Blog Griechenland

Wahlen in Sicht

Der politische Horizont zur Jahreswende

von Niels Kadritzke | 19. Dezember 2018

In Griechenland rechnen alle Parteien mit Neuwahlen innerhalb der nächsten sechs Monate. Das würde das vorzeitige Ende der Regierung Tsipras bedeuten, deren Amtszeit eigentlich erst im Herbst 2019 enden würde. Doch heute deutet alles darauf hin, dass die Koalition der Syriza mit der rechtspopulistischen Partei des Verteidigungsministers Kammenos an der Mazedonien-Frage zerbrechen wird.

Im Folgenden will ich darstellen, was genau in dem Abkommen mit der Regierung in Skopje steht, das nur wenige Griechen gelesen haben. Und zu erklären versuchen, warum ein lange eingeschlafenes „nationales Thema“ die politische Landschaft so stark beeinflussen und die „unheilige Allianz“ Tsipras- Kammenos aufsprengen kann. Daraus ergibt sich die Frage, was das Ende der Koalition für die Wahlperspektiven der Syriza und der konservativen Opposition bedeutet. Nach den jüngsten Umfragen liegt die Nea Dimokratia in der Wählergunst deutlich in Führung und kann sich vielleicht sogar eine absolute Parlamentsmehrheit ausrechnen. In einem zweiten Teil (Januar 2019) werde ich untersuchen, welche Chancen die Linkspartei hat, das Blatt noch zu wenden – was vor allem von der ökonomischen Entwicklung abhängen wird.

 

Regierungschef Tsipras (links), Verteidigungsminister Kammenos (rechts) und Innenminister Haritsis auf einer Kabinettssitzung am 16. Oktober 2018 in Athen. © AP/Thanassis Stavrakis

 

Scheidung beschlossen

Das Verfallsdatum der Athener Koalitionsregierung rückt unerbittlich näher. Alexis Tsipras beteuert zwar immer noch, seine Regierung werde bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2019 an der Macht bleiben. Aber der Termin wird sich nicht halten lassen.

Die vorzeitige Scheidung der ungleichen Partner Syriza und Anel ist vorprogrammiert. Das Auftreten dieses seltsamen Paares erinnert seit längerem an eine zerrüttete Ehe, die nur fortbesteht, weil der Mietvertrag für die gemeinschaftliche Wohnung noch nicht abgelaufen ist. Der Bestand an gemeinsamen Zielen ist längst aufgebraucht. Das lässt die Bruchlinien zwischen der Linkspartei und der rechtspopulistischen Anel umso deutlicher hervortreten.

Beide Partner wissen, dass die Beziehung mit den nächsten Parlamentswahlen zu Ende ist; das wäre spätestens im Oktober nächsten Jahres. Inzwischen spricht alles dafür, dass es schneller geht. Das liegt an der Zuspitzung einer Streitfrage, die 25 Jahre lang eingefroren war, aber im vergangenen Sommer auf Initiative von Tsipras und Außenminister Kotzias erneut auf die politische Tagesordnung kam. Die Rede ist vom Mazedonien- Problem, das die griechischen Gegner eine Lösung auch das Skopje-Problem nennen. (1)

Verteidigungsminister Panos Kammenos hat wiederholt erklärt, dass er und seine Partei aus der Regierung ausscheiden werden, sobald das Mazedonien-Abkommen dem griechischen Parlament (der Vouli) zur Ratifizierung zugeleitet wird. Kammenos hält es für seine patriotische Pflicht, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die „schändliche“ Vereinbarung mit den „Skopianiten“ rechtskräftig wird.

Scheidungsgrund: die ewige Mazedonienfrage

Das sogenannte Prespa-Abkommen wurde am 17. Juni dieses Jahres von den Außenministern Nikos Kotzias und Nikola Dimitrov unterzeichnet. Das war nur möglich, weil die heutige Republik Mazedonien gegenüber Griechenland eine weitreichende Konzession gemacht hat, indem sie einen neuen Staatsnamen, nämlich „Republik Nord-Mazedonien“ (Severna Makedonija) akzeptiert hat und diesen auch in der Verfassung verankern will. (2)

Mittlerweile hat das  Abkommen im Parlament von Skopje die ersten Hürden genommen, aber der komplizierte Prozess wird sich noch bis Anfang 2019 hinziehen (dazu weiter unten mehr). Danach ist die Ratifizierung durch das Athener Parlament fällig. Dann ist auch der Scheidungstermin für die zerrüttete Syriza-Anel-Beziehung gekommen - vorausgesetzt, Kammenos steht zu seinem Wort. Das hat der Anel-Chef in der Vergangenheit häufig nicht getan, doch in diesem Fall sind Zweifel unangebracht. Denn die Mazedonienfrage ist die letzte und einzige Karte ist, die Kammenos im nächsten Wahlkampf ausspielen kann.

Die Demoskopen prophezeien der Anel seit Monaten den Untergang: Nach den letzten Umfragen würden die „Unabhängigen Griechen“ klar an der 3 Prozent-Hürde scheitern. (3) Wenn Kammenos die Koalition mit Tsipras platzen lässt, könnten vorgezogene Neuwahlen bereits im März stattfinden. Realistischer ist allerdings ein Datum im Frühsommer. In Athen ist häufig vom letzten Sonntag im Mai die Rede, an dem bereits Kommunalwahlen wie auch die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen. Wenn man eine solche Tripelwahl vermeiden will, würde es auf einen Termin im Juni hinauslaufen.

Wann auch immer: Ein früher Urnengang wäre nur zu verhindern, wenn die Syriza – auch ohne die Anel - bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2019 weiter regieren könnte. Das aber ist extrem unwahrscheinlich. Zwar ist aus der Umgebung von Tsipras die  Einschätzung zu hören, man könne die 151 Stimmen für die Ratifizierung des Prespa-Abkommens auch ohne die Anel-Abgeordneten zusammenbringen, etwa mithilfe der liberalen Potami-Fraktion und weiterer parteiloser  Parlamentarier. Solche potentiellen Bundesgenossen in Sachen Mazedonien gibt es tatsächlich. Aber diese parlamentarische Reserve steht auf keinen Fall für eine neue Koalitionsregierung zur Verfügung, die Tsipras bis zum Herbst im Amt halten könnte. Die einzige Ausnahme könnten Anel-Abgeordnete sein, die gegen den Kurs von Kammenos rebellieren und für das Prespa-Abkommen stimmen wollen. Zwei dieser Dissidenten könnte man zutrauen, eine Tsipras -Regierung als unabhängige Abgeordnete zu unterstützen. Doch zur Mehrheit fehlen der Syriza nicht zwei, sondern sechs Stimmen.

Die Bevölkerung will vorgezogene Neuwahlen

Ausgeschlossen erscheint auch die andere theoretische Alternative: eine Minderheitenregierung bis zum regulären Wahltermin. Zwar hat Kammenos angedeutet, dass die Anel eine Syriza- Regierung tolerieren könnte; doch das wäre nach just vollzogener Scheidung allzu obszön und weder der Parteibasis noch den Syriza-Wählern zuzumuten. Ohnehin verlangen  über 70 Prozent  der griechischen Bevölkerung sofortige Neuwahlen für den Fall, dass die Tsipras-Kammenos-Koalition platzen sollte. (4)

Nach der Verfassung sind vorgezogene Neuwahlen auf zwei Wegen möglich:

- auf Antrag der amtierenden Regierung und zwar aus Anlass „einer Frage von außerordentlicher nationaler Bedeutung“ (Artikel 41 der Verfassung, in diesem Fall müssen Neuwahlen innerhalb von 30 Tagen stattfinden);

- als Folge einer gescheiterten Vertrauensfrage der Regierung oder eines erfolgreichen Misstrauensantrags der Opposition (Artikel 84 der Verfassung), ohne dass im Parlament eine Mehrheit für eine neue Regierung zustande kommt.(5)

Was bedeutet ein vorgezogener Termin für die Wahlchancen der politischen Hauptkontrahenten? Aus heutiger Sicht ist ein Sieg der konservativen Oppositionspartei Nea Dimokratia (ND) so gut wie sicher, ein Erfolg der Regierungspartei Syriza dagegen sehr unwahrscheinlich. Bei der „Sonntagsfrage“ der jüngsten demoskopischen Umfragen liegt die ND im Durchschnitt 9,3 Prozentpunkte vor der Syriza. Basierend auf den zwölf Umfragen der Monate September bis Dezember (abzüglich der beiden Eckwerte) kommt die ND auf 33,9 und die Syriza auf 24,6 Prozent. (6) Allerdings ist zu beobachten, dass sich in den letzten drei Umfragen (alle im Dezember) der Vorsprung der ND merklich verringert hat und nur noch 6 bis 8 Prozent beträgt.

Dass Tsipras und die Syriza diesen Vorsprung innerhalb von vier, fünf Monaten noch aufholen können, ist eher unwahrscheinlich, weil  sich nur noch etwa 15 Prozent der Befragten als „unentschieden“ deklarieren. Die Syriza müsste also fast alle noch schwankenden Wähler für sich gewinnen. Das ist höchst unwahrscheinlich. Zwar besteht das Lager der Unentschiedenen zu knapp einem Drittel aus ehemaligen Syriza-Wählern, die man womöglich zurückgewinnen könnte. Aber noch größer (etwa 35 Prozent) ist der Block  derer, die schon bei den letzten Wahlen im September 2015 „ungültig“ oder „weiß“ gestimmt haben. Solche Protestwähler werden die Syriza nicht unterstützen. (7)

Absolute Mehrheit für Mitsotakis?

Bleibt es bei diesen Umfragetrends lautet die große Frage, ob die konservative Opposition in der Vouli eine absolute Mehrheit erringen wird. Nehmen wir die für die ND günstigste Prognose von 38,5 Prozent (November-„Politbarometer“ des Instituts Public Issue). Dieser Stimmanteil würde eine absolute Parlamentsmehrheit bedeuten und eine ND-Alleinregierung möglich machen. Dass in Griechenland die stärkste Partei auch mit weniger als 40 Prozent Stimmanteil die nötigen 151 Mandate gewinnen kann, hat zwei Gründe. Der wichtigste ist der Bonus von 50 Sitzen, den das Wahlrecht noch immer der stärksten Partei zukommen lässt (die 2016 verabschiedete Änderung des Wahlrechts, die den Bonus für die stärkste Partei abschafft und ein reines Verhältniswahlrechts einführt, tritt erst mit den übernächsten Wahlen in Kraft).

Der zweite Faktor ist das Abschneiden der kleineren Parteien. Dabei gilt die wahl-arithmetische Faustregel, dass für die absolute Mehrheit in der Vouli bereits 35 Prozent der Stimmen ausreichen, falls viele der kleineren Parteien an der 3-Prozent-Hürde hängen bleiben. Zum Beispiel wenn außer ND und Syriza nur noch die drei mittelgroßen Parteien Kinal (Kinima Allagis, vormals Pasok), Chrysi Avgi (Neonazis) und KKE (Kommunisten) ins Parlament einziehen würden, nicht aber Kleinparteien wie Anel, Enosis Kentroon (Vereinigung der Zentristen), Potami (Der Fluss) oder LAE (Volkseinheit). Genau dieses Resultat, also ein Fünf-Parteien-Parlament, sagen die neuesten Umfragen voraus. In dem Fall wären 10 bis 15 Prozent der Wählerstimmen nicht in der Vouli vertreten und das Quorum für die absolute Mehrheit könnte auf unter 35 Prozent absinken. (8)

Im Folgenden wird dargestellt, in welchem Zustand sich die „Koalition auf Abruf“ befindet und was die Syriza und Tsipras unternehmen können, um ihre Wahlchancen in den nächsten sechs Monaten zu verbessern. Dabei werde ich zunächst die Bedeutung des Prespa-Abkommens für die politische Auseinandersetzung darstellen, aber auch auf das Verhältnis von Staat und Kirche eingehen, das die Syriza endlich „modernisieren“, sprich entflechten will.

