierung Mitsotakis hat diese Rückzahlung nicht durchgesetzt. Im Gegenteil: Sie gewährte dem Tandem Alstom-Ellaktor einen kräftigen Nachschlag in Form einer Zusatzvereinbarung zum Vertrag 717. Das Konsortium konnte weitere 13,3 Millionen Euro in Rechnung stellen; damit sollte die Entwicklung einer neuen Software für das digitale Leit- und Kontrollsystem finanziert werden.

Die Begründung war von atemberaubender Dreistigkeit: Die vorhandene Software wie die Hardware seien inzwischen „veraltet“ (news 24/7 vom 4. März 2923). Dass die installierte Technologie nicht mehr up-to-date war, lag natürlich an den Verzögerungen, die auf die Zwistigkeiten innerhalb des Konsortiums zurückgingen. Die Vertragspartner nahmen also das eigene Versagen zum Anlass, neues Geld zu fordern. Und die Mitsotakis-Regierung willigte ein, statt von den vertragsbrüchigen Unternehmen einen Teil der ursprünglichen 41 Millionen Euro zurück zu fordern.

Hier haben wir ein Prunkstück von rousfeti auf höchstem Niveau. Der „durchlöcherte Staat“ als Selbstbedienungsladen: „Statt dass die Auftragnehmer den Staat fürchten, können sie nach Belieben ihre Geschäfte machen – ohne jede Kosten,“ klagte der Wirtschaftsjournalist Kostas Kallitsis in der Kathimerini vom 5. März 2023. Auch dies ist ein systemisches Phänomen. Sehr oft enthalten Verträge über griechische Staatsaufträge eine Klausel, die dem Auftragnehmer für die rechtzeitige Erfüllung des Auftrags eine Prämie zusichert – statt Terminüberschreitungen mit Honorarabzug zu bestrafen.

Finanzielle Sanktionen drohen Alstom und Ellaktor nur von der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA), die Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU zu verfolgen hat. Die unabhängige Behörde, die ihre Arbeit im Juni 2021 aufgenommen hat, ermittelt seit November 2022, auf welche Weise die Gelder aus Brüssel im Sumpf des Vertrags 717 versickert sind. (news 24/7 vom 4. März 2023)

Déjà-vu

Das Fiasko des Vertrags 717 war bereits der zweite ergebnislose Anlauf. Ein Jahrzehnt zuvor war ein ähnliches, ebenfalls EU-finanziertes Programm gescheitert, das die Installation der ersten Stufe des Europäischen Zugbeeinflussungssystems (ETCS Level 1) in Griechenland vorsah. Das Vorhaben sollte im Zeitraum 2007-2013 vollendet werden, was selbst innerhalb der bis 2017 verlängerten Frist nicht klappte. Auftragnehmer war zunächst ein italienisch-japanisches Konsortium, danach ein Tandem aus dem französischen Militär- und Verkehrstechnikkonzern Thales Group und dem griechischen Bauriesen Terna. Auch in diesem Fall ging die Kooperation schief, am Ende waren die Instrumente für die elektronische Streckenüberwachung in den Zügen installiert, nicht aber an den Gleisen der Magistrale Athen-Thessaloniki.(29)

Der jahrzehntelange Krampf um die Modernisierung der griechischen Eisenbahn ist eine Geschichte des Scheiterns. Der Journalist Achilleas Chekímoglou hat sie von Beginn an verfolgt. Nach dem Tempi-Unglück zog er in einem Podcast auf der Webite news 24/7 eine vernichtende Bilanz über das Wirken der OSE.(30) „Das ganze Unternehmen OSE war ein System, das nicht wirklich lernte … Die strukturelle Unfähigkeit, moderne Technologie zu integrieren und – trotz riesiger finanzieller Programme – zum Funktionieren zu bringen, ist vielleicht einmalig in Europa.“

Rousfeti in Milliardenhöhe

Ob einmalig oder nicht: Was bei der OSE funktionierte, war das Prinzip rousfeti. Laut Chekímoglou bekam die Korruption im Gefilde der milliardenschweren Infrastruktur-Projekte noch einen kräftigen Schub durch die „riesigen Finanzierungsprogramme“ der EU. Dass im griechischen Bahnsystem Gelder versickerten, blieb in Brüssel nicht unbemerkt. Mitte der 1990er Jahre legte die EU-Kommission die Finanzierung von OSE-Projekten aus EU-Mitteln kurzzeitig auf Eis. Sie hatte entdeckt, dass lukrative Aufträge direkt, also ohne Ausschreibungen erteilt wurden. Damals verlangte die EU von der OSE, ihre Infrastruktur-Abteilung in Form der ErgOSE auszugliedern, um ein vermeintlich „sauberes“ Unternehmen zu schaffen. (Kathimerini vom 5. März 2023)

Als Beispiel milliardenschwerer Korruption erzählt Chekímoglou die Geschichte des Tunnels durch den Bergzug Kallidromos (150 Kilometer nördlich von Athen unweit der Thermopylen). Der Bau der beiden Tunnelröhren von je 9,2 Kilometer Länge begann 1997. Den Auftrag bekam der Baugigant Aktor (seit 1999 Ellaktor), dessen Hauptaktionär damals der einflussreiche Multi-Unternehmer und Medienmogul Giorgos Bobolos war.(31)

Bobolas konnte sich den Auftrag ohne Ausschreibung sichern, weil er politisch gut vernetzt war (insbesondere mit der Pasok) und weil sich Aktor über Kooperationsverträge ausländische Expertise einkaufte, über die der Baukonzern nicht selbst verfügte. Dennoch kam das technisch schwierige Projekt mehrmals zum Stillstand. Nach 16 Jahren Bauzeit wurde der Tunnel 2013 „eingeweiht“, aber die ersten Züge konnten erst Anfang 2018 durchfahren. Solange dauerte es, um die Signal- und Kommunikationstechnik in den Röhren zu installieren. Aber auch zu diesem Zeitpunkt waren die Anlagen wegen ständiger technischer Probleme noch nicht amtlich lizensiert, wie die lokale Zeitung Voria vom 1. Februar 2023 berichtete.

