Blogbeitrag: Das Riesenrad, das sich nicht dreht

Das Riesenrad auf dem Syntagma-Platz war von Anfang an umstritten. © AP/Yorgos Karahalis 

 

„Wenn viele bei der nächsten Wahl für die konservative ND stimmen, dann nicht, weil sie glauben, dass es dann besser wird, sondern weil sie sich an Syriza rächen wollen. Seit eh und je funktioniert das politische System in Griechenland so. Die Opposition gewinnt niemals die Wahl, es verliert die Regierung. Also braucht die Opposition kein Programm vorzustellen, rein gar nichts. Sie wartet darauf, dass die Regierung alles falsch macht, dann kommt sie dran. So einfach.”

Petros Markaris, Krimiautor und Gesellschaftsbeobachter, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 8. Januar 2017

 

Das Riesenrad, das sich nicht dreht

Es ist schwer, die weihnachtliche Szene aus Athen nicht als Illustration der griechischen Misere zu betrachten. Wir sehen ein Riesenrad: ein blitzmodernes, 40 Meter hohes Gerät namens Giant R 40, installiert auf dem Syntagma-Platz im Zentrum der griechischen Hauptstadt.

Die Pointe ist, dass sich das Rad nie gedreht hat. Dabei war es als Weihnachtsgeschenk der Stadtverwaltung an ihre Bürger gedacht. Die sollten zwei Wochen lang Gelegenheit haben, sich in den Gondeln hoch über ihre Stadt zu erheben, um da oben für kurze Zeit die Misere da unten zu vergessen. Nach der Weihnachtsperiode sollte der Gigant noch zwei Monate weiterbetrieben werden, allerdings nicht mehr gratis, sondern zum Profit des niederländischen Unternehmens Venus Eurofreight.

Als das Rad am 22. Dezember aufgestellt war, entdeckte man zwei Probleme. Erstens fehlten die für den Betrieb unabdingbaren Sicherheitszertifikate; zweitens setzten die Winterstürme ein, sodass man bei Windstärke 8 gezwungen war, die Gondeln abzuhängen, damit der Gigant nicht ins Wanken geriet.

Nachdem der Sturm abgeflaut war, musste man feststellen, dass die Sicherheitschecks durch den zuständigen TÜV Nord Hellas mindestens eine weitere Woche beanspruchen würden. Und das Ergebnis erschien äußerst ungewiss. Zum Beispiel, weil das Fundament des fast 1000 Tonnen schweren Riesenrads zum Teil aus Holzbohlen bestand, die man verlegt hatte, um das Gefälle des Syntagma-Platzes auszugleichen.(1) Angesicht solcher Risiken beschloss die Stadtverwaltung, das Skelett des Giant R 40 wieder abzubauen. Aber selbst das ging nicht problemlos vonstatten, weil sich die Firma zunächst weigerte, mit den griechischen Arbeitsinspekteuren zu kooperieren.

Der Gigant auf dem Syntagma-Platz war von Anfang an umstritten. Ästhetisch sowieso, aber auch aus Sicherheitsgründen. Ursprünglich war als Standort ein anderes, einigermaßen planes  Gelände vorgesehen. Die Geschichte hat noch weitere bezeichnende Facetten(2), doch hier interessiert nur der entscheidende Punkt: die Methode, mit der die Stadtverwaltung das Projekt angepackt hat.

Gesetzgebung per Trial and Error

Natürlich ist allgemein bekannt, dass es auch in Athen einen Winter gibt, der häufig schwere Stürme bringt. Und natürlich weiß man, dass das Sicherheitszertifikat für den Betrieb eines Riesenrads gründliche Untersuchungen voraussetzt, die der griechische TÜV mindestens ebenso ernst nimmt wie die technischen Kontrolleure in anderen EU-Ländern. Aber das haben die Verantwortlichen nicht bedacht oder ignoriert. Noch wahrscheinlicher ist, dass sie sich eingeredet haben: Es wird schon gut gehen. Erst mal das Ding aufstellen, dann sieht man weiter. Damit wird das demontierte Riesenrad zum Gleichnis für die Misere der griechischen Gesellschaft und ihrer Politiker.

Das Prinzip, ein Projekt improvisatorisch anzupacken und offensichtliche Probleme zu übersehen, hat eine lange Tradition. Anschauliche Beispiele liefert Jahr um Jahr das griechische Parlament, egal unter welcher Regierung. Viele Gesetze werden verabschiedet und müssen dann binnen kurzem wegen formaler Fehler oder praktischer Undurchführbarkeit mittels  – wiederum unklarer - Ausführungsbestimmungen korrigiert oder durch -  wiederum provisorische - Novellierungen ersetzt werden.