Die wichtigste Zukunftsfrage ist und bleibt allerdings die wirtschaftlichen Perspektive und der sozialpolitischen Gestaltungsspielraum, der damit eröffnet oder blockiert wird (dieses Thema werde ich in einem zweiten Teil behandeln, in den wieder Eindrücke aus Griechenland einfließen sollen). Bei diesen und anderen aktuellen Streitthemen wird bereits jetzt deutlich, dass sich die Parteien im Vorwahlmodus befinden. Damit geraten zentrale nationale Fragen in den Sog einer klientelistischen Politik, die zu Wahlzeiten besonders offen betrieben wird.

Die Mazedonien-Frage – Segen und Fluch für Syriza

Für die Tsipras-Regierung hat die Mazedonien-Frage zwei Seiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Die eine Seite ist ein Glanzstück kluger und weitsichtiger Außenpolitik, mit der sich Tsipras und sein Außenminister Kotzias in Kreisen der EU und der Nato eine Menge Respekt und Ansehen erworben haben. Diese außenpolitische Initiative wissen die westlichen Partner Griechenlands  umso mehr zu würdigen, als sie 25 Jahre lang durch die Intransigenz der Athener Regierungen in Sachen Mazedonien zur Verzweiflung getrieben wurden.

Die andere, die innenpolitische Seite ist für Tsipras und die Syriza zum Fluch geworden. Sie beeinträchtigt nicht nur ihre Wahlaussichten, sondern wirkt auch als Katalysator, der den Zerfall der Regierungskoalition beschleunigt hat und (wie oben dargestellt) zu vorzeitigen Neuwahlen führen wird.

Den historischen und ideologischen Hintergrund des griechischen Mazedonien-Komplexes habe ich in einem früheren Bericht über das „Land des real existierenden Surrealismus“ dargestellt (siehe Text vom 16. Februar 2018). Vor diesem Hintergrund ist der Mut, mit der die Regierung und ihr Außenminister Nikos Kotzias die überfällige  Lösung der Mazedonien-Frage vorangetrieben haben, gar nicht hoch genug einzuschätzen.

 

Die Außenminister Nikos Kotzias (rechts) und Nikola Dimitrow (links) und ihre Regierungschefs (dahinter) strahlen am 17. Juni 2018 nach der Unterzeichnung des Prespa-Abkommens um die Wette. © Reuters/Alkis Konstantinidis

 

Eine mutige außenpolitische Entscheidung

Diese außerordentliche Leistung wurde schon bei der Unterzeichnungs-Zeremonie gewürdigt, die am 17. Juni dieses Jahres in dem winzigen Dorf Psarádes am Südufer der „Großen Prespa“ stattgefunden hat. (9) Als die Außenminister Nikos Kotzias und Nikola Dimitrov ihre Signatur unter das Abkommen setzten, strahlten nicht nur ihre Regierungschefs Alexis Tsipras und Zoran Zaev um die Wette.  Auch hohe Repräsentanten der UNO und der Europäischen Union waren anwesend, als Tsipras erklärte: „Nur wenige Leute haben uns zugetraut, dass wir eine 26 Jahre währende unergiebige Kontroverse hinter uns lassen können. Jetzt haben wir die historische Verantwortung, dass dieses Abkommen nicht auf Eis gelegt wird.“ Ähnlich emphatisch würdigte Zoran Zaev das vollbrachte Wunder: Die beiden Nachbarländer hätten wahrhaftig „Berge versetzt“, um „eine würdige und für beide Seiten akzeptable Lösung zu finden.“

So sah es auch der UN-Beauftragte Matthew Nimetz, der sich seit 1992 bemüht, eine Vereinbarung zwischen Athen und Skopje zu vermitteln. (10) Der 89-jährige Ex-Diplomat, der das Abkommen für die UNO gegenzeichnete, lobte den Namens-Kompromiss „Republik Nord-Mazedonien“ (Severna Makedonija) als ein Beispiel dafür, „wie Nachbarn ein Problem lösen können, wenn sie wirklich daran arbeiten“. Und Federica Mogherini, die als Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik die Europäische Union repräsentierte, sprach von einer „Inspiration für die ganze Region“, weil die beiden Vertragspartner mit großer Weitsicht  „eine sehr heikle und historisch komplexe Streitfrage beigelegt haben.“

Diese optimistische Aussage war an diesem 17. Juni allerdings noch verfrüht. Das zeigten  schon die Demonstrationen empörter Patrioten beiderseits der Grenze, die auf Griechisch und auf Mazedonisch nahezu identische Parolen gegen „Verrat“ und „nationalen Ausverkauf“ brüllten (Kathimerini vom 18. Juni 2018). Wobei die Empörten unter „Verrat“ natürlich nicht dasselbe verstanden. Nördlich der Grenze erregten sie sich über die Umbenennung ihres Staates und über den Verzicht ihrer Regierung auf das historische Erbe der antiken Mazedonier. (11) Südlich der Grenze beschimpften sie die Tsipras Regierung, weil sie dem Nachbarstaat das Wort „Mazedonien“ als Teil des Staatsnamens zugestanden und darüber hinaus akzeptiert habe, dass die Bewohner von Nord-Mazedonien sich weiterhin als „Mazedonier“ und ihre Sprache (soweit sie Slawophone sind) als „mazedonisch“ bezeichnen können.

Ein neuer Staatsname: „Republik Nord-Mazedonien“

Diese Punkte bilden in der Tat den Kern des Prespa-Abkommens, das damit ein schwieriges Kapitel der Vergangenheit abschließen soll. Aber mindestens ebenso bedeutsam sind die Vereinbarungen, die in die Zukunft weisen. Da diese Punkte in der internationalen Berichterstattung kaum beachtet wurden, will ich hier die wichtigsten Artikel des Abkommens skizzieren. Bei den Zitaten ist zu beachten, dass Griechenland in dem Text als „die Erste Partei“ und Mazedonien als „die Zweite Partei“ bezeichnet wird. (12)

Artikel 1 bestimmt im Unterpunkt 3.a, dass der neue Staatsname „Republic of North Macedonia“ (Kurzfassung: North Macedonia) die derzeit geltende internationale Bezeichnung „Former Yugoslav Republic of Macedonia“ (FYROM) ersetzt. Der neue Name soll „erga omnes“ gelten (wörtlich: gegenüber Allen), das heißt nicht nur „in allen bilateralen Beziehungen und in allen regionalen und internationalen Organisationen und Institutionen“ (wie bisher), sondern auch „domestically“, also innerhalb des Staates Nord-Mazedonien und für dessen offizielle Organe und Institutionen. Das erfordert die Änderung der Verfassung durch ein Gesetz, das den neuen Staatsnamen in allen relevanten Verfassungsartikeln verankert (dieser Artikel geht bis in kleine Details; zum Beispiel ist unter Punkt 1/3.e festgelegt, dass das neue Autokennzeichen NM oder NMK sein wird). In den Formulierungen des Artikels 1 sind sämtliche Forderungen erfüllt, die alle Athener Regierungen seit 2008 als Bedingungen für einen Namenskompromiss formuliert haben.

Identität und Sprache: mazedonisch

Die Bezeichnung der Staatsangehörigkeit ist in Punkt 1/3.b geregelt. Als „nationality“ soll in den neuen Pässen stehen: „Macedonian/citizen oft he Republic of North Macedonia“. Analog zu der „mazedonischen“ Identität wird unter 1/3.c die Sprache definiert: „The official language… shall be the ‚Macedonian language…‘“. Dabei bestand die griechische Seite auf dem Hinweis, dass diese Bezeichnung bereits seit 1977 in einem UN-Dokument anerkannt wurde, das von der damaligen konservativen Karamanlis-Regierung unterzeichnet wurde. (13)

Für die Begriffe „mazedonische Identität“ und „mazedonische Sprache“ erfolgt in Artikel 7 des Abkommens eine bemerkenswerte Klarstellung. Demnach erkennen beide Seiten an, dass „sich ihr jeweiliges Verständnis der Begriffe ‚Mazedonien‘ und ‚Mazedonier‘ auf einen unterschiedlichen historischen Kontext und ein unterschiedliches kulturelles Erbe bezieht“.(7/1) Für die „Erste Partei“ beziehen sich diese Begriffe nicht nur auf Land und Leute im heutigen Nord-Griechenland, sondern auch „auf die hellenische Zivilisation, Geschichte, Kultur und Erbe dieser Region von der Antike bis in die Gegenwart“ (7/2). Für die „Zweite Partei“ hingegen beziehen sich dieselben Begriffe auf  ihr Territorium und ihre Sprache und Menschen mit „ihrer eigenen Geschichte, Kultur und Traditionen“, die von denen der „Ersten Partei „deutlich“ (distinctively)  unterschieden seien (7/3).

Eine distinkte Klarstellung wird auch für die „mazedonische Sprache“ vorgenommen, insofern die “Zweite Partei“ bestätigt, dass  „ihre offizielle Sprache, die mazedonische Sprache, der Gruppe der südslawischen Sprachen angehört“ (7/4).  Zudem versichert die (nord)mazedonische Seite, „dass die offizielle Sprache und andere Attribute der Zweiten Partei keinen Bezug zu der antiken Hellenischen Zivilisation, Geschichte, Kultur und Erbe der nördlichen Region der Ersten Partei haben”.

Mit diesem Satz verzichtet das künftige Nord-Mazedonien explizit auf das angemaßte „antike Erbe“. Tsipras und Außenminister Kotzias haben gerade diese Formulierung als großen “Erfolg” der griechischen Seite hervorgehoben, um den Chauvinisten im eigenen Lande eines ihrer zentralen Argumente zu entwenden. Aber die Bedeutung dieses Artikels 7 ist viel allgemeiner und weitreichender: Damit erkennen beide Seiten an, dass es unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs „mazedonisch“ gibt, und dass sie die Lesart der anderen Seite künftig tolerieren und akzeptieren müssen.

Skopje verzichtet auf den antiken Kitsch

Was den Bezug zur Antike betrifft, so ist es für das internationalen Ansehen der Mazedonier nur förderlich, wenn der Mummenschanz ein Ende findet, den die Nationalisten in Skopje mit ihrer antikisierenden Namenspolitik und der Errichtung Disneyland-artiger Monumente betrieben haben. Das versucht Außenminister Dimitrov seinen Landsleuten klarzumachen, indem er den Verzicht auf eine Mythologie als wichtigen Fortschritt darstellt: „In der Vergangenheit haben wir die Realität der Mythologie geopfert. Jetzt opfern wir die Myhtologie der Realität, und die Realität ist das, auf was es wirklich ankommt.“ (zitiert nach The Guardian vom 10. September 2018.)

In Artikel 8/2 verpflichtet sich die „Zweite Partei“ sogar, eine Bestandsaufnahme der „Denkmäler, öffentlichen Gebäude und Infrastrukturen“ auf ihrem Territorium vorzunehmen, um „angemessene korrigierende Maßnahmen“ einzuleiten, die den „Respekt“  für das antike griechische Erbe sicherstellen. Dabei soll ein gemeinsamer Ausschuss von Archäologen, Historikern und Pädagogen „eine objektive, wissenschaftliche Interpretation der geschichtlichen Ereignisse“ erarbeiten.