Lebensgefährliche Tunnel

Im Bereich Verkehr sind technische Probleme immer auch Sicherheitsprobleme. Das gilt verstärkt für Straßen- und Eisenbahntunnel. Ein weiterer Beweis für die „systemische“ Vernachlässigung der „Sicherheitskultur“ durch die ErgOSE ist deshalb der Zustand ihrer Tunnel. Wie der aussieht, erfuhr die griechische Öffentlichkeit erst nach dem 28. Februar. Der Frontalzusammenstoß hätte noch viel mehr Menschenleben gekostet, wenn die Züge wenige Sekunden später im Tempi-Tunnel kollidiert wären. Daher schickte der TV-Sender Skai ein Reporterteam in die 5,5 Kilometer lange Betonröhre, das haarsträubende Sicherheitsmängel dokumentierte: die Wasserschläuche waren geklaut, die Evakuierungswege nicht beleuchtet, die Belüftungssysteme kaputt.

Erst jetzt entdeckten die Medien ein vernichtendes Gutachten der griechischen Feuerwehr, die bereits 2022 die Sicherheitsausstattung der 18 Eisenbahntunnel von mindestens 1 Kilometer Länge überprüft hatte. Die Inspektion in Begleitung von OSE-Personal erfolgte in 15 Tunneln (drei weitere fielen mangels OSE-Begleitung aus). In allen 15 entdeckten die Feuerwehr-Experten massive Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften:
- defekte oder fehlende Löschwasserschläuche und leere Wassertanks;
- fehlende Beleuchtung der Fluchtwege, verschlossene Türen, unzureichend geschützte Zufluchtsräume für gestrandete Passagiere;
- defekte Belüftungs- und Rauchabzugssysteme;
- kein gesicherter Zugang für Feuerwehrkräfte;
- keine Vorkehrungen für Bergung und Entsorgung gefährlicher Substanzen oder giftiger Chemikalien (nach Unfällen von Güterzügen).(32)

Aufgrund des vernichtenden Befunds der Feuerwehr hätten die Tunnel zumindest für den Personenzugverkehr gesperrt werden müssen. Die ermittelten Sicherheitsdefizite belegen, dass die OSE ihre Kontroll- und Wartungsaufgaben seit Jahren vernachlässigt oder ganz unterlassen hatte.

Die heikle Frage nach den „griechischen Verhältnissen“

Wer diesen Bericht bei TrainOSE oder im Verkehrsministerium zur Kenntnis genommen hat, ist nicht bekannt. Wie die offiziellen Instanzen mit unangenehmen Nachrichten umgehen, hat allerdings Adonis Georgiadis, Minister für Wirtschaftsentwicklung und Investitionen (und Vize-Regierungschef), entwaffnend offen ausgesprochen. Bei einem Fernseh-Auftritt (Skai TV vom 7. März 2023) verteidigte der Rechtspopulist seinen Kollegen Karamanlis gegen den Vorwurf, die Sicherheitsprobleme verschwiegen zu haben, mit der Überlegung: „Wenn du Verkehrsminister bist, kannst du dann im Parlament einfach sagen, dass es bei den Zügen Sicherheitsprobleme gibt? Wenn du das sagst, wird morgen kein Mensch mehr in den Zug einsteigen.“

Mit dieser zynischen Auskunft ist die Frage beantwortet, ob die unmittelbare Verantwortung für das Unglück vom 28. Februar bei der Regierung liegt. Doch die Verantwortung im weiteren Sinne – oder sagen wir im historischen Horizont – liegt in in den „griechischen Verhältnissen“. Mit diesem Ausdruck sollte man vorsichtig umgehen. Zum einen weil Korruption im umfassenden Sinn von rousfeti auch anderswo verbreitet ist – wenn auch nicht so zählebig und tief verwurzelt wie in Griechenland. Zum zweiten weil der Befund systemischer Korruption immer wieder von nicht-griechischen Akteuren herangezogen wird, um eigene Interessen und Fehler im Umgang mit Griechenland zu verschleiern.

Das Paradebeispiel dafür ist die Politik der „Troika“ in den Jahren der globalen Finanzmarktkrise. Damals wurde das hoch verschuldete Land auf Betreiben der Schäuble-Merkel-Regierung mittels eines unnachsichtigen und kontraproduktiven Spardiktats nur noch tiefer in die Krise getrieben – und am Ende fast in einen katastrophalen Grexit. Allerdings steht auch im Fall der Grexit-Krise außer Frage, dass sich Griechenland mit seiner hohen Gesamtverschuldung selbst zum Angriffsziel Nr. 1 für die Finanzmärkte, die Troika und Schäuble gemacht hat. Dieser Schuldenstand war das direkte Ergebnis der rousfeti-Orgie der ND-Regierung Karamanlis, die das Staatsdefizit von 2004 bis 2009 in neue Dimensionen katapultierte.(33) Allein im Wahljahr 2009 schufen die Konservativen im öffentlichen Sektor 40.000 neue Stellen für ihre Klientel. Als dennoch die Pasok an die Regierung kam, musste der neue Ministerpräsident Giorgos Papandreou auf Nachfragen der Troika ein peinliches Eingeständnis machen: Er konnte nicht sagen, wie viele öffentliche Bedienstete es in seinem Land gibt. Um die Zahl zu ermitteln, bedurfte es einer „Volkszählung“ in allen Ministerien und öffentlichen Unternehmen.