Die Gesetzgebung läuft nach dem trial and error-Verfahren, wobei der error am Ende in der Regel teuer zu stehen kommt. Das gilt zumal in der Ära der Sparprogramme, also seit die Troika ständig neue Forderungen aufstellt, die an der griechischen Realität ausprobiert werden und immer neue errors produzieren. Allein auf dem Feld der Steuergesetzgebung wurden seit 2010 mehrere Hundert korrigierende Ausführungsbestimmungen und Rechtsverordnungen erlassen, die selbst die Finanzbürokratie und gewiefte Steuerberater zur Verzweiflung bringen. Die Folge ist, dass gut gemeinte und notwendige Reformen häufig nicht umgesetzt werden oder wirkungslos bleiben.

Das Beispiel Plastikgeld

Ein klassisches Beispiel ist die Gesetzgebung, mit der die Regierung vielfältige Anreize für die Bezahlung mit „Plastikgeld“ einführen will. Etwa mit einem seit dem 1. Januar 2017 geltenden Gesetz, das die Steuerzahler verpflichtet, alle Rechnungen ab der Höhe von 500 Euro per Banküberweisung oder Kreditkarte zu begleichen. Dahinter steckt die richtige Absicht, dem Handel, aber auch Ärzten und Handwerkern die Hinterziehung der Mehrwertsteuer zu erschweren.(3) Doch das ganze Konzept ist bislang weitgehend unwirksam geblieben, weil beim Fiskus die verwaltungstechnischen Umstellungen nicht erfolgt sind und im Einzelhandelsgewerbe die technischen Voraussetzungen nicht geschaffen wurden. Das ganze Projekt wurde im Januar 2016 vom zuständigen Vize-Finanzminister Alexiakis angekündigt. Aber das Ministerium hat es bislang nicht geschafft, die notwendige Durchführungsbestimmung auszuarbeiten, die den Einzelhandel zu konkreten Maßnahmen verpflichten.

Der Erlass einer Ministerdirektive wurde jetzt für Ende Januar 2017 angekündigt. Diese soll Bars, Cafés und Restaurants, aber auch Klempner und Elektriker verpflichten, innerhalb der nächsten 18 Monate die Geräte für Kartenzahlungen anzuschaffen. Wie verbindlich dieser Zeitplan ist, wird sich zeigen müssen. Von der Verpflichtung ausgenommen sind Kioske und  kleinere Einzelhandelsgeschäfte. Das ist auch berechtigt, denn die Eigentümer müssten nicht nur die Anschaffung der entsprechenden Geräte finanzieren (zwischen 150 und 350 Euro), sondern würden bei der Karten-Abrechnung auch noch Geld an die Banken verlieren.(4)

Das Beispiel Schwarzarbeit

Das jüngste Exempel für verschlepptes, schlampiges oder inkonsequentes Regierungshandeln bietet der Kampf gegen die Hinterziehung von Beiträgen zur Sozialversicherung, die viele Arbeitgeber und noch mehr Selbstständige und Freiberufler den Rentenkassen schuldig bleiben. Der Verlust für das Versicherungssystem wird auf mehr als 2 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Die Dimensionen dieses Problems – für die Gesellschaft wie für die Regierung – beschrieb die linke Tageszeitung Efimerida ton Syntakton (EfSyn) in ihrem Leitartikel vom 5. Januar:

„Schwarzarbeit und ‚Grauarbeit‘ war schon immer die offene Wunde unseres Sozialversicherungssystems – auch vor der Krise. Dieses ganze System der Schwarzarbeit kommt unsere Volkswirtschaft teuer zu stehen. Die Kosten tragen nämlich die gewissenhaften Unternehmer, die ihre Beiträge korrekt abführen, und die Lohnabhängigen, deren Beiträge automatisch einbehalten werden. Sie allein haben immer wieder die Rettung des gesamten Versicherungssystems zu  schultern, indem sie die Defizite durch höhere Beiträge ausgleichen müssen.“

In Griechenland werden die Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung der Beschäftigten im privaten Sektor zu zwei Dritteln von den Arbeitgebern und zu einem Drittel von den Arbeitnehmern finanziert. Damit erhöht sich für die Arbeitgeber der Anreiz zur Beitragshinterziehung durch schwarze oder graue Beschäftigung. Was bedeutet, dass die staatliche Kontrolle der Beitragsehrlichkeit besonders wichtig ist.