Daraus soll sich eine Zusammenarbeit entwickeln, an deren Ende auch eine Revision der Schulbücher stehen könnte, und zwar im Sinne der „Prinzipien und Ziele der UNESCO und des Europarats“.(Art.8/5.) Es sind solche Bestimmungen, die den „versöhnenden“ Charakter des Dokuments ausmachen und zu den „friedlichen und gutnachbarschaftlicher Beziehungen“ Art.8/6) beitragen können, zu denen sich beide Seiten ausdrücklich bekennen.

Kampf gegen Chauvinismus und feindselige Propaganda

Ob und wann die Schulbücher umgeschrieben werden, wird davon abhängen, ob es gelingt, die feindseligen Wahrnehmungen auf beiden Seiten abzubauen. Deshalb ist es bemerkenswert, dass sich die Regierungen in Athen und Skopje in Artikel 6 verpflichten, „feindselige Aktivitäten und Propaganda durch Staatsorgane oder staatlich kontrollierte Agenturen zu unterbinden“ und gegen Aktivitäten einzuschreiten, „die geeignet sind, Chauvinismus, Feindschaft, Irredentismus oder Revisionismus gegenüber der anderen Seite anzuheizen“.(Art.6/1)

In diesem Sinne müssen beide Seiten, „effektive Maßnahmen“ gegen private Gruppen ergreifen, um diese von Gewaltakten, Hass oder Feindschaft gegen die andere Seite abzuhalten oder solche Akte zu verhindern.(6/ 2) Das gilt auch (nach 6/3) für die „Propaganda“ privater Gruppen oder Verbände, die darauf angelegt ist, „Chauvinismus, Feindseligkeit, Irredentismus oder Revisionismus“ zu schüren.

Solche guten Vorsätze werden allerdings schwer umzusetzen sein. Nimmt man die Formulierungen wörtlich, müssten die griechischen Behörden nach Inkrafttreten des Abkommens bei fast jeder Kundgebung einschreiten, auf der griechische „Mazedonienkämpfer“ in Wort und Schrift ein chauvinistisches Feindbild und irredentistische oder „revisionistische“ Forderungen verbreiten.

Was das bedeuten würde, kann man am Beispiel der Kundgebung vom 14. Januar 2018 in Thessaloniki zeigen. Damals demonstrierten mehrere Chrysi-Avgi-Abgeordnete mit dem Plakat „Skopia =Monkey-donia“. Derselbe Spruch, der zweifellos „feindselig“ gemeint ist, war bei der Kundgebung vor dem Athener Parlament am 16. Juni 2018 zu sehen. Und bei all diesen „Volksversammlungen“ des Jahres 2018, brüllten die Neonazis die Parole: „Gebt uns Waffen – für den Marsch auf Skopje“. (14)

Irredentismus auf griechisch

Bei solcher Begleitmusik ist es von hoher Ironie, dass prominente griechische Mazedonienkämpfer sich immer wieder über die „irredentistischen Neigungen der Skopianiten“ ereifern. Bei der Athener Kundgebung im Februar fiel diese Rolle dem legendären Mikis Theodorakis zu (siehe meinen Blogtext vom 16. Februar 2018). Nach dem „linken Patrioten“ trat auf demselben Podium der ehemalige Abt des Athos-Klosters Esfigmenou ans Mikrofon. Dieser Mönch namens Methodios rief in die Menge:

 „Nicht nur, das wir den Namen Makedonien nicht weggeben, wir fordern auch alle unsere verlorenen Gebiete zurück, unsere noch unbefreiten Gebiete. Wir fordern den ganzen Pontos, Kleinasien, Sofia, Monastiri, Gevgeli. Wir fordern alle Gebiete, die sie uns genommen haben. Und die fordern wir, weil alle griechisch sind, und niemand das Recht hat, Griechenland all das wegzunehmen.  Und dann eine letzte Forderung. Lasst uns hier alle schwören. Wir fordern unsere Ayia Sophia.“ (15)

 Wer mit dem griechischen Chauvinismus nicht vertraut ist, kann die anachronistische Geographie des Methodios nicht kapieren. In die Gegenwart übersetzt beziehen sich dessen großgriechische Phantasien auf die Schwarzmeerregion im Nordosten der Türkei (die Heimat der 1923 vertriebenen bzw. zwangsdeportierten Pontosgriechen), auf die westliche Türkei, auf Teile Bulgariens, auf die nord-mazedonischen Städte Bitola (Monastiri) und Gevgelij, und nicht zuletzt auf Istanbul. Denn mit der Rückeroberung der Ayia Sophia propagiert der verrückte Mönch nichts Anderes als die Wiederauferstehung des 1453 untergegangenen Byzantinischen Reichs.

Religiöse Fanatiker und nationalistische Spinner gibt es überall, aber nicht überall verschafft man ihnen ein Publikum von hunderttausend Patrioten. Die applaudierten in Athen einem christlichen Dschihadisten, der selbst von den meisten streng orthodoxen Athos-Mönchen als „Zelot“ ausgegrenzt wird. (16) Wenn ein solcher Eiferer auf einer nationalen Kundgebung sprechen kann, stellt sich die Frage, wer den Mann aufs Podium gebracht hat. Das wird man zwar nie klären können, aber interessanterweise gibt es einen  prominenten Politiker, der diesen geistig  im Mittelalter zurückgebliebenen Mönch als seinen „spirituellen Vater“ bezeichnet: Panos Kammenos, Parteiführer der Anel und bis heute Verteidigungsminister in der Regierung Alexis Tsipras.

Dazu wird unten mehr zu sagen sein. In jedem Fall hat sich bei den Mazedonien-Kundgebungen gezeigt, wie durchlässig die Grenze im nationalen Lager gegenüber Extremisten ist. Und wie nachsichtig selbsternannte griechische „Patrioten“ solche Leute als Mitstreiter tolerieren. Diese Nachsicht hat einen Grund: Die Gemäßigten haben dasselbe Feindbild wie die Extremisten. Die Feinde sind die „Anderen“, die Skopianiten oder Monkey-donier, denen sie verweigern, was sie selbst als ihr höchstes Gut - als ihre „Seele“- definieren: eine tief empfundene Identität. Den „anderen Mazedoniern“ wird diese „Seele“ schlichtweg abgesprochen.

Die Monkey-donians sprechen skopianitisch

Die Anmaßung des Monopols auf mazedonische Identität  äußert sich am klarsten in dem Vorwurf an die eigene Regierung, das  Prespa-Abkommen gewähre den Skopianiten die „Erlaubnis“, sich Mazedonier und ihre Sprache mazedonisch zu nennen. Der Vorwurf impliziert, dass Griechenland über das Copyright für diese Begriffe verfüge. Das hat am klarsten der Mazedonien-Kämpfer Theodorakis formuliert: „Die historische Legitimierung für den Namen ‚Mazedonien‘ könnten nur wir, die Griechen erteilen.“ (17) Damit wird dem Nachbarvolk das Recht auf Selbstbenennung bestritten, also ein im Völkerrecht verankerter  Anspruch.

Aber welche Antwort haben die griechischen Mazedonienkämpfer auf die Frage, wie sich die slawophonen Bürger des Nachbarlandes nennen sollen, wenn sie Monkey-donians nicht als zumutbare  Option betrachten? In Griechenland ist die Meinung weit verbreitet, dass die nördlichen Mazedonier „eigentlich“ Bulgaren seien. Damit wird implizit ein bulgarischer „ Irredentismus“ auf Kosten Mazedoniens begünstigt, der selbst in Bulgarien anachronistisch geworden ist. Denn Sofia hat die mazedonische Sprache und Identität mit der am 2. August 2017 unterzeichneten bulgarisch-mazedonischen „Vereinbarung über gutnachbarliche Beziehungen“ offiziell anerkannt. (18)

Und was antworten die griechischen Mazedonienkämpfer, wenn sie nach der Sprache ihrer nördlichen Nachbarn gefragt werden? Da in ihren Augen die antiken Mazedonier auch deshalb Griechen waren, weil sie griechisch sprachen (was als gesichert nur für die gebildete Elite gilt), können sie schlecht behaupten, die Bezeichnung „mazedonische Sprache“ sei gestohlen. Angesichts dieses Dilemmas versteigen sie sich in bizarre Vorschläge: So vertritt der ND-Abgeordnete Kostas Tzavaras die Ansicht, die Sprache der Skopianiten sei natürlich die „skopianitische“. (EfSyn vom 18. Juni 2018).

 

Mazedoniens Ministerpräsident Zaev während einer Pressekonferenz im November 2018. © REUTERS/Stoyan Nenov

 

Das Prespa-Abkommen im Parlament von Skopje

Die Überwindung der Feindbilder ist ein mühsamer Prozess – auf beiden Seiten. Dabei kann das Prespa-Abkommen nur die erste Etappe auf einem weiten und komplizierten Weg sein, dessen Etappen in Artikel 1, Absatz 4 der Vereinbarung festgelegt wurden.

Der erste Schritt erfolgte zunächst in Skopje, wo das Parlament am 20. Juni mit absoluter Mehrheit ratifiziert hat. Aber auf dem Weg zur Verabschiedung der nötigen Verfassungsänderungen geriet der Prozess ins Stocken. Die Volksbefragung vom 3. September wurde zu einem Rückschlag für die Regierung Zaev, die sich mit dem Referendum eine plebiszitäre Legitimation gegenüber dem Parlament verschaffen wollte. Deshalb war die Frage so formuliert, dass sie auf ein Plebiszit über die Beitrittsperspektive zur Nato und zur Europäischen Union hinauslief: „Sind Sie für die Mitgliedschaft in der EU und der NATO, indem Sie dem Abkommen zwischen der Republik Mazedonien und der Republik Griechenland zustimmen?“ Diese Frage wurde von mehr als 90 Prozent der Referendums-Teilnehmer bejaht. Aber die machten lediglich 36,9 Prozent der Wahlberechtigten aus, womit das erforderliche Quorum von 50 Prozent klar verfehlt wurde.

Damit war die Rechnung der Opposition aufgegangen. Die nationalistische Partei VMRO-DPMNE und der ihr nahestehende Staatspräsident Ivanov hatten die Gegner des Abkommens zu Boykott des Referendums aufgerufen. Ausschlaggebend für das Verfehlen des Quorums war allerdings ein anderer Grund: Das mazedonische Wählerregister ist veraltet und enthält noch die Namen von Bürgern, die längst ausgewandert oder auch verstorben sind. Nach Ansicht von Experten liegt die Zahl der in Mazedonien lebenden Wahlberechtigten mit 1,2 Millionen um 50 Prozent niedriger als die 1,8  Millionen registrierten Wähler. Bezogen auf die realen Wähler hätte die Zahl von 666 Tausend Referendum-Stimmen die 50-Prozent-Grenze also klar übertroffen. (19)

Da das Referendum ohnehin keine bindende Wirkung hat, ging die politische Auseinandersetzung im Parlament weiter, wo die notwendigen Verfassungsänderungen eine 2/3-Mehrheit der Abgeordneten erfordert. Da die Koalition der Befürworter (Zaevs Partei SDSM und die drei Parteien der Albaner) die nötigen 80 Stimmen nicht allein aufbringen konnte, brauchte sie mindestens 8 Stimmen aus dem oppositionellen Lager. Die konnte sie am Ende für sich „gewinnen“, was sicher nicht ohne materiellen Anreize oder Drohungen möglich war, wie Kenner des Landes vermuten. (20) Diese Abstimmung war aber nur der erste Test. Die mit Athen vereinbarte Änderung mehrerer Verfassungsartikel – einschließlich des Staatsnamens – ist eine Prozedur, die sich noch mehrere Wochen hinziehen wird. Die Debatte über die vier vorgesehenen Verfassungsänderungen im Parlament und seinen Ausschüssen soll bis Ende November dauern. Die wichtigsten Punkte betreffen die Einführung des Namens „Republik Nord-Mazedonien“ und ein Umformulierung der Präambel, die griechische Besorgnisse über „irredentistische“ Tendenzen beseitigen soll. (21)

Ein weiterer Stolperstein

Nach griechischen Presseberichten gibt es bei der Athener Regierung auch noch Bedenken über den Artikel 49, in dem es heißt, dass sich der Staat auch um „Angehörige des mazedonischen Volkes in anderen Ländern“ kümmert. Nach Auffassung der Opposition in Skopje bedeutet dieser „Fürsorge“-Auftrag auch, dass man von Griechenland für die dortige slawo-mazedonische Minderheit Schulunterricht in der mazedonischen Sprache einfordern müsse. Daraufhin hat Zaev erläutert, die mit dem Prespa-Abkommen eingegangene Verpflichtung, sich nicht in innere Angelegenheiten Griechenlands einzumischen, gelte auch im Hinblick auf „den Schutz der Rechte von Personen, die nicht unsere Bürger sind“. Zur Sprachenfrage erklärte er explizit: „Wir verstehen und respektieren, dass die Frage, welche Sprachen in Griechenland gelehrt werden, eine innergriechische Angelegenheit ist.“ (Kathimerini vom 4. Dezember).