Rousfeti und die Linke

Die griechischen Linksparteien haben das rousfeti-System schon immer als Geschwür des griechischen Staates identifiziert. Die parteipolitische Vetternwirtschaft habe zu „ungeheuerlichen Pathologien im öffentlichen Sektor“ geführt, klagte Syriza-Chef Alexis Tsipras, als er 2013 – noch als Oppositionsführer – „das System der Verflechtungen zu zerschlagen“ versprach (Interview mit Kyriakatiki Eleftherotypia vom 8. September 2013). Umso verblüffender ist, dass Linke außerhalb Griechenlands bei der Frage, wer an der griechischen Misere „schuld“ sei, den systemischen Klientelismus häufig völlig ignorieren. Die „griechischen Verhältnisse“ werden ausgeblendet, um keine Zweifel an der Alleinschuld des „ausländischen Faktors“ aufkommen zu lassen.(34)

Solche ideologischen Scheuklappen machen blind für die Wirklichkeit. Das können sich die Betroffenen nicht leisten, die dieser Wirklichkeit ausgesetzt sind. Wenn etwa der Verkehrs-Experte Achilleas Chekímoglou angesichts des Versagens der OSE von „ganz und gar ‚griechischen‘ Zuständen“ spricht, so spricht er damit nur aus, was die meisten Griechinnen und Griechen empfinden. In fast jedem Gespräch, das ich im März und April mit den unterschiedlichsten Menschen über das Tempi-Unglück und seine Ursachen geführt habe, kam irgendwann der Stoßseufzer: „Was will man machen, wir sind eben in Griechenland.“


Forderung nach Aufarbeitung: Proteste während eines 24-stündigen Generalstreiks, Athen, 16. März 2023.
© Konstantinos Zilos/picture alliance/NurPhoto

Dieses Stimmungsbild wird durch vier Umfragen bestätigt, die auch die Verantwortung für die Tempi-Katastrophe thematisiert haben. Nur eine kleine Zahl der Befragten (zwischen 10 und 12 Prozent) nannte „menschlichen Versagen“ als Hauptgrund für das Unglück; für eine große Mehrheit (zwischen 75 und 94 Prozent) waren die Hauptverantwortlichen die aktuelle Regierung oder alle Regierungen der letzten Jahrzehnte. Rechnet man die Schuldzuweisung an die OSE dazu, sieht eine überwältigende Mehrheit „das System“ auf die Anklagebank.(35)

Versorgungsunternehmen im doppelten Sinne

In diesem Meinungsbild zeigt sich in aller Klarheit, dass die griechische Eisenbahn als Sinnbild des rousfeti-Staats wahrgenommen wird. Seit Jahrzehnten war die OSE ein klassisches öffentliches „Versorgungsunternehmen“ im doppelten Sinne: Als Dienstleister sorgte es für den Transport von Personen und Gütern, als Arbeitgeber versorgte es „die Klientel der jeweils herrschenden Regierung mit gut bezahlten, sicheren und häufig bequemen Posten – auf Kosten der Kundinnen und der Steuerzahler.“(36)

Im Fall der griechischen Bahn hatte diese zweite Versorgungsfunktion deutlichen Vorrang vor der eigentlich primären Kundendienstleistung. Keine Regierung hatte je die Absicht, den Schienenverkehr zu einer attraktiven Alternative zum Straßenverkehr auszubauen. Das wurde auch durch die Lobby der Busunternehmen und vor allem der Speditionsfirmen verhindert, die mit ihrer Lkw-Flotte den Gütertransport seit den 1950er Jahren monopolisierten. Und das noch mächtigere Oligopol der Bau- und Betonindustrie setzte ganz auf den Ausbau des Straßennetzes, der nachhaltige Profite aus der Staatskasse garantierte.

Die völlige Missachtung der Schiene zeigte sich auch beim Bau der Hängebrücke, die seit 2004 über den Golf von Patras hinweg die Nordküste der Peloppones mit dem westgriechischen Ätolien verbindet. Zu keinem Zeitpunkt der seit 1990 laufenden Planung wurde eine Bahntrasse über die Brücke auch nur erwogen. Das 770 Millionen Euro teure Projekt wurde als vierspurige Straßenbrücke konzipiert; die Chance, den Nordwesten des Landes an das bestehende Schienennetz anzuschließen, hatte keine Chance.(37)

Mehr Fortschritte gab es beim Ausbau der OSE als politisches Versorgungsunternehmen. Während die Bahn zum „Verkehrsmittel zweiter Klasse“ heruntergewirtschaftet wurde, nahm der Personalbestand weiter zu.(38) Da die Kundschaft zum Speditions- und Busverkehr abwanderte, sanken die Einnahmen. Doch die Personalkosten stiegen weiter: Zu Beginn der Grexit-Krise machten sie knapp 80 Prozent der Gesamtausgaben des Unternehmens aus. Diese überstiegen in der OSE-Bilanz von 2008 die gesamten Einnahmen um das 8-fache, während das Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben im EU-Durchschnitt bei 1 : 1,25 lag. Die griechische Bahn bescherte dem Staat also ein Defizit, das 6,4 mal höher lag als anderswo. Die exorbitanten roten Zahlen rührten, wie der pensionierte OSE-Chefmechaniker Dimitris Makrodimopoulos schreibt, großenteils von „der Parteienwirtschaft, dem Populismus, den Klientelbeziehungen und der Vetternwirtschaft …“ (EfSyn 31. März 2023)

„Shut it down!“

Die Verschuldung der OSE war bis 2010 auf 10 Milliarden Euro angewachsen (was 4 Prozent des griechischen BIP entsprach). Das Staatsunternehmen war also, bevor es zum Opfer der Schuldenkrise wurde, selbst eine der Ursachen der griechischen Verschuldung. Vor diesem Hintergrund ist die Episode zu verstehen, die über Poul Thomsen, den Vertreter des IWF innerhalb der „Troika“ berichtet wird. Als ihm die griechischen Vertreter die roten Zahlen der OSE vorlegten, soll er sie angeschrien haben: „Shut it down!“, Macht den Laden zu.