Genau dieser Kontrollmechanismus ist jedoch laut EfSyn in einem „tragischen“ Zustand: „Nach offiziellen Angaben funktionieren von den 13 Kontrollzentren der IKA (der allgemeine Renten- und Sozialversicherungsanstalt, NK) derzeit nur 4 oder 5, die insgesamt über 34 Angestellte verfügen. Was kann ein solcher Apparat ausrichten? Wenn heute die Anordnung käme, sämtliche Unternehmen des Landes zu kontrollieren, würde die ganze Operation 28 Jahre dauern. Das ist der reine Hohn.“

Dennoch endet der Leitartikel mit einem optimistischen Ausblick. Der „Skandal“  werde bald ein Ende haben, hat doch die zuständige Staatssekretärin im Arbeitsministerium angekündigt: „Schritt um Schritt werden landesweit 11 regionale Zentren funktionieren, um eine gerechte und intensive Kontrolle der versicherungslosen Arbeitsverhältnisse zu  gewährleisten, und bis Ende 2017 werden diese Kontrollzentren 1000 Leuten einstellen.“

Evaluierung ist böse

Das wäre fürwahr ein großer Schritt voran. Die Frage ist nur, was aus der Ankündigung wird. Konkret: Wo sollen die tausend neuen Stellen herkommen? Und wie lange wird es dauern, bis die Leute für ihre komplexen Aufgaben ausgebildet sind? Die Antwort hängt davon ab, wann jene umfassende Reform des öffentlichen Dienstes in die Gänge kommt, die alle Regierungen seit 2009 in Aussicht gestellt haben, und die von der zweiten Syriza-Regierung seit Herbst 2015 sogar zur obersten Priorität erklärt wurde.(5)

Was ist seitdem geschehen? Die Evaluierung des öffentlichen Dienstes, mit der die Regierung versteckte Personalreserven entdecken und aktivieren könnte, kommt seit Jahren nicht voran. In der Praxis wird sie von den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes boykottiert. Deren Dachverband ADEDY (der 40 Einzelgewerkschaften des öffentlichen Sektors vertritt) hat seinen Widerstand ganz offen deklariert. „Stopp der Evaluierung der Strukturen und der Beschäftigten“, heißt es in der Resolution, die beim letzten Streik vom 24. November 2016 beschlossen wurde. In derselben Resolution forderte die ADEDY ein Programm „massenhafter Einstellungen“: die Schaffung von Dauerstellen im öffentlichen Gesundheitswesen, im Ausbildungssektor, im Bereich der lokalen Selbstverwaltung, und auch „bei den Sozialkassen, bei den Kontrollapparaten und bei allen sozialen Diensten“. (http://adedy.gr/pfigismaapergias24112016/).

Aber wie sollen diese beiden Forderungen zusammengehen? Wie kann eine Regierung all diese Wünsche erfüllen, ohne im gesamten öffentlichen Dienst die Effektivitätsreserven  zu mobilisieren, die nicht einmal versteckt, sondern höchst sichtbar sind? Diese Frage stellte in der EfSyn (vom 25. November 2016) der Kommentator Dimitris Terzis: „Muss man nicht, um den Bedürfnissen der Gesellschaft und der Bürger und der öffentlichen Dienste gerecht zu werden, zuvor die ganzen Strukturen evaluieren, also die Leistungen, die den Bürgern und der Gesellschaft geboten werden? Wenn der ADEDY die Evaluierungsmethoden der Regierung schlecht findet, lautet die Frage doch, wie eine gute Methode aussieht.“

Darauf hat die Gewerkschaften des öffentlichen Sektors eine klare Antwort: Es gibt keine „gute“ Methode, Evaluierung ist per se „ein Instrument zum systematischen Vollzug von Entlassungen“.  Deshalb kann die ADEDY-Führung stolz proklamieren, dass „unsere Kämpfe bislang die Durchführung (der Evaluierungen) verhindert haben“.(6) Gegenüber diese Verweigerungshaltung, die eine der dringlichsten Reformen blockiert, zeigt sich die „erste linke Regierung“ Griechenlands hilflos, wiewohl sie damit der Gesellschaft zumutet, auch die ineffektiven Bereiche des öffentlichen Dienst mit immer höheren Steuern zu finanzieren. Dazu das Ergebnis einer Umfrage für die Zeitung EfSyn, die am 5. Dezember 2016 veröffentlicht wurde: Auf die Frage, ob öffentliche Bedienstete, deren Leistungen negativ evaluiert werden, entlassen werden sollten, antworteten 63 Prozent zustimmend und nur 18 Prozent ablehnend.