Inzwischen wurde der Art.49 so umformuliert, dass die Fürsorge für die Diaspora genau so definiert wird, wie in der griechischen Verfassung (Art. 108) die Fürsorge für die Auslandsgriechen. Entscheidend ist dabei, dass in der neuen Fassung „die Rechte“ der Diaspora-Mazedonier nicht mehr erwähnt sind. Diese Änderung wurde von Regierungskreisen in Athen begrüßte, da sie „dem Geist und dem Buchstaben“ des Prespa-Abkommens entspreche (Kathimerini vom 13. Dezember).

Mit dem Verzicht auf das Einklagen von Rechten der winzigen slawophonen Minderheit im griechischen Teil Mazedoniens hat Zaev eine weitere Konzession gemacht. Diese Minderheit ist ein Faktum, das die griechischen Patrioten am liebsten leugnen würden. Doch die Existenz dieser Volksgruppe, deren Mitglieder öffentlich nur selten mazedonisch reden, hat der Menschenrechtsausschuss des Europarats offiziell anerkannt – und die Minderheitenpolitik Griechenlands auch in diesem Punkt kritisiert. (22)

Die Abstimmung über die einzelnen Verfassungsänderungen (mit jeweils absoluter Mehrheit) hat am 1. Dezember stattgefunden. Die Schlussabstimmung über das gesamte Paket, bei der wieder eine 2/3-Mehrheit erforderlich ist, soll am 15. Januar 2019 über die Bühne gehen (EfSyn vom 10. Dezember). Ob die Regierung Zaev am Ende die nötige Zahl von Abgeordneten hinter sich bringen kann, ist aus heutiger Sicht keineswegs sicher.

Wie stehen die Chancen in Athen?

Erst wenn die Verfassungsänderung in Skopje vollzogen ist, steht das Ratifizierungsverfahren im Athener Parlament an (das nach dem Wortlaut des Abkommens „unverzüglich“ beginnen muss). Diese Abfolge der Entscheidungsprozesse ist ungewöhnlich und stellt eine „asymmetrische“ Verteilung der Risiken dar. Tatsächlich muss Skopje sämtliche Verhandlungsziele der Griechen – als da sind der neue Name „ erga omnes“, der Verzicht auf „die Antike“, und die Absage an jeden „Irredentismus“ –  rechtsverbindlich bestätigt haben,  bevor das Prespa-Abkommen vor das griechische Parlament kommt. Diesen Vorteil  hat die Athener Regierung ganz offen als einen wichtigen diplomatischen Erfolg deklariert. (23)

Allerdings ist die für die Ratifizierung erforderliche absolute Mehrheit in der Vouli nicht gesichert, zumal in der Vorwahl-Atmosphäre Anfang nächsten Jahres wahltaktische Erwägungen ins Spiel kommen werden. Dabei kennen Gegner wie Befürworter des Prespa-Abkommens die Volksmeinung, die sich in den Umfragen äußert:  Bis heute wird der Namenskompromiss mit dem nördlichen Nachbarn von 65 bis 70 Prozent des Wahlvolks abgelehnt. Noch bedeutsamer ist, dass zu dieser „Ablehnungsfront“ eine Mehrheit der Anhänger aller großen und mittleren Parteien gehört. (24) Selbst unter den Syriza-Wählern (vom September 2015) sind 45 Prozent gegen die Vereinbarung und nur 31 Prozent dafür. (25) Diese breite Ablehnungsfront besteht zu knapp zwei Dritteln aus Leuten, die die Befürworter des Prespa-Abkommens für Volksverräter halten - das sind immerhin 45 Prozent der Wählerschaft. Der ganz harte Kern von Extremisten (18 Prozent) stimmt gar der Forderung zu, die der Chrysi Avgi-Abgeordnete Barbarousis im Parlament erhoben hat: „Die Armee sollte zur Rettung der Nation intervenieren und den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten und den Verteidigungsminister verhaften“. (26)

Surfen auf der Mazedonien-Welle

Vor diesem Hintergrund sind die Positionen der Parteien zu sehen. Obwohl unklar ist, wie stark  die Mazedonienfrage das Wählerverhalten beeinflusst (27),  surfen die meisten Parteien und Politiker auf der patriotischen Stimmung, die sie selbst mit erzeugt und verstärkt haben.

Das gilt vor allem für die Rechtsparteien ND und Anel, und natürlich für die Neonazis. Aber es gilt auch für die Kinal (ehemals Pasok), die sich in der linken Mitte verortet. Es gilt für Kleinparteien wie die Union der Zentristen, deren Vorsitzender sogar einen Hochverratsprozess gegen Tsipras und Kotzias fordert. Und es gilt auch für die linkspatriotische Gruppierung „Kurs der Freiheit“ der ehemaligen Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou. Ein Sonderfall sind die Kommunisten (KKE) und die Linkspartei des ehemaligen Syriza-Ministers Lafazanis (LAE), die das Prespa-Abkommen ablehnen, weil es dem Nachbarland den Beitritt zur Nato und zur EU ebnen würde.

Anfangs hatte die Athener Ablehnungsfront – einschließlich des Verteidigungsministers Kammenos - noch darauf gesetzt, dass ihre nationalistischen Gegenspieler in Skopje das Projekt scheitern lassen. Inzwischen können sie nicht mehr damit rechnen, dass ihnen die Abstimmung im griechischen Parlament erspart bleibt. Wenn die Ratifizierung in der Vouli ansteht, sieht sich insbesondere die Nea Dimokratia in einem Dilemma. Es war ja die ND-Regierung von Kostas Karamanlis, die 2008 vor der Nato-Tagung von Bukarest einen Namenskompromiss vorgeschlagen hatte. Und das Angebot, das damals von Skopje abgelehnt wurde, stammte von Außenministerin Dora Bakoyanni, der Schwester des heutigen Parteiführers Kyriakos Mitsotakis.

Allerdings hört man in Athen die (plausible) Theorie, dass sich die damalige ND-Regierung konziliant geben konnte, weil in Skopje die nationalistische Regierung Gruevski (VMRO-DPMNE) an Ruder war, die den Kompromiss ohnehin ablehnte. Zehn Jahre später wurde das Prespa-Abkommen nur durch die glückliche Koinzidenz möglich, dass in Athen wie in Skopje die Außenpolitik von Nicht-Nationalisten gemacht wird.

 

Oppositionsführer Mitsotakis nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Nea Dimokratia im Januar 2016. © dpa

 

Der Staatsmann Mitsotakis dankt ab

Die ND stand damit vor der Frage, ob sie ihre Position von 2008 bestätigen oder aufkündigen will. Für Parteichef Mitsotakis bedeutete dies die Entscheidung zwischen der Rolle des Staatsmanns und der des Wahlkämpfers. Als die griechischen Mazedonien-Fanatiker letzten Winter gegen die Regierung mobil machten, zögerte der Parteivorsitzende noch, seine Gefolgschaft zur Teilnahme an den Kundgebungen aufzufordern. Erst als in Thessaloniki mehr als 100 000 Menschen gegen das Prespa-Abkommen demonstrierten und eine Kohorte von ND-Lokalpolitiker aus ganz Nordgriechenland mitmarschierte, gab er dem Drängen des rechten Parteiflügels nach. Die  zweite Großkundgebung in Athen wurde von Mitsotakis und der Parteispitze offiziell unterstützt (siehe meinen Blog-Text vom Febr. 2018).

Damit hat sich Kyriakos Mitsotakis zur Geisel des rechten Parteiflügels gemacht, der in der Mazedonienfrage nach dem Grundsatz agiert, dass rechts von der ND nur noch die Wand sein darf (die Parallele zu der alten Strauße-Doktrin und der Taktik der CSU in der Flüchtlingsfrage ist keine zufällige). Die starken Männer dieses Flügels sind der Parteivize Adonis Georgiades und sein Mitstreiter Makis Voridis, die der ND 2012 aus dem rechtsradikalen Lager zugelaufen sind. Beide gehörten zu der ultrarechten Partei Laos („Orthodoxe Volksbewegung“). Zwar haben  ihre früheren, offen antisemitischen Überzeugungen glaubwürdig abgeschworen, aber in Fragen wie Mazedonien sind sie die alten Chauvinisten geblieben.

Zur harten Mazedonien-Fraktion gehört auch Antonios Samaras, der bis Januar 2015 Ministerpräsident einer ND-Regierung war. Er hat bereits 1992 als Außenminister der Regierung von Konstantinos Mitsotakis (Vater des heutigen ND-Vorsitzenden) alles getan, um den von der EU eingefädelten Namenskompromiss scheitern zu lassen. Damals wollte der ehrgeizige Aufsteiger mit der Mazedonien-Masche an seiner persönlichen Karriere stricken, wurde dann aber von seinem Regierungschef Mitsotakis entlassen. Nach dem Prespa-Abkommen hat Samaras wiederholt erklärt, er würde sich heute wieder genauso verhalten wie vor 26 Jahren. (28)

Die junge Generation und die Mazedonienfrage

Der nationalistische ND-Flügel hat sich durchgesetzt, weil er auf die Volksstimmung – und die demoskopischen Umfragen – verweisen konnte. Damit vermochte er auch Mitsotakis, der seit Mitte 2017 unablässig auf vorgezogene Neuwahlen drängt, auf die harte Mazedonienlinie festzunageln. Aber natürlich liegt die Hauptverantwortung dafür, dass sich die konservative ND „in Richtung eines rechtsradikalen Nationalismus“ entwickelt hat, bei dem Parteivorsitzenden. Der hätte durchaus verhindern können, dass die ND heute eine Partei „nach dem Wunschbild von Samaras, Georgiadis und Voridis“ darstellt, wie es die EfSyn ausdrückt. (29) Aber er hat sich auf die nationalistische Woge gesetzt und lässt sich von ihr mitreißen.

Vor wenigen Tagen hat Mitsotakis in einer Parlamentsdebatte der Regierung direkt vorgeworfen, sie habe sich mit dem nationalen Ausverkauf von Prespa ein wichtiges Zugeständnis der Euro-Länder eingehandelt: „Ihr habt für das Skopje-Abkommen die Minderung der Renten eingetauscht.“ (EfSyn vom 11. Dezember 2018). Der Vorwurf bezieht sich auf die Tatsache, dass die Eurogroup am 3. Dezember der griechischen Regierung erlaubt hat, die eigentlich verabredeten Rentenkürzungen (ab Januar 2019) nicht vorzunehmen (der Hintergrund dieser überraschenden Konzession wird am Ende dieses Textes dargestellt). Den Vorwurf eines schäbigen „Tauschgeschäfts“ mit den EU-Partnern in Sachen Mazedonien hatte bis dahin nur die griechischen Neonazis erhoben.