Hätte sich Thomsen damals durchgesetzt, wäre 13 Jahre später zwischen Athen und Thessaloniki kein Zug gefahren. Aber ein Land ohne Eisenbahn ist auch keine Lösung. Thomson wurde von den Troika-Partnern gestoppt, die nicht wollten, dass auf diese Weise mehrere Milliarden Euro an EU-Subventionen versenkt werden. Stattdessen forderte die Troika die Einstellung unprofitabler Zugverbindungen und eine „Umstrukturierung“ des ganzen Unternehmens.(39)

Die erste Forderung zielte etwa auf die kaum genutzten Bummelzüge auf der Peloponnes und war durchaus berechtigt. Doch die Forderung einer „Umstrukturierung“, sprich eines radikalen Personalabbaus, musste sich tatsächlich auf die Verkehrssicherheit auswirken. Damit sind wir bei der Frage nach der „europäischen“ Dimension des griechischen Eisenbahn-Desasters, bei der sich drei Unterfragen stellen:
- In welchem Maße gehen die sicherheitsrelevanten Kürzungen beim OSE-Personal auf das Konto der Troika?
- Hat die 2017 vollzogene „Privatisierung“ der TrainOSE die Verkehrssicherheit beeinträchtigt?
- Wie steht es um die Mitverantwortung der italienischen Hellenic Rail (vormals TrainOSE) für die Betriebssicherheit des griechischen Bahnnetzes?

Die Rolle der Troika

Jeder Personalabbau bei einem Verkehrsunternehmen geht, wenn er an falscher Stelle erfolgt, auf Kosten der Sicherheit. Das gilt besonders für die OSE, die ihr Defizite an moderner Sicherheitstechnik nur mit hohem Personaleinsatz ausgleichen konnte. Diese Rechnung ging nicht mehr auf, als die Belegschaft unter dem Diktat der „Memoranden“ radikal abgebaut wurde.(40)

Deshalb haben die Sparauflagen der Troika die Sicherheitsdefizite unbestreitbar vergrößert. Dem „ausländischen Faktor“ die Hauptschuld am Zustand der OSE zuzuschreiben, ist dennoch aus zwei Gründen verfehlt. Zum einen wurden die Pläne für eine „Sanierung“ per Personalabbau lange vor dem Wirken der Troika entwickelt; und die massenhaften Versetzungen begannen bereits 2008, unter der ND-Regierung Karamanlis. Zum anderen wurden die Prioritäten von griechischer Seite definiert.

Damit erfolgte der Personalabbau nach der klientelistischen Logik, die zwei „falsche“ Kriterien setzt: Erstens verschont sie die oberen Ränge der Verwaltungshierarchie, die mittels unverdienter Beförderungen – ein klassisches rousfeti-Instrument – notorisch überbesetzt sind. Statt diesen bürokratischen „Wasserkopf“ zu köpfen, wurden die operativen Glieder amputiert.(41) Zweitens werden die „professionellen“ durch „politische“ Kriterien verdrängt, womit wertvolles „Kapital“ an ausgebildeten Fachkräften verloren geht. Dieser qualitative Verlust bedeutete im Fall der OSE auch, dass „die massenhafte Entsorgung von Personal eine gewaltige Sicherheitslücke entstehen ließ.“ (EfSyn vom 31. März 2023)

Das hätte man nur vermeiden können, wenn das gesamte öffentliche Unternehmen einer Evaluierung unterworfen worden wäre. Nur so hätte man die Spreu der „entbehrlichen“ Stellen vom Weizen der „unerlässlichen“ trennen können, um damit die „sicherheitsrelevanten“ Arbeitsplätze zu retten.(42)

Doch an einer Evaluierung hatten weder die Führungsetage der OSE noch die Regierung ein Interesse. Eine Durchleuchtung des Gesamtsystems nach professionellen Kriterien könnte helfen, das Leistungs- gegen das rousfeti-Prinzip durchzusetzen. Das aber hätte eine tragende Säule der politischen und gesellschaftlichen Machtstruktur zum Einsturz gebracht.(43)

Deshalb ist die Generalkritik an der Troika zu präzisieren: Gewiss war das pauschale Spardiktat von EU, EZB und IWF eine sozial ungerechte und ökonomisch kontraproduktive Strategie. Aber was die Folgen für das Staatsunternehmen OSE betrifft, so ist der Troika eher vorzuwerfen, dass sie der griechischen Seite keine präziseren Auflagen gemacht hat, zum Beispiel was die Betriebssicherheit betrifft. Das wäre die einzige vertretbare Alternative zu der vom IWF angedrohten Liquidation des gesamten griechischen Eisenbahnverkehrs gewesen.

Der Faktor Privatisierung

Bei der Kritik an der Privatisierungspolitik, die Griechenland von der Troika diktiert wurde, ist vorweg ein Hinweis wichtig. In einem hoch verschuldeten Land mit notorisch defizitären Staatsunternehmen kann der Verkauf eines öffentlichen Unternehmen eine akzeptbale Lösung sein. Allerdings nur unter drei Bedingungen, die ich in meinem ersten Text für diesen Blog dargelegt habe (siehe Anm. 36). Erstens sollte der Erlös für den Verkauf „in einem vernünftigen Verhältnis zu den Gewinnen stehen, die der öffentlichen Hand durch die Veräußerung entgehen“. Zweitens sollte die Privatisierung neue Investitionen und den Zugewinn von technischem Know-how erbringen. Drittens sollte der Staat in dem veräußerten Unternehmen bei strategischen Entscheidungen ein Mitsprache- oder Einspruchsrecht behalten.