Tsipras Weihnachtsgeschenke - ein Problem für Tskalotos

Die geschilderte trial-and-error-Methode ist auf den ersten Blick auch bei der Entscheidung erkennbar, mit der Tsipras Anfang Dezember 2016  staatliche „Weihnachtsgeschenke“ an die Rentner und die Bevölkerung der ostägäischen Inseln gemacht hat. Die Ankündigung dieser einmaligen Ausgaben löste einen Konflikt mit den EU-Institutionen aus, der den Abschluss der Evaluierung des dritten Memorandums zumindest verzögert hat.(7)

Inhaltlich wurde der Konflikt inzwischen durch einen Brief des griechischen Finanzministers an seine Kollegen in der Eurogroup entschärft.(8) Tsakalotos reagierte auf die Kritik aus Brüssel und Berlin, indem er zugab, dass zumindest die Methode der Athener Entscheidung ein „error“ war: „Bezüglich des Verfahrens gestehe ich ein, dass Maßnahmen, die sich auf die öffentlichen Finanzen auswirken, mit den Institutionen diskutiert und vereinbart werden müssen…“  Über dieses mea culpa hinaus bekennt sich Tsakalotos zu der „absoluten Verpflichtung, dass wir uns weiterhin an die Zusagen zu halten, die sich aus dem Memorandum ergeben, sowohl hinsichtlich der Inhalte wie auch des Verfahrens der Kooperation  mit unseren Partnern“.

Auch was den Inhalt der Entscheidungen betrifft, macht Tsakalotos mehrere Rückzieher. Zunächst stellt er klar, dass die Weihnachtsgabe an die Rentner „eine einmalige Zahlung war und nicht die Absicht besteht, sie zum dauerhaften Bestandteil der vor kurzem eingeführten Rentenreform zu machen.“ Diese Klarstellung war nötig, weil Tsipras diese Einmalzahlung als „13. Rente“ bezeichnet hatte.

Wichtiger sind drei weitere Festlegungen:

1. Tsakalotos nimmt zwei Mal explizit Bezug auf die „Zahlen von Eurostat“ und räumt damit ein, dass Athen bei der Ermittlung des Haushaltsüberschusses „eigentlich“ die offiziellen Zahlen aus Brüssel abwarten muss, was im Dezember 2016 nicht geschehen ist.

2. Falls der Primärüberschuss des Haushaltsjahrs 2016 von den Planungen abweichen sollte, verpflichtet sich seine Regierung, „ausgleichende Maßnahmen auf dem Gebiet der Ausgaben für Renten zu ergreifen“. Mit anderen Worten: Sollte sich herausstellen.  dass die Zahlen für 2016 nicht aufgehen (was Tskalotos als „extrem unwahrscheinlich“ bezeichnet), werden die zu Weihnachten bescherten Rentner das Geschenk wieder zurückgeben müssen.

3. Sollte in Zukunft der angezielte Haushaltsüberschuss übertroffen werden, sind die freien Gelder prioritär für folgende Zwecke einzusetzen: a) für „ substantielle Maßnahmen zur Stärkung der sozialen Schutzprogramme“ , b) zur „Reduzierung der steuerlichen Belastungen, die sich aus den Verpflichtungen des Memorandums ergeben haben“,  c) für „die Bildung eines Bargeldpuffers (cash buffer), d) für „die Rückzahlung überfälliger Schulden“ der öffentlichen Hand gegenüber privaten Unternehmen. Damit akzeptiert Tsakalotos die Liste der potentiellen Verwendungszwecke, wie sie von den Gläubigern vorgeschlagen wurde.

Keine besonders gerechte Maßnahme

Angesichts dieser Zu- und Eingeständnisse fragt man sich, was die Regierung dazu gebracht hat, die 617 Millionen Euro als Weihnachtsgabe an die Rentner zu verteilen. Die Frage ist auch deshalb berechtigt, weil dies aus sozialpolitischer Sicht keineswegs die „gerechteste“ Art der Verteilung war. Darauf wurde Tsakalotos in einem Interview mit der Kathimerini (vom 31. Dezember) angesprochen: „Sie haben einen Teil des Haushaltsüberschusses allein nach dem Kriterium des Renteneinkommens verteilt. Damit kommt die Unterstützung auch dem Rentner zugute, der anderweitige Einkommensquellen wie Mieteinnahmen hat, während der Arbeitslose nichts bekommt. Wie ‚links‘ ist eine solche Entscheidung?“