Die wahltaktische Radikalisierung der ND hat langfristige Konsequenzen, die sich heute schon abzeichnen. Und zwar nicht nur weil  die Partei in eine Mazedonien-Hysterie investiert, von der am Ende die harten Chauvinisten und den Neo-Nazis profitieren können. Sondern auch, weil diese Hysterie an die junge Generation weitergegeben wird.

Noch vor einem Jahre beruhigten sich griechische und nicht-griechische Beobachter (meine Person eingeschlossen) mit dem Gedanken, dass der Mazedonien-Komplex eine Generationenfrage ist. Man konnte noch, rein psychologisch, Verständnis dafür aufbringen, dass ältere Griechen mit direkten oder indirekten Erinnerungen an den Bürgerkrieg eine „Bedrohung aus dem Norden“ wie eine Art Phantomschmerz empfinden und die Existenz einer slawomazedonischen Minderheit in Griechenland leugnen. Aber man durfte davon ausgehen, dass solche anachronistischen Gefühle auf natürliche Weise absterben.

Tatsächlich zeigen empirische Umfragen über die Mazedonien-Stimmung im Lande, dass die junge Generation andere Sorgen hat. In der  großen Public-Issue-Studie wurde ein Sample der jüngeren Generationen (genauer der Altersgruppe zwischen 17 und 39 Jahren) gefragt: Welche Themen sind für Sie heute am wichtigsten (wobei drei Nennungen möglich waren). Nur 17 Prozent der Befragten nannten „die Entwicklungen in der Skopje-Frage“; und nur 7 Prozent waren es bei den befragten jungen Griechen, die im Ausland leben. Weit an der Spitze lagen die Problembereiche Arbeitsplätze (44 Prozent), Stärkung des Sozialstaats (43 Prozent) und  Korruptionsbekämpfung (36 Prozent).

Schulbesetzungen von rechts

Vor diesem Hintergrund ist es umso fataler, dass die neue Welle ethnozentrischer Mazedonien-Gefühle auch die nächste Generation zu erfassen droht. Ein Alarmzeichen ist die von extremistischen Gruppen initiierte und gesteuerte Kampagne an den griechischen Schulen. Am Ende der letzten Novemberwoche waren in ganz Griechenland mehr als 500 staatliche Schulen von patriotischen Schülerinitiativen besetzt, als Zeichen des Protests gegen das Prespa-Abkommen. Dabei war der Einfluss der Neonazis (Chrysi Avgi und verwandte paramilitärische Gruppen) deutlich spürbar. Das zeigte sich vor allem darin, dass bei den Schülerdemonstrationen nicht nur die üblichen Mazodonien-Parolen auftauchten, sondern auch die Forderung nach der Eroberung des „Nord-Epiros“: der Anschluss des Südteils von Albanien, wo es eine griechische Minderheit gibt, ist eine alte Forderung rechtsradikaler Irredentisten. (30)

Wie zu erwarten, lag in Nordgriechenland die Quote der besetzten Schulen deutlich höher als im Rest des Landes. In der Provinz Zentral-Mazedonien (um Thessaloniki) waren 216 Schulen betroffen (mehr als 30 Prozent), davon 103 allein im Schulbezirk Thessaloniki. Im Bezirk Pella, der besonders stolz auf seine antike mazedonische Vergangenheit ist, waren 25 von 46 Schulen besetzt, also mehr als die Hälfte. (31)

Was diese „Schülerbewegung“ gefährlich macht, ist nicht nur der Einfluss der Neonazis, ablesbar an Parolen wie: „Die Demokratie hat Mazedonien verkauft“ oder „Nordepirus – griechische Erde“. (32) Die meisten Besetzungen waren von nationalistischen Eltern und Lehrern oder von einem „Verband patriotische und orthodoxer Vereine“ angestiftet. Aber dass sich die Bewegung so erfolgreich ausbreiten konnte, lag auch an dem Verständnis, das die ND für diese Bekundungen bekundete.

Zwar kritisierte Parteichef Mitsotakis die Besetzungen und warnte vor einer Radikalisierung der jungen Generation, aber zugleich äußerte er Verständnis für „die Empörung über das Abkommen zur Skopje-Frage“. Die Parteirechte ging einen entscheidenden Schritt weiter. Partei-Vizechef Georgiades würdigte „die patriotische Sensibilität der protestierenden Schüler“; und der Fraktionsvorsitzende Vorides erklärte sogar:  „Jeder Versuch, das Prespa-Abkommen zu verhindern, ist für sich eine patriotische Reaktion im Sinne der Verteidigung der nationalen Identität.“ Derselben Meinung sind offensichtlich die in der ND-Gewerkschaft DAKE organisierten Lehrer. In einer Erklärung zur „Mobilisierung der Schüler für Mazedonien“ vom 28. November begrüßte der konservative Lehrerverband das „nationale Erwachen“ der Schüler mit den Worten: „Das Bekunden patriotischer Beunruhigung ist die selbstverständliche Pflicht jedes Griechen.“ Die Kritik der ND-Lehrer richtete sich stattdessen gegen die „nationalen Nihilisten“ in der Regierung, speziell im Erziehungsministerium und deren Versuche, „patriotischen Kundgebungen moralisch zu diskreditieren“.

 

Jugendliche bei Protesten gegen den Mazedonien-Kompromiss am 29. November 2018 in Thessaloniki. © AP/Giannis Papanikos

 

Das Versagen des liberalen ND-Flügels

Wenn die Nea Dimokratia unter Anleitung ihres rechten Flügels keine Skrupel zeigt, das Schlangenei der Neonazis zu bebrüten, stellt sich die Frage, warum der liberale Parteiflügel keinen Widerstand geleistet hat. Deren Vertreter standen vor der Alternative, der nationalistischen Stimmung nachzugeben oder argumentativ gegen sie anzugehen. Zur zweiten Option fehlte ihr der Mut zu dem Risiko, einen Parlamentssitz oder einen Bürgermeisterposten zu verlieren.

Das gilt vornehmlich für die Abgeordneten aus Nordgriechenland. Ein moderater ND-Parlamentarier aus Thessaloniki hat dem Kathimerini-Journalisten Tom Ellis „mit leichtem Schuldbewusstein“ gestanden: „So wie die Dinge sich entwickelt haben, konnte ich mich leider nicht anders äußern, denn das wäre auf politischen Selbstmord hinausgelaufen.“ (Kathimerini vom 27. November 2018). Und eine Athener Kollegin berichtet, dass ihr gegenüber mehrere liberale ND-Repräsentanten eingeräumt haben, die Mazedonien-Kampagne diene keinem anderen Zweck  als der Jagd nach Wählerstimmen – und nach der absoluten Parlamentsmehrheit.

Nun ist die ND nicht die einzige Partei auf dieser Welt, die alles tut, um Wahlen zu gewinnen. Aber der extreme Wähleropportunismus hat in diesem Fall eine Kehrseite: Der Ruf von Mitsotakis bei seinen europäischen Partnern im konservativen Lager ist ramponiert, wenn nicht ruiniert. Als der „junge Mitsotakis“ Anfang 2016 die Parteiführung als liberaler Hoffnungsträger übernahm, war ihm die Rolle des Anti-Tsipras zugedacht. Drei Jahre später sieht er wegen seiner nationalistischen Regression in Sachen Mazedonien bereits ziemlich alt aus: wie einer, der Griechenland in die Ära der Balkankriege der frühen 1990er-Jahre zurückführt.

Mit zwei Zungen sprechen ist auch keine Lösung

Mehr noch: auf europäischer Ebene verspielt Mitsotakis seine Glaubwürdigkeit durch eine Doppelzüngigkeit, die ihn noch unseriöser aussehen lässt. Während er zu Hause den strammen Mazedonien-Kämpfer gibt, versichert er seinen konservativen EU-Kollegen, im Grunde sei auch er für einen Kompromiss mit Skopje. Dazu muss man wissen, dass die Partner der ND  in der konservativen EVP-Fraktion des Europäischen Parlaments das Prespa-Abkommen einhellig begrüßt haben. (33) Und so bittet derselbe Mensch, der in Griechenland gegen den „nationalen Ausverkauf“ von Tsipras und Kotzias wettert, seine Gesprächspartner in Berlin, man möge seine Opposition gegen das Prespa-Abkommen nicht so ernst nehmen.

Dieses Doppelspiel hat der Athener FAZ-Korrespondent Michael Martens unter Berufung auf Berliner Quellen aufgedeckt. Demnach hat Mitsotakis seinen deutschen Gesprächspartnern „mehrfach“ versichert, „er werde eine Einigung im Namensstreit als Ministerpräsident nicht rückgängig machen“. Allerdings müsse er „Gegnerschaft demonstrieren, um den rechten Flügel seiner Partei nicht zu verlieren und eine Parteineugründung rechts von ihr zu verhindern.“ (FAZ vom 20. Juni 2018, http://www.faz.net/aktuell/politik/der-griechische-oppositionsfuehrer-mitsotakis-befindet-sich-in-einem-dilemma-15650397.html).

Auf diesen Bericht reagierte die ND-Pressestelle mit dem wütenden Dementi: Was Martens behauptet, sei „vom ersten bis zum letzten Wort unwahr“. Dabei bediente sie sich des alten Tricks, etwas zu bestreiten, was gar nicht gesagt wurde. Indem die ND „klarstellte“, dass die Fraktion  im Parlament natürlich gegen die Ratifizierung des Prespa-Abkommen stimmen werde, drückte sie sich um die von Martens aufgeworfene Frage, ob eine künftige Regierung Mitsotakis das Abkommen kündigen würde. Dass könnte sie nämlich ohne weiteres tun, aber offensichtlich hat Mitsotakis in Berlin und anderswo zugesagt, dass er eine ratifizierte Prespa-Vereinbarung respektieren würde. (34) Mitsotakis hat sogar, nach Recherchen von Martens, über eine Vertraute (die Europa-Abgeordnete Maria Spyraki) die Regierung in Skopje „jenseits der Öffentlichkeit“ über seine „schwierige Lage“ informiert (FAZ vom 30. September 2018). Aber all das muss er seinen Wählern natürlich verschweigen.

Nun gibt es doppelzüngige Politiker nicht nur in Griechenland, und nicht nur im konservativen Lager. Bedenklicher ist deshalb eine andere Facette im Verhalten des ND-Führers, die im Ausland kaum registriert wurde: Einen Tag nach der Unterzeichnung des Prespa-Abkommens wurde Mitsotakis beim griechischen Präsidenten Pavlopoulos vorstellig und wollte ihn dazu bringen, seine Unterschrift unter das Dokument vorerst zu verweigern. Das aber wäre ein verfassungswidriger Akt gewesen: Das Recht auf Unterschriftenverweigerung steht dem Staatsoberhaupt gar nicht zu; für die griechische Außenpolitik ist allein die Regierung verantwortlich. Der Verfassungsrechtler Pavlopoulos ließ Mitsotakis denn auch kühl abblitzen. (35)

Kammenos - Mazedonienkämpfer gegen die eigene Regierung

Dass die Opposition der Regierung das Leben schwer machen will, ist in einer parlamentarischen Demokratie der Normalfall. Weit ungewöhnlicher (aus deutscher Sicht allerdings vertraut) ist der Fall, dass ein Koalitionspartner die Politik der eigenen Regierung torpediert. So gesehen haben Tsipras und die Syriza im Vergleich mit Mitsotakis und der Nea Dimokratia das größere Problem.