Ein Großteil der griechischen Bevölkerung lehnt Privatisierungen angesichts der Erfahrungen mit rousfeti-kontaminierten Staatsunternehmen nicht prinzipiell ab. Und auch für die griechische Linke sind „produktive“ Privatisierungen durchaus diskutabel. Es sei daran erinnert, dass auch der linke Ökonom Yanis Varoufakis im Frühjahr 2015 als Finanzminister der ersten Tsipras-Regierung die gesamte OSE an die chinesische Staatsbahn CR veräußern wollte. Und als unter der zweiten Tsipras-Regierung 2017 die Betriebssparte TrainOSE an die italienische FSI verkauft wurde, gab es fast keine Proteste – wohl aber große Hoffnungen, dass „die Italiener“ den Zugverkehr modernisieren und auf „europäisches Niveau“ bringen würde.

Eine andere Frage ist, ob die Aufteilung eines Eisenbahnsystems in ein Infrastruktur-Unternehmen und einen Transport-Dienstleister die Betriebssicherheit gefährdet. Dies hängt ganz von der Koordination bei der Entwicklung der Kontrollsysteme ab. In Griechenland blieb (wie oben geschildert) die Abstimmung der Sicherheitstechnik zwischen „Rad und Schiene“ – zwischen „rolling stock“ und fester Infrastruktur – ein ständiges Problem.

Allerdings wurde die Trennung beider Bereiche lange vor der Privatisierung von TrainOSE vollzogen. Seitdem liegt die Verantwortung für die Wartung und Entwicklung der Signal- und Sicherheitstechnik allein bei der staatlichen ErgOSE. Insofern trägt die heutige Hellenic Train (vormals TrainOSE) keine direkte Verantwortung für das Tempi-Unglück. Genauso unzweifelhaft ist aber, dass das Transportunternehmen über die Sicherheitsdefizite der von ihr genutzten Infrastruktur stets informiert war. Wäre sie es nicht gewesen, hätte es die Fürsorge für ihre Kundschaft sträflich vernachlässigt.

Sehr schlechte Sicherheitsbilanz

Seit TrainOSE/Hellenic Train ein italienisches Unternehmen ist, war sein „rolling stock“ in zahlreiche Unfälle verwickelt, in einem Fall auch mit Todesopfern. Die kritischen Jahresberichte der griechischen Aufsichtsbehörde RAS waren dem Bahnbetreiber ebenso bekannt wie der Railway Safety Report der EU von 2022, der dem griechischen Eisenbahnsystem eine sehr schlechte Sicherheitsbilanz bescheinigt.(44) Hellenic Train hat sich bei der OSE auch mehrfach beschwert, dass die vormoderne Signal- und Kontrolltechnik ständig Verspätungen verursache. Wegen dieser Beeinträchtigung des Zugverkehrs hat der Bahnbetreiber seinem Infastruktur-Partner sogar mit juristischen Klagen gedroht.

Aber mehr auch nicht. Niemals ist das italienische Unternehmen an die Öffentlichkeit gegangen, um die ErgOSE oder das griechische Verkehrsministerium wegen der chronischen Sicherheitsdefizite unter Druck zu setzen. Und es gibt auch ein Beispiel dafür, dass Hellenic Train bereit war, Abstriche an den eigenen Sicherheitsstandards zu machen, wenn es um die Pflege der Unternehmensbilanz ging. 2019 kaufte die FSI-Tochter (noch als TrainOSE) fünf Hochgeschwindigkeits-Züge des Typs ETR 470. Der sogenannte Pendolino ist wegen seiner Neigungstechnik besonders für kurvenreiche Strecken geeignet. Allerdings ist er so störungsanfällig, dass er in der Schweiz als „Pannenzug“ verrufen war und 2014 ausgemustert wurde. Auch in Deutschland wurde der ETR 470 aus dem Verkehr gezogen, weil er nicht mit dem speziellen Feuerschutzsystem ausgerüstet war, das für Fahrten durch Tunnel von mehr als 500 Metern Länge vorgeschrieben ist.(45)

Hellenic Train setzte das quasi zum „Schrottpreis“ gekaufte Fahrgerät seit dem 15. Mai auf der Strecke Athen-Thessaloniki ein, auf der fünf mehrere Kilometer lange Tunnel zu durchfahren sind. Dennoch wurde der Hochgeschwindigkeitszug nicht sicherheitstechnisch nachgerüstet. Auf Nachfrage antwortete die Verkehrsaufsichtsbehörde RAS, ein Hochdruck-Löschsystem wie in anderen Ländern sei in Griechenland nicht vorgeschrieben. Doch spätestens nach dem alarmierenden Bericht der Feuerwehr über das Sicherheitsvakuum in den griechischen Eisenbahntunneln (siehe oben) hätte Hellenic Rail die Notbremse ziehen müssen. Zumindest hätte man die Einstellung des Transportbetriebs androhen können, um die Regierung und die Gesellschaft zu alarmieren. Insoweit trägt das Unternehmen zwar keine direkte, aber eine sekundäre Verantwortung auch für das Tempi-Unglück.

„Die Probleme waren ja bekannt...“

Um das Geflecht der Verantwortung für das Tempi-Unglück anschaulich zu machen, dokumentiere ich abschließend eine Art Anhörung. Am 24. März 2023 stellte sich Ioanna Tsiaparikou, die Vorsitzende der Aufsichsbehörde für das griechischen Eisenbahnsystem (RAS), im TV-Sender Kontra-Channel einer ausführlichen und strengen Befragung durch die Moderatorin Natasia Giameli und zwei ihrer Kollegen. In der folgenden Auswahl sind die Fragen und Antworten aus dem 36-minütigen Programm editorisch gerafft. Die Sendung ist in voller Länge auf der Website der RAS abzurufen.

Frage: Warum gab es Kritik an den Sicherheitslücken bei der OSE erst nach dem Unglück? War davor keine Mängelliste bekannt?

Antwort: Wir haben die Alarmglocken geläutet, wenn wir was gefunden haben! Seit 2018.

Haben Sie sich wegen dieser Fehler an die Justiz gewandt?

So arbeiten wir nicht. Wir informieren nur alle verantwortlichen Stellen – ErgOSE, Hellenic Train und das Ministerium - und fordern Stellungnahmen an. Etwa wenn wir steigende Unfallzahlen feststellen.

Haben diese Stellen auf Ihren “Empfehlungen zum Sicherheitszustand” bei der OSE vom 13. Dezember 2021 reagiert?

Antworten gibt es immer, aber keine substanziellen Folgen. Wir kommunizierten regelmäßig mit dem Generalsektretär des Verkehrsministeriums. Die Probleme waren ja bekannt, da mussten wir gar nicht Alarm schlagen. Alle wussten Bescheid: über den schlechten Zustand des Schienennetzes, über die Probleme mit der Wartung, über den Personalmangel bei der Instandhaltung der Infrastruktur. Und immer versuchten wir, Gefahren zu identifizieren und rechtzeitig zu informieren, um das Schlimmste zu verhindern. Das haben wir auch öffentlich gemacht. Es war bekannt, dass das Personal ausgedünnt war - bis zu dem Punkt, an dem die Sicherheit gefährdet ist.

Was die Sicherheit betrifft, so gab es also weder die automatische Überwachung noch das nötige Personal?

Tsiaparikou nickt und fährt fort: Für die Sicherheit entscheidend ist aber die Pflege einer "Sicherheitskultur". Das Bewusstein – an der Spitze wie beim kleinsten Angestellten –, dass vom Verhalten jedes Einzelnen das Leben von Menschen abhängt!

Als Sie von Anstellungen von Leuten ohne angemessene Ausbildung gehört haben, warum haben Sie da nicht sofort Stopp gerufen?

Wir wussten nichts von diesen Leuten, die Ausbildung fällt auch nicht in unsere Zuständigkeit.

Hatten Sie jemals einen Termin mit dem Minister?

Bei meinem Amtsantritt habe ich um einen Termin gebeten, aber dann gab es nur ein Schreiben von ihm. Getroffen habe ich ihn nie, immer nur den Staatssekretär, zwei, drei Mal pro Jahr.

Wir haben den Eindruck, von ihrer Behörde wurden viele Papiere produziert, aber es gab keinerlei Nachfrage.

Nachfragen waren gar nicht nötig, denn über den Zustand des Systems Bescheid! Und die OSE-Führung hat ja auch versucht, etwas zu ändern.

Wir haben es also mit einem systemischen Versagen zu tun?

Natürlich.

Vier Tage vor dem Tempi-Unglück

Am Ende überreicht die RAS-Vorsitzende der Moderatorin ein Schreiben, das sie am 20. Januar 2023 an ErgOSE, Hellenic Rail und das Ministerium abgeschickt hatte. Unter dem Betreff: "Verbesserungen der Sicherheit" fragt Tsiaparikou nach, warum sie keine Reaktion auf den RAS-Bericht bekommen hat, der aus Anlass von zwei Entgleisungen (im Oktober 2022) konkrete Gefahren und Sicherheitsdefizite benannt hatte. Die Moderatorin verliest Ausschnitte aus dem Brief:

"Bis heute haben Sie uns nicht über die Aktivitäten informiert, die sie ergriffen haben, um die Fehler zu analysieren und die Probleme zu lösen, die bei den Weichen aufgetreten sind … Wir bitten um unverzügliche Reaktion auf die obigen Forderungen der RAS bis spätestens 26. Januar 2023 …”

Dann verliest Giameli ein weiteres Schreiben vom 24. Februar. Vier Tage vor dem Tempi-Unglück mahnt die RAS-Vorsitzende erneut: "Was die unterlassene Korrektur der Weichenstellung durch den Fahrdienstleiter betrifft, so bitten wir um Information, ob weitere Faktoren ermittelt wurden, die beim Personal der OSE zu solchen Fehlern (wie im Oktober 2022, NK) führen – in Klammern: mangelnde Ausbildung, Überlastung oder andere Faktoren – und ob Maßnahmen ergriffen wurden, um diese Mängel zu beseitigen, oder ob solche Maßnahmen geplant sind."

Am Ende folgt eine Frage, die nur zu verstehen ist, wenn man weiß, was die ND-Regierung über die RAS-Vorsitzende verbreitet hat: Frau Tsiaparikou sei eine rousfeti-Berufung aus der Zeit der Syriza-Regierung und verfüge über keinerlei Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens.

Frage: Die vorgelegten Dokumente und Mahnschreiben zeigen, dass Sie viel getan haben. Warum werden Sie jetzt als Schuldige gezeichnet?

Antwort: Wir legten von Anfang an Wert darauf, dass unsere Behörde nicht für parteipolitische Ziele instrumentalisiert wird. Wir wollten stets unsere Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit bewahren. Das wurde von dem Ministerium und der Regierung nicht honoriert. Das ist schädlich für den Ruf der RAS als Institution. Und es passt nicht zu einem Land, das sich im europäischen Rahmen bewegt.