Unter europäischen Linken fragt man sich seit dem Syriza-Wahlsieg vom Januar 2015, wie es überhaupt zu der seltsamen Ehe zwischen Tsipras und dem Rechtspopulisten Kammenos kommen konnte. Die nachsichtige Erklärung lautet: Als die Linkspartei bei ihrem ersten Sieg die absolute Mehrheit knapp verfehlte, war die Anel als einziger Koalitionspartner im Angebot. (36) Tatsächlich waren die plausibleren Bündnispartner – die damalige Pasok und die neue liberale  Kraft namens Potami – im Januar 2015 nicht bereit, sich mit Tsipras und der  Syriza einzulassen. Aber Kammenos und seine „Unabhängigen Hellenen“ waren auch die bequemsten Partner, weil sich der „Ehevertrag“ auf die gemeinsame Ablehnung der Memoranden und der Troika beschränken konnte.

Das einzige Argument, mit dem Tsipras damals seine krass realpolitische Entscheidung begründet hat, war in der Tat diese Gemeinsamkeit. (37) Die war allerdings schon nach sechs Monaten aufgebraucht, als die Koalition ihr erklärtes Ziel krachend verfehlte: Statt die Memorandums-Ära zu beenden, sah sich die Regierung Tsipras/Kammenos gezwungen, ein neues Sparprogramm zu beantragen. Dennoch haben die beiden Partner ihre Koalition nach den Wahlen vom 20. September 2015 erneuert. Bei dem zweiten Urnengang, den Tsipras gewollt hat, um sein Mandat unter den neuen Bedingungen zu erneuern, behauptete sich die Syriza klar als stärkste Partei. Aber die absolute Parlamentsmehrheit verfehlte sie erneut und noch deutlicher als bei den Januar-Wahlen.

Gab es für Tsipras eine Bündnis-Alternative?

Im September 2015 wäre vielleicht ein anderes Bündnis möglich gewesen. Aber Tsipras erneuerte umgehend - und ohne die Alternativen zu sondieren - die unheilige Allianz mit Kammenos. Die Parlamentsmehrheit der Syriza-Anel-Koalition war jedoch geschrumpft, und zwar von 162 auf 155 Sitze, davon 145 für die Syriza und 10 für die Anel. Diese verknappte Mehrheit verschaffte Kammenos, obwohl er fast 30 Prozent seiner Wähler verloren hatte, ein noch größeres Druckpotential gegenüber seinem Koalitionspartner.

Angesichts des Scheiterns des gemeinsamen Anti-Memorandums-Programms bestand die Gemeinsamkeit der ungleichen Partner nur noch in dem Bemühen, größere Konflikte zu vermeiden. Daraus entwickelte sich eine routinemäßige Arbeitsteilung, bei der die Syriza – sprich Finanzminister Tsakalotos – freie Hand in den schwierigen Verhandlungen mit der Troika hatte, während Kammenos mit stolzgeschwellter Brust den Verteidigungsminister geben durfte.

Es gab ein einziges Feld, auf dem die beiden Parteien sich potentiell  in die Quere kommen konnten; das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Tsipras konnte diesen Konfliktherd lange Zeit einhegen, indem er ein gutes persönliches Verhältnis zum Oberhaupt der orthodoxen Kirche entwickelte. Was nur möglich war, weil Erzbischof Ieronymos ein gemäßigter, sozial engagierter und in nationalen Fragen unaufgeregter Kirchenmann ist.

Ein Mann der Kirche in einer linken Regierung

Andererseits hat Kammenos sehr früh klargemacht, dass an dieser Front mit ihm nicht zu spaßen ist. Das hat er bei einer Machtprobe demonstriert, die mit dem Rücktritt des Ministers für Erziehung und religiöse Angelegenheiten endete. Der linke Syriza-Politiker Nikos Filis plante eine Reform des Religionsunterrichts, die von der orthodoxen Kirche heftig bekämpft wurde (zum Thema Kirche und Staat siehe auch meinen Blog-Text vom Januar 2017). Daraufhin forderte die Spitze der orthodoxen Kirche den Rücktritt des unorthodoxen Bildungsministers – unterstützt von  Kammenos. Der Verteidigungsminister agierte in diesem Fall wie der verlängerte Arm der Kirche innerhalb der Regierung. Wie Erzbischof Ieronymos in einem Fernsehinterview ausplauderte, hat Kammenos ihm damals versichert: „Wenn Sie, Herr Erzbischof, mich dazu auffordern, lasse ich morgen die Regierung platzen.“ Was allerdings nicht nötig wurde, weil Tsipras der Rücktrittsforderung nachkam und  Filis als Bildungsminister ablöste. (38) Während der linke Syriza-Flügel über die Anmaßungen von Kammenos murrte, wurde dieser immer selbstbewusster. Der Verteidigungsminister spielte sich mehrfach als Neben-Außenminister auf, indem er sich ungefragt zu allen möglichen internationalen Fragen äußerte. Und es gibt kaum ein Problem, zu dem der Anel-Vorsitzende nicht eine eigenwillige Meinung hätte.

Ein Mann mit zu vielen Meinungen

Kammenos ist ein Dampfplauderer, der fast täglich unsortierte Ideen absondert, die sich häufig schon beim Aussprechen ad absurdum führen. Wenn man ihn hört und die Augen schließt, fühlt man sich in ein griechisches Dorfkafenion versetzt, in dem jeder alles Mögliche und auch das Gegenteil behaupten kann. Was die „internationalen Beziehungen“ des Landes betrifft, so hat Kammenos in den letzten vier Jahren unter anderem folgende Visionen formuliert:

- Griechenland müsse trotz seiner Nato-Mitgliedschaft stets ein spezielles Verhältnis zu den (christlich-)orthodoxen Staate und insbesondere zu seinem „Verbündeten“ Russland pflegen;

- Die Regierung Tsipras solle das griechische Eisenbahnnetz an die Chinesen verkaufen;

- Um das griechische Schuldenproblem zu lösen, solle Griechenland den USA und/oder Russland die Rechte auf Ausbeutung aller nationalen (noch gar nicht entdeckten) Öl- und Gasvorkommen für eine Pauschalsumme verkaufen;

- Griechenland solle steuerlich begünstigte „Sonderwirtschaftszonen“ speziell für ausländische Rüstungsunternehmen schaffen und alle drei Rüstungsgiganten USA, Russland und China auffordern, in diesen Zonen zu investieren;

- Um Druck auf die EU zu machen, solle Athen die in Griechenland ankommenden Migranten mit Papieren ausstatten und in Richtung Mitteleuropa weiterschicken (und wenn darunter Dschihadisten sind, geschehe das den Europäern recht);

- Athen müsse von der EU fordern, die Einnahmeverluste zu kompensieren, die man durch das Ausbleiben der russischen Touristen erlitten habe (infolge des Embargos nach der Krim-Krise).

Weitere Beispiele und Details habe ich in einem Text dargestellt, der am 18. März 2015 auf den NachdenkSeiten erschienen ist. Hier wird auch deutlich, wie Kammenos mit Behauptungen und Zahlen operiert, die selbst ohne Detailkenntnisse sofort als Unwahrheit zu erkennen sind. (39) Dabei lügt Kammenos keineswegs im Wortsinne. Ein Lügner weiß, dass er die Unwahrheit spricht; zudem setzt erfolgreiches Lügen eine gewisse Raffinesse voraus, die Kammenos völlig abgeht. Der griechische Verteidigungsminister gehört zu den Politikern, die sich Argumente und Fakten zurechtbiegen, bis sie zur vorgefassten Meinung passen. Und die dann von ihren eigenen Behauptungen, jedenfalls  im Moment des Aussprechens, vollkommen überzeugt sind.

Kirche, Nation und Militär

Wie konnte und kann die Regierung Tsipras einen solchen Verteidigungsminister verkraften, der unter seinen Kollegen - zumindest in Europa - ein Unikum ist? (40) Zum einen beruhigte sich die Syriza-Spitze mit dem Argument, so lange der Mann nur redet, richtet er keinen Schaden an. Zum anderen war und ist Kammenos auch nützlich: Der gestandene Nationalist ersparte der Regierung den Test, wie das Militär auf einen „linken“ Verteidigungsminister reagiert hätte. Deshalb hat Tsipras auch hingenommen, dass sein Koalitionspartner die traditionell engen Bande zwischen Kirche und Militär noch fester geknüpft hat.

Für alle griechischen Patrioten (und wer würde sich in Griechenland als unpatriotisch deklarieren?) sind die orthodoxe Kirche und das Militär die wichtigsten Äußerungsformen der Nation und zugleich die Garanten des nationalen Überlebens. Es ist kein Zufall dass beide auch zu Zeiten der aktuellen Krise zu den Institutionen gehören, die bei Umfragen das größte Vertrauen der Befragten genießen. (41)

Die „zeitlose Verbindung zwischen Hellenentum und Orthodoxie“ – wie sie nicht nur Kammenos beschwört - manifestiert sich etwa bei den großen orthodoxen Kirchenfesten (wie den Oster-Prozessionen), bei denen das Militär sehr sichtbar mitwirkt. Umgekehrt findet keine Militärparade, kein Manöver, keine Indienstellung eines Flugzeugs oder eines Kriegsschiffs ohne die Präsenz und den Segen des örtlichen Bischofs statt; dasselbe gilt für die Vereidigung von Offizieren und Rekruten.

Warum das griechische Militär unschlagbar ist

Kammenos hat diese Tradition, die seit Gründung des neugriechischen Staates offiziell institutionalisiert ist,  inbrünstig gepflegt, aber auch vergröbert. Am 5. Juni 2018 erstieg er mit einer denkwürdigen Zeremonie auf der Ägäis-Insel Psará eine neue Stufe der patriotisch-religiösen Synthese. Der Verteidigungsminister besuchte die winzige Insel bei Chios, deren Kapitäne vor knapp 200 Jahren einen entscheidenden Beitrag zum Befreiungskampf gegen die Osmanen geleistet haben. Als Zugabe hatte er drei nationalen Reliquien dabei: die einbalsamierten Herzen der Admirale Kanaris und Miaoulis und die Knochen der Kapitänin Bouboulina, in zwei Messing-Amphoren und in einer Holzkiste. Die physisch-metaphysische Anwesenheit der Protagonisten des  Aufstands von 1821 inspirierte Kammenos zu einer Ansprache, die als typisches Beispiel seiner Pathetik zitiert werden muss.

„Die Anwesenheit des Herzens von Miaoulis, der Seele von Kanaris und der Kraft der Bouboulina macht uns alle stumm. Stumm unter dem Gewicht dieser ungeheuren Konzentration der Macht. Denn dies ist die Macht der Nation. Dies ist die Macht nicht der Vergangenheit, sondern die Macht der Gegenwart und des Morgen.“  Diese Kombination sei „unschlagbar“, beschwor der Verteidigungsminister: „Die Vereinigten Streitkräfte beziehen ihre Kraft aus der Liebe des Volkes und dem Segen des orthodoxen Glaubens.“ Die griechischen Streitkräfte seien von niemand zu stoppen, denn ihr Oberbefehl liege bei der Muttergottes als Ypermachos Stratigos der Nation. (42)

Bei diesem Mummenschanz wirkte der griechische Verteidigungsminister wie „ein mittelalterlicher Mönch, der seinen Bauchladen mit Reliquien anpreist“, kommentierte ein Kolumnist der Kathimerini (am 7. Juni 2018). Man könnte aber auch auf den praktischen Nutzen der Reliquien verweisen: Wer auf ein solches Abschreckungspotential unter der Schirmherrschaft der Muttergottes setzen kann, braucht keine neue Kriegsschiffe und andere Waffensysteme.