Mitsotakis im Kampf gegen sich selbst

Kyriakos Mitsotakis beschwört immer wieder den Anspruch seines Landes, in diesem europäischen Rahmen eine angemessene, also bedeutendere Rolle zu spielen. Deshalb sei das letzte Wort zum Thema rousfeti dem griechischen Ministerpräsidenten überlassen. Nachdem er das Zugunglück zunächst auf „menschliches Versagen“ reduzieren wollte, trat er die Flucht nach vorne an und erklärte seine – und alle anderen Regierungen davor – zu Mitverantwortlichen für die 57 Toten von Tempi. Und dann zündete er eine Pointe, die kein Satiriker besser erfinden könnte: Der Regierungschef gelobte, von nun an den „tiefen Staat“ zu bekämpfen, der Griechenland auf dem Weg in die Modernität um Jahrzehnte zurückgeworfen habe. Dazu brauche er aber weitere vier Jahre im Amt, fügte der ND-Wahlkämpfer Mitsotakis hinzu. Diese Kampfansage an den „tiefen Staat“ kommentierte der treffliche Kostas Kallitsis mit dem Hinweis, das bedeute ja wohl, dass Mitsotakis sich selbst den Kampf ansagen müsse. (Kathimerini vom 26. März 2023)

Der Maestro des rousfeti, der Rousfetioso Mitsotakis will das System abschaffen, das ihn an die Macht gebracht hat und ihn weitere vier Jahre an der Macht halten soll. In Griechenland glaubt das kein Mensch. Und doch spricht fast alles dafür, dass er die bevorstehenden Wahlen gewinnen wird. Warum das so ist, werde ich in meinem nächsten Text zu erklären versuchen.

Anmerkungen

1) Das Originalzitat: „Taking a train in Greece is an unforgettable experience and one of the best ways to get around the country.“ (nicht mehr aufzurufen)

2) Das Durchschnittsalter der Todesopfer lag bei 35 Jahren, siehe den Bericht von Ferry Batzoglou in der taz vom 15. März 2023.

3) Von den Insassen der ersten beiden Wagen überlebte nur ein junger Mann, der aus dem Fenster geschleudert wurde.

4) Die offizielle Zahl wurde mit 342 Reisenden und 10 Bahn-Angestellten angegeben, ist aber unscharf, weil in Larissa auch Passagiere ohne Fahrschein zugestiegen waren.

5) Dass die Zulassung zu dem Kurs nicht rechtens war, konstatiert auch der amtliche Untersuchungsbericht vom 21. April 2023; siehe EfSyn vom selben Tag.

6) Und zwar durch die griechische Eisenbahn-Aufsichtsbehörde (RAS), die den Kurs unter die Lupe genommen hat. Siehe die Erklärung der RAS vom 17. März 2023 über „vorübergehende Notmaßnahmen aufgrund der unzureichenden Ausbildung von wichtigem Fachpersonal“.

7) Skai-Abendnachrichten vom 15. März 2023. Die RAS verfügte in ihrem Beschluss vom 17. März 2023 (Anm. 6), dass alle Absolventen des fraglichen Kurses nicht auf Positionen mit erhöhter Verantwortung eingesetzt werden dürfen.

8) Interview mit Ioannis Kollatos im TV-Sender open; siehe auch news 24/7 vom 6. April 2023.

9) Versetzungen sind das wichtigste rousfeti-Vehikel, seit die Schaffung neuer Stellen durch die Sparauflagen der „Memoranden“ erschwert wurde.

10) Die EfSyn vom 26. November 2019 publizierte eine komplette Liste der Besetzungen; siehe auch EfSyn vom 27. und 29. November 2019.

11) So schilderte es Pateras selbst am 26. November 2019 gegenüber dem TV-Sender Skai, siehe EfSyn vom 27. November 2019.

12) Kathimerini vom 5. März 2023, laut Makrodimopoulos bekam gut die Hälfte des OSE-Personals eine Versetzung bewilligt.

13) EfSyn vom 19. März 2023, mit Informationen vom TV-Sender Mega vom selben Tag.

14) Weitere Details auf der Informations-Website: www.azubiyo.de/berufe/fahrdienstleiter/. Die Ausbildungsgänge in Griechenland und Deutschland vergleicht auch der griechische Experte Isidoros Sapounas im Gespräch mit der Kathimerini vom 3. März 2023.

15) Zitiert nach Skai-Radio vom 15. März 2023. In derselben Sendung erzählte der pensionierte Fahrdienstleiter Christos Retsinas, er selbst habe die sechswöchiger Ausbildung an seinem ersten Einsatzort von selbst verlängert, weil er sich seiner Aufgabe noch nicht gewachsen fühlte: "Die Theorie ist leicht zu lernen, wie man ein Gedicht auswendig lernt, aber die Praxis ist etwas anderes."

16) Zitiert nach: Nikos Morfionos, „Warning, No Signal“, Mediterranean Institute for Investigative Reporting vom 6. Februar 2020.

17) Die Differenz ist die Strecke auf der Peloponnes, auf der nur im Sommer nostalgische Bummelzüge für ein touristisches Publikum verkehren; siehe Global Railway Review vom 1. Dezember 2020.

18) Die Abkürzung steht für Erga (Werke) der OSE. Ein weiteres Subunternehmen namens GaiaOSE ist für die Verwaltung und Nutzung der Immobilien (Bahnhöfe usw.) zuständig.

19) Über den Hintergrund des Verfahrens siehe den Reuters-Bericht vom 14. Juli und die Neue Züricher Zeitung vom 16. Juli 2016.

20) "Greece‘s deadly rail tracks", European Data Journalism Network, 30. Januar 2019

21) Siehe die Liste der Zugbeeinflussungssysteme mit nationaler Reichweite

22) So der erste offizielle Untersuchungsbericht über das Unglück vom 28. Februar; siehe EfSyn vom 21. März 2023. Die Regierung hatte zuvor von einer Reichweite bis 7,5 Kilometer gesprochen.