 

Verteidigungsminister Kammenos, begleitet von der griechischen Marine, auf dem Weg zur Zeremonie auf der Ägäis-Insel Psará am 5. Juni 2018. © Greece Ministry of National Defence

 

Alleingang auf einem Minenfeld

Aber die Sache ist ernster, denn im Überschwang der Gefühle machte Kammenos in Psara eine brisante Ankündigung: „Wir befinden uns in einem Moment unserer nationalen Geschichte, an dem unser Vaterland wächst.  Sehr bald werden unsere Territorialgewässer expandieren,  im  Zuge der Anerkennung der ausschließlichen Wirtschaftszone und der Exploration unserer Rohstoffvorkommen auf dem Meeresboden“.

Diese spontane Erklärung vom 5. Juni ist für Kammenos doppelt typisch. Zum einen handelte es sich um einen Alleingang, denn die „baldige Ausdehnung der Territorialgewässer“ steht keinesfalls auf dem Programm der Regierung. Und das mit guten Gründen: In der Ägäis würde die Expansion von 6 auf 12 Seemeilen, die nach dem internationale Seerecht erlaubt wäre, sofort zu einer ernsten Krise mit der Türkei führen. (43) Das Thema ist also ein Minenfeld. Zum anderen demonstrierte Kammenos abermals seine Unkenntnis  elementarer Sachverhalte. Denn die „Anerkennung“ einer ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ, englisch: EEZ) hätte keinerlei Folgen für die Ausdehnung der griechischen Territorialgewässer. (44) „Wie kann ein Verteidigungsminister die Territorialgewässer und die AWZ verwechseln“, fragte sich der oben zitierte Kathimerini-Kommentator und gab die resignierte Antwort:  Was Wunder, der Mann  bringt ja auch die Geschichte und die Religion durcheinander.

Kammenos bringt Außenminister Kotzias zur Strecke

Dennoch hat Kammenos in dem Bemühen, die Außenpolitik seiner eigenen Regierung zu torpedieren, einen bemerkenswerten Etappensieg errungen. Am 17. Oktober trat Außenminister Nikos Kotzias, der Vater des Prespa-Abkommens, aus Protest gegen die Nebenaußenpolitik seines Ministerkollegen zurück.

Was war geschehen? Kammenos hatte auf einer Dienstreise nach Washington gleich zwei brisante Vorschläge gemacht. Erstens trug er bei seinen Gesprächen im State Department  - mit dem für Europa zuständigen Vize-Außenminister Wess Mitchell - einen Plan B zur „Lösung“ des Mazedonien-Problems vor. Um „die geostrategischen Ziele des Prespa-Abkommens“ zu erreichen, ohne den Namensstreit beizulegen, schlug er ein Verteidigungsbündnis zwischen Griechenland, Skopje, Albanien, Bulgarien und später auch Serbien vor. Damit könnte man die Stabilität des Nachbarstaats garantieren und zugleich den russischen Einfluss auf dem Balkan eindämmen.

Der absurde Plan einer Balkan-Mini-Nato – mit Griechenland als Garantiemacht für Mazedonien - war weder mit Tsipras noch mit Außenminister Kotzias abgesprochen. Dasselbe gilt für eine zweite Offerte, die der griechische Verteidigungsminister seinem US-Kollegen James Mattis machte. Um Griechenland als „strategischen Partner“ der USA aufzuwerten, sollte das Pentagon sein permanentes Militärpotential auf griechischem Boden verstärken, zum Beispiel auf den Militärbasen in Volos, Larissa und Alexandroupolis. (45)

Viele Beobachter in Athen gingen davon aus, dass Kammenos mit dieser Provokation die Geduld seines Regierungschefs überstrapaziert hatte. In einem Kommentar in der Kathimerini (vom 13. Oktober) hieß es:  „In fast jedem anderen Land wäre Verteidigungsminister Panos Kammenos entlassen worden, weil er sich der Regierungspolitik widersetzt und seine eigene Außenpolitik präsentiert...“  In fast jedem anderen Land, aber nicht in Griechenland. Der Regierungschef reagierte lediglich mit dem Hinweis, in Athen gebe es keinen Plan B. Tsipras traute sich nicht einmal, Kammenos zu rügen, obwohl dessen Vorstoß offensichtlich darauf  zielte, den Widerstand der nationalistischen Kräfte in Skopje gegen das Prespa-Abkommen zu unterstützen.

Warum Kotzias zurücktrat

Indem Tsipras seinem Verteidigungsminister solche „Narrenfreiheit“ in wichtigen nationalen Fragen gewährte, desavouierte er seinen Außenminister. Der sah sich von seinem Regierungschef im Stich gelassen und reichte seinen Rücktritt ein. In der entscheidenden Kabinettsitzung, in der er sich über das Verhalten des Verteidigungsministers beklagte, wurde er weder von Tsipras noch von anderen Syriza-Ministern unterstützt. „Die halbe Syriza war gegen mich“, erklärte Kotzias später in einem Rundfunkinterview: Im Kabinett hätten seine Kollegen nicht Kammenos, sondern den Außenminister attackiert. Und Tsipras, der ihn bis dahin immer unterstützt hatte, habe sich „wie Pontius Pilatus verhalten“. (radio news 7/24 vom 13. Oktober)

Kotzias hält Tsipras zurecht ein schweres Versäumnis vor: Wenn ein Minister die Regierungspolitik unterminiere, wie es Kammenos in den USA getan hat, müsse man diese Regierungspolitik offensiv verteidigen. Das sei nicht geschehen. An diesem Punkt setzt der Ex-Außenminister eine generelle Kritik an: Die Regierung hätte das Prespa-Abkommen mittels aufklärender Kampagnen der Bevölkerung vermitteln müssen, vor allem in Nordgriechenland. Davor sei Tsipras zurückgeschreckt, weil er „sich nicht mit dem Regierungspartner anlegen wollte“. (46)

Wie richtig diese Einschätzung von Kotzias ist, zeigen die jüngsten Provokationen von Kammenos. Denn der setzt seinen propagandistischen Feldzug gegen den „Verrat“ von Prespa unvermindert fort - und bewusst in der Rolle des Verteidigungsministers. Bei einem Truppenbesuch an der griechisch-mazedonischen Grenze am 12. Dezember warf er der Regierung in Skopje „rhetorischen Irredentismus“ vor, um im nächsten Moment zu deklamieren. „Es gibt nur ein Mazedonien und das ist griechisch.“ Tags zuvor hatte er im Parlament den Verdacht geäußert, außer dem Text des Prespa-Abkommens gebe es wahrscheinlich noch geheime Absprachen zwischen Ex-Außenminister Kotzias und Zaev (Kathimerini vom 13. Dezember).

Auch nach diesen Eskapaden hat der Regierungschef seinen Verteidigungsminister nicht zur Ordnung gerufen. Wie die Kathimerini unter Berufung auf die Umgebung von Tsipras berichtet, will und kann man Kammenos nicht daran hindern, aus seinem Ministeramt heraus Wahlkampf zu machen: „Angesichts der Tatsache, dass das Ende der Zusammenarbeit nur noch eine Frage der Zeit ist, argumentieren diese Regierungskreise, dass es unredlich sein würde, Kammenos politisch an die Kandare zu nehmen und auf eine Linie zu drängen, von der er prinzipiell abweicht.“ Die Kathimerini schließt aus solchen Aussagen, dass die Scheidung innerlich längst vollzogen ist.

Das Budget 2019 und die Wahlaussichten

Das wirft allerdings die Frage auf, warum Tsipras und die Syriza ihren Außenminister geopfert haben, um die ungeliebten Koalitionspartner Kammenos und Anel noch für ein paar Monate zu beschwichtigen. Darauf gibt es nur eine plausible Antwort: Die Regierung brauchte eine intakte Mehrheit, um ihren Haushaltsentwurf für das Jahr 2019 durchzubringen. Dieser Haushalt hat für Tsipras auch deshalb höchste Priorität, weil er mit ihm demonstrieren kann, dass Griechenland seit dem Ende der Memorandums-Ära im August 2018 ein Stück Souveränität zurückgewonnen hat.

In der Tat hat es die Athener Regierung geschafft, in einem wichtigen Punkt ihre neue Handlungsfreiheit zu beweisen: Der Haushalt 2019 geht von dem bestehenden Rentenniveau aus und negiert damit die gegenüber der der Troika eingegangene Verpflichtung, zum 1. Januar 2019 die Renten ein weiteres Mal zu kürzen. Und die Regierung hat es sogar geschafft, diese Revision des Sparprogramms durch die Euro-Finanzministern hochoffiziell absegnen zu lassen.

Die meisten Beobachter in Brüssel und Athen sehen den wichtigsten Grund für diese unerwartete Nachsicht darin, dass die Euro-Partner angesichts der Probleme mit der italienischen Regierung einen weiteren Disput unbedingt vermeiden wollten. Voraussetzung für das positive Signal aus der Eurogroup war allerdings, dass der Änderungswunsch mit den Partnern ausführlich erörtert wurde. Noch wichtiger war, dass Athen einen Haushaltsentwurf präsentieren konnte, der für 2019 eine Übererfüllung des obligatorischen Primärüberschusses von 3,5 Prozent des BIP vorsieht.

Der Haushalt wurde am 18. Dezember verabschiedet. Was dieser Primärüberschuss für die wirtschaftlichen Perspektiven Griechenlands bedeutet, werde ich im zweiten Teil dieser Analyse untersuchen. Im Hinblick auf die Wahlen stellt sich jedoch eine andere Frage: Kann der Erfolg in der Eurogroup,  der auch dem Ansehen von Finanzminister Tsakalatos zu verdanken ist, die Chancen der Syriza noch entscheidend verbessern?

Die Antwort wird stark davon abhängen, wie der Report auffällt, den die EU-Kommission im Februar erstmals im Rahmen ihrer „Nach-memorandums-Aufsicht“ vorlegen wird. Nur wenn er der Regierung Tsipras hinreichende Reform-Fortschritte bescheinigt, kommt es zur Auszahlung der ersten Tranche jener Gelder, die Athen von seinen Partnern zugebilligt wurde. Es handelt sich dabei um die Zinsgewinne auf griechische Staatspapiere, die die EZB und die nationalen Notenbanken seit 2010 erzielt haben. Aus diesem Fonds könnten im Frühjahr Gelder in Höhe von 600 Millionen Euro in die Kasse von Tsakalotos wandern. Damit könnte die Regierung weitere Programme finanzieren, um die Krisenlasten für die Ärmsten der Armen mindern. Aber auch, um ihre politische Klientel zu bedienen.

 

Anmerkungen

1) Siehe dazu den Text vom 16. Februar 2018  auf diesem Blog (https://monde-diplomatique.de/shop_content.php?coID=100117)

2) Tatsächlich ist die Verfassungsänderung das größte, weil riskanteste Zugeständnis, zu der die Regierung Zaev sich erst spät durchgerungen hat. Siehe den detaillierten Report über die Verhandlungsstrategie der mazedonischen Seite von Michael Martens in der FAZ vom 30. September 2018: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/geheime-dokumente-wie-der-streit-um-mazedonien-geloest-wurde-15814483-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_1

3) Nimmt man die letzten zwölf Umfragen (zwischen Anfang September und Mitte Dezember) und rechnet die beiden Extremwerte heraus, ergibt sich ein Durchschnitt von 1,71 Prozent; bei den letzten Wahlen im September 2015 war die Anel auf 3,7 Prozent gekommen, bei den Wahlen vom Januar 2015 noch auf 4,75 Prozent.

4) Nach einer Umfrage des Institut Marc für die Wochenzeitung Proto Thema vom 26. Oktober sind nur 17 Prozent der Befragten für ein Weiterregieren der Syriza mit anderen Bundesgenossen.