23) Das ETCS ist laut Global Railway Review vom 15. März 2022 „the signalling and control component of the European Rail Traffic Management System (ERTMS), ensuring interoperability and cross-border operations, increased line capacity as well as greater safety and efficiency for passengers.“

24) Siehe EU-Railway Safety Report, Grafik A-34. Demnach verfügte 2020 neben Griechenland nur die Slowakei über kein TPS, das auch in Ländern wie Kroatien und Rumänien zu 100 Prozent eingeführt ist (Report on Railway Safety and Interoperability in the EU, Mai 2022)

25) Zitate aus Karamanlis-Reden vom September 2021 und vom April 2022 (nach news 24/7 vom 9. April 2022) Der großsprecherische Kostas (eigentlich: Konstantinos Achilleas) Karamanlis ist ein Neffe des großen Alten Konstantinos Karamanlis, der die griechische politische Szene jahrzehntelang dominierte. Von dem nationalen Patriarchen hat der Neffe auch den nordgriechischen Wahlkreis Serres geerbt. Obwohl er der dürrste Zweig am stattlichen Familienstammbaum ist, reicht der Name für eine mittlere politische Karriere im konservativen Lager aus.

26) Weitere Einsprüche der Gewerkschaften sind dokumentiert in: EfSyn vom 2. März und Ta Nea vom 5. März 2023.

27) Siehe Kaki Bali, "Eine Katastrophe mit Ansage", Deutsche Welle vom 2. März 2023.

28) Die Gerüchte, dass OSE-Angestellte als Hinweisgeber fungierten, sind nicht zu verifizieren.

29) Die komplizierte Geschichte des Projekts, das sich zeitlich mit dem Vertrag 717 überlappt, erzählt Morfonios in: „Warning, No Signal“ (Anm. 16)

30) In dem Podcast “Explainer” vom 3. März 2023.

31) Der Baulöwe hatte außerdem ein Medienimperium (Mega TV und die Tageszeitung Ethnos) und war an Casinos beteiligt.

32) Eine ausführlichere Liste bei news 24/7 vom 16. März und EfSyn vom 21. März 2023; die Reportage von Skai TV in den Mittagsnachrichten vom 15. März 2023.

33) Siehe u.a. meine Analyse „Griechenland- auf Gedeih und Verderb“ in LMd vom Januar 2010.

34) Ein gutes Beispiel ist die mit heißer Nadel gestrickte Aufbereitung des Tempi-Unglücks durch den ausgewiesenen linken Verkehrsexperten Winfried Wolf auf der Website Griechenlandsolidarität vom 4. März 2023.

35) Die Umfragen wurden zwischen Mitte März und Anfang April von den Instituten Metron Analysis, Alco, GPO und RASS durchgeführt. Bei der letzten Umfrage von Anfang April wurde die „größte Verantwortung für das Unglück“ von 42,5 Prozent dem „gesamten politischen System“ zugeschrieben, von 27,6 Prozent „der Regierung“, und von 13,8 Prozent der staatlichen OSE.

36) So die Beschreibung des rousfeti-Systems in meinem ersten Text auf diesem Blog: „Privatisierungsschwindel in Griechenland“ vom 9. März 2016.

37) Dabei existierte bis 1945 eine westgriechische Bahnlinie, berichtet Achilleas Chekímoglou (Kathimerini vom 5. März 2023), der auch die Zerstörung des Eisenbahnsystems durch die Nazi-Okkupanten beschreibt. Viele Details meiner Darstellung verdanke ich diesem wichtigen Text.

38) Chekímoglou beschreibt unter anderem, wie die griechische Militärjunta die OSE zunächst „gesäubert“ hat, um sie mit loyalen Anhängern aufzufüllen (Anm. 37).

39) Siehe Eurydice Bersi, "French contractor, Italian-owned trains, EU policies: Greek crash was also a European failure", Investigate Europe vom 10. März 2023. Der Text ist Teil einer Serie von Reports über das „entgleiste euroäische Bahnsystem“.

40) Das geschah teils durch Frühpensionierung, teils durch Versetzung innerhalb des öffentlichen Sektors; dazu detaillierter Chekímoglou in einem Podcast der Nachrichten-Website news 24/7 vom 3. März 2023.

41) Die Überbesetzung der höheren Ränge ist für den gesamten öffentlichen Sektor typisch, ein besonders drastisches Beispiel war das griechische Militär mit einem extrem hohen Anteil an Offiziersstellen.

42) Zum notwendigen Personal gehörte auch die ungelernten Arbeitskräfte, die Gleis- und Signalanlagen zu bewachen hatten, um den „epidemischen“ Diebstahl von Kupferleitungen und Signal-Armaturen einzudämmen. Dieser ständige Materialverlust wurde von der Verkehrsaufsichtsbehörde RAS in ihrem Jahresbericht 2018 auf die „finanziellen Probleme Griechenlands“ zurückgeführt.

43) Zum Kartell der Evaluierungsgegner gehörten auch die Gewerkschaften, die selbst zum Teil des rousfeti-Systems geworden sind. (EfSyn vom 31. März 2023)

44) So zeigt etwa die Grafik A-9, dass Griechenland „führend“ ist, was die Zahl der Toten und Verletzten pro gefahrenem Kilometern betrifft; desgleichen bei der Zahl der Unfälle an unbeschrankten Bahnübergängen (Grafik A-28). Der ganze Report unter: www.era.europa.eu

45) Siehe dazu Eurydice Bersi, ",The only thing I can say is good luck': How trains abolished by Switzerland are now back in business in Greece", Investigate Europe vom 18. Februar 2022.


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