5) Das Misstrauensvotum bedarf der Zustimmung einer absoluten Mehrheit der Parlamentsmitglieder; beim Vertrauensvotum reicht der Regierung dagegen schon eine Mehrheit der anwesenden Abgeordneten.

6) Dabei ist zu beachten, dass einige Institute bei ihren Prognosen für die ND und die Syriza auch die Stimmen der „unentschiedenen“ Befragten nach eigenen Kriterien hochrechnen; in diesen Fällen könnte der Vorsprung der ND tendenziell zu hoch bewertet sein.

7) Angaben über „unentschiedene“ Wähler nach der Umfrage von Pulse RC für die Mediengruppe Skai von Mitte November (http://pulserc.gr/date/2018/11/)

8)  Nach einer Tabelle, die das „Politbarometer“ präsentiert, würden bei 10 Prozent „verlorener Stimmen“ bereits 36,5 Prozent der ND zu absoluten Mehrheit verhelfen; bei 12 bzw. 15 Prozent verlorener Stimmen würden 35,5 bzw. 34,5 Prozent reichen (https://www.publicissue.gr/14785/f2018-vote-est/ (Teil E, Tabelle 3)

9) Das Abkommen wird im griechischen wie im mazedonischen Sprachgebrauch „Prespes-Abkommen“ genannt, weil es zwei „Prespa-Seen“ gibt. Die südliche Kleine Prespa liegt ist halb griechisch, halb albanisch; die Große Prespa ist dreigeteilt zwischen Griechenland, Albanien und der Republik Mazedonien, der größte Teil gehört zu Mazedonien.

10) Die Geschichte des Konflikts ist in dem erwähnten Blogtext vom 16. Februar 2018 (Anm.1) nachzulesen.

11) Die Positionen der mazedonischen Chauvinisten kann man auf einer deutschsprachigen Website nachlesen: https://mazedonien-nachrichten.blogspot.com

12) Zitiert wird auf Basis der englischen Fassung: http://www.ekathimerini.com/229617/article/ekathimerini/news/the-full-transcript-of-the-greece-fyrom-deal

13) Es handelt sich um die Vereinbarung, die im September 1977 auf der dritten Konferenz zur Standardisierung geographischer Namen (UNGEGN) in Athen verabschiedet wurde.

14) Das Beispiel dieser kriegerischen Parole (griechisch: «φέρτε τα όπλα να μπούμε στα Σκόπια») erwähnte Außenminister Kotzias auf einer Pressekonferenz am 18. Juni 2018.

15) Zitiert nach dem einzigen Bericht, der in der griechischen Presse über diesen Auftritt erschienen ist. Der Text von Pantelis Boukalas in der Kathimerini vom 7. Februar zitiert noch weitere Sprüche des Abtes, der seine Landleute unter anderem vor der „bevorstehenden Diktatur der Juden“ warnte.

16) Methodios hat 2002 eine eigene ultra-orthodoxe Mönchsgemeinschaft gegründet, die sogar gegen den orthodoxen Patriarchen von Istanbul/Konstantinopel rebelliert, weil dieser Gespräche mit dem römischen Papst führt.

17) Theodorakis stellt dafür auch noch eine weitere absurde Bedingung auf: mit der Vergabe des Namens müssten „möglichst 100 Prozent der Griechen“ einverstanden sein. Siehe EfSyn vom 30. Mai 2018.

18) Diese Vereinbarung diente offenbar auch als Vorbild für die Lösung der „Identitätsprobleme“ zwischen Griechenland und Mazedonien; darauf verweist die mazedonische Sozialwissenschaftlerin Katerina Kolozowa in ihrer Analyse des Abkommens vom 2. August 2017, in: Open Democracy vom 4. August 2017 (https://www.opendemocracy.net/can-europe-make-it/katerina-kolozova/turning-macedonian-tables-what-if-solution-to-identity-issue-is)

19) Warum die Regierung Zaev versäumt hat, das Wählerregister noch vor dem Referendum auf den neuesten Stand zu bringen, hat mir ein Kenner des Landes so erklärt: Eine realistische Korrektur hätte die Interessen der albanischen Volksgruppe verletzt, die übrigens mit überwältigender Mehrheit für das Prespa-Abkommen gestimmt hat. Denn die Albaner machen heute nicht mehr 25 Prozent der präsenten Bevölkerung aus wie noch bei der Volkszählung von 2002. Von den damals ermittelten 509 000 albanischen Bürgern leben inzwischen etwa 200 000 im Ausland. Eine Anpassung der „offiziellen“ Zahlen könnte slawo-mazedonische Nationalisten animieren, das Ohrid-Abkommen von 2001 in Frage zu stellen, das den albanischen Mazedoniern weitgehende Volksgruppenrechte garantiert.

20) Als negativer Anreiz wirkte allerdings auch Zaevs Drohung mit sofortigen Neuwahlen, bei der viele Abgeordnete der Opposition ihre Parlamentssitze verloren hätten.

21) Über weitere Details informiert ein Bericht in dem Webportal BalkanInsight vom 2. November 2018 (www.balkaninsight.com/en/article/macedonia-government-submits-constitutional-amendments-11-02-2018)

22) Siehe den Bericht von Thomas Hammarberg, damals Menschenrechtskommissar des Europarats, vom 19. Februar 2009 (https://rm.coe.int/16806db821) insb. Punkte 14 und 42.

23) So Außenminister Kotzias in einem Interview mit dem TV-Sender ANT 1 vom 19. Juni 2018.

24) Nur unter den Wählern der Kleinpartei Potami überwiegt die Zustimmung zu dem Prespa-Abkommen.

25) Zahlen nach dem Polit-Barometer von Public Issue vom November 2018.

26) Umfrage von Kapa Research vom Juli 2018: https://kaparesearch.com/en/quarterly_poll_july_2018/

27) Gleich nach der Zeremonie von Prespa gab es eine Umfrage, nach der fast die Hälfte der Wähler äußerte, das Thema sei für ihre Entscheidung wichtig, im Juli war die Zahl auf 38 % gefallen. Andere Umfragen zeigen, dass das Thema vor allem für die Anhänger der Neonazis und der Anel (73 bis 62 Prozent) wichtig ist (Kapa Research, Juli 2018). Engagierter sind auch die älteren Jahrgänge, während in der Altersgruppe von 17 bis 39 Jahren nur 17 Prozent das Thema Mazedonien als wichtig angesehen; bei den im Ausland lebenden jungen Griechen sinkt dieser Anteil sogar auf 7 Prozent (nach Kapa Research, „Die Jungen am Beginn des Endes der Memoranden“, September 2018).

28) siehe Kathimerini vom 16. Juni und EfSyn vom 14. Juni 2018. Dort wird die heutige Rolle von Samaras so interpretiert: „Mit der Position, die er heute bezieht, erstrebt Samaras die Revanche für seine Entlassung von 1992 durch den Vater seines heutigen Parteiführers…“)

29) Leitartikel in EfSyn vom 14. Juni 2018; eine gute Analyse der Dynamik innerhalb der ND bietet auch Wassilis Aswestopoulos auf der Website Telepolis vom 3. Februar 2018 (https://www.heise.de/tp/features/Namensstreit-um-Mazedonien-Ausnahmezustand-wegen-Grossdemonstration-in-Athen-3960105.html?seite=all)

30) Diese Minderheit wird auf 50 bis 80 Tausend Menschen geschätzt und genießt Minderheitenrechte, von der die Slawomazedonier in Griechenland nur träumen können.

31) Alle Zahlen nach Angaben des Erziehungsministeriums (Kathimerini vom 30. November). In Attika waren nur wenig Schulen besetzt und es gab viele Gegendemonstrationen linker Organisationen.

32) Diese Parolen sind auf Foto in der EfSyn vom 28. November zu sehen; in Lamia holten sich die Schüler vor einer Demo ihre griechischen Fahnen direkt beim Chrysi Avgi-Büro ab (EfSyn vom 31. November).

33) Noch im Mai 2018 nannte Mitsotakis bei einer Konferenz der konservativen Parteien der EU in Sofia als Bedingung für eine Lösung eine Änderung der Verfassung Mazedoniens – die im Prespa-Abkommen vorgesehen ist (Kathimerini vom 17. Mai 2018).

34) Das erwarten laut Umfragen auch 56 Prozent der griechischen Wähler (Kapa Research vom Juli 2018), was zeigt, dass sich die ND in dieser Frage ganz auf den rechten Rand ihrer politischen Gefolgschaft orientiert.

35) Siehe die Kritik des Verfassungsrechtlers Nikos Alivizatos am Vorgehen von Mitsotakis in der Kathimerini vom 18. Juni.

36) Der Linkspartei fehlten mit 149 Sitzen nur zwei Sitze zur absoluten Mehrheit, die dann mit Hilfe der 13 Anel-Mandate gesichert wurde.

37) Zu den Hintergründen der Koalitionsentscheidung siehe meine Analyse auf der Website NachdenkSeiten vom 18. März 2015 (https://www.nachdenkseiten.de/?p=25437).

38) Greek Reporter vom 2. November 2016;  Kammenos hat die Aussage des Erzbischofs nicht dementiert, Tsipras hat zu dem unerhörten Sachverhalt geschwiegen.

39) https://www.nachdenkseiten.de/?p=25437). Ein detailreiches Portrait des Demagogen Kammenos von Dimitris Psarras ist nachzulesen in der EfSyn vom 17. Oktober 2018.

40) Einen ähnlich bizarren Verteidigungsminister hat sich eine Zeitlang auch die rechtspopulistische PiS-Regierung in Polen geleistet: Antoni Macierewicz wurde aber nach knapp zwei Jahren bei der Umbildung der PiS-Regierung entlassen.

41) Wobei das Militär mit bis zu 60 Prozent klar an der Spitze liegt, und die Kirche mit ca. 30 Prozent noch weit vor dem Parlament, der Regierung, den Parteien, den Medien und den Gewerkschaften (siehe v.a. die regelmäßigen Umfragen von KapaResearch).

42) Das bedeutet wörtlich: Verteidiger-General; der Begriff stammt aus der  orthodoxen Theologie und wird der Muttergottes seit der Revolution von 1821 zugeschrieben. Die Kammenos-Rede von Psara wird auf der Website des Verteidigungsministeriums sogar auf Englisch dokumentiert (wobei der Schwulst leicht zurückgenommen wird); unter http://www.mod.mil.gr/en/press-releases/address-minister-national-defencepanos-kammenos-hellenic-navy-events-psara-island finden sich auch Fotos von der Zeremonie mit den Reliquien und der Knochenkiste.

43) Das Parlament in Ankara hat diesen Fall zum casus beli erklärt, siehe dazu meine Analyse des Ägäis-Problems auf diesem Blog vom 7. April 2017.

44) Kammenos ignoriert auch, dass die rechtsverbindliche Abgrenzung der AWZ einer Einigung mit den Nachbarstaaten, in diesem Fall mit der Türkei bedarf.

45) Kathimerini vom 11. Oktober 2018. Zudem teilte Kammenos in Washington mit, Frankreich und die USA hätten sich der militärischen Zusammenarbeit zwischen Griechenland, Zypern, Israel und Ägypten angeschlossen – eine Neuigkeit auch für die Regierungen in Paris und Washington.

46) Kotzias kritisierte überdies, auch die Justiz habe nicht ihre Pflicht getan: Bei den Kundgebungen der Prespa-Gegner habe es Äußerungen gegeben, die klare Rechtsverstöße darstellen (etwa den Sprechchor: Zu den Waffen, auf nach Skopje). „Hätte da nicht ein Staatsanwalt einschreiten müssen?“ Und er selbst habe Drohbriefe erhalten (u.a. mit einer Pistolenkugel), die er angezeigt habe, aber die Ermittlungen gingen nicht voran.

 


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