Diese Frage ist berechtigt, wenn man sich klarmacht, dass in Griechenland 70,8 Prozent der Arbeitslosen in extremer Armut leben, aber nur 3,8 Prozent der Rentner, von denen jedoch rund 60 Prozent in den Genuss der Weihnachtsgratifikation kamen.(9) Die entwaffnende Antwort von Tsakalotos lautet: Zum einen war es verwaltungstechnisch einfacher, das Geld an die Bezieher niedriger Renten auszuzahlen. Zum anderen musste man die Summe unbedingt noch vor Jahresende ausgeben, um sie noch im Haushalt 2016 verbuchen zu können. Eine spätere Auszahlung hätte womöglich die Haushaltsziele des Programms gefährdet, sprich: den für 2017 festgelegten Primärüberschuss von 1,75 Prozent des BIP.(10)

Eine kostspielige Verzögerung

Tsakalotos sagt ganz offen: „Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätten wir das besser planen können.“ Die Eile hatte jedoch ihren Preis, weil der Abschluss der Evaluierung abermals verzögert wurde (die ursprünglich Anfang 2016 beendet sein sollte). Jetzt wird es mindestens noch bis zum 20. Februar 2017 dauern. Mit der Folge, dass die EZB die Beteiligung Griechenlands am Programm des Quantitative Easing (QU) frühestens im März beschließen kann. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass diese Entscheidung erst im Frühsommer getroffen wird. (Kathimerini vom 13. Januar 2017).
Diese Verzögerung macht die Athener Regierung ebenso nervös wie die Wirtschaftspresse. Denn bei den Experten – und im EZB-Rat  – hat längst die Diskussion begonnen, wie lange das QE-Programm angesichts der anziehenden Inflation im Euroraum noch im jetzigen Umfang weitergeführt werden soll.(11)

Im Dezember 2016 hat der EZB-Rat beschlossen, den Umfang der QE-Käufe ab April 2017 von 80 Milliarden auf monatlich 60 Milliarden Euro zu senken. Und das dürfte erst der Anfang sein, meint Claire Jones in der Financial Times (vom, 19. Januar 2017), denn „einflussreiche Stimmen in Deutschland“ seien über die lockere Geldpolitik Draghis zunehmend besorgt. Falls die Inflationsrate in Deutschland bei den aktuell 1,7 Prozent verharren oder noch ansteigen sollte, werde Berlin auf weitere Einschnitte beim QE-Programm drängen. In der Tat hat Schäuble die EZB bereits explizit aufgefordert, den Ausstieg aus der „ultraexpansiven Geldpolitik“ noch dieses Jahr einzuleiten (Süddeutsche Zeitung, 13. Januar 2017). Ein Berater Schäubles,  IfO-Chef Clemens Fuest, fordert sogar, die EZB solle ihr Anleiheaufkaufprogramm schon im März 2017 beenden.(12)

Zwei weitere Hürden

Zurück zu der für Athen so wichtigen Terminfrage. Zwar hat der Tsakalotos-Brief  bewirkt, dass das ESM-Direktorium den einseitigen Beschluss, die am 5. Dezember 2016 beschlossenen Maßnahmen zur Schuldenentlastung Griechenlands auf Eis zu legen, am 23. Januar wieder aufgehoben hat. Athen konnte seine Position gegenüber den Gläubigern auch dadurch verbessern, dass der für das Rechnungsjahr 2016 ermittelte Primärüberschuss von knapp 2,5 Prozent des BIP deutlich über dem vereinbarten Ziel von 0,5 Prozent liegen wird (EfSyn vom 18. Januar 2017).Dennoch stehen dem Abschluss der Evaluierung bis Februar noch zwei Hürden im Wege: der Streit über Reformen des Arbeitsmarkts und die ungelöste Frage über die weitere Beteiligung des IWF.(13)

Beim Thema Arbeitsmarktreformen hat die Athener Regierung eine Initiative ergriffen, von der sie sich einen Durchbruch erhofft. Am 10. Januar rief Arbeitsministerin Effi Achtsioglou ihre Berliner Kollegin Andrea Nahles an, um deren „sozialdemokratische“ Unterstützung zu erbitten. Nach einem Bericht der EfSyn vom 11. Januar, der auf Informationen von Achtsioglou beruht, soll Nahles auf die Darlegung der griechischen Position  „positiv reagiert“ haben. Die griechische Ministerin verwies auf die besondere Bedeutung, die man in Athen der Rückkehr zur „europäischen Normalität“ auf dem Gebiet von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten beimesse. Sie berief sich dabei auf das Gutachten der Expertenkommission (14) und die Unterstützung der griechischen Position durch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Zugleich beklagte sie sich über die „negative Haltung“ des IWF, dessen „absurde Forderungen“ aus Athener Sicht das größte Hindernis für einen Abschluss des Kapitels Arbeitsmarktreformen darstellen.

Damit berührte die griechische Arbeitsministerin auch das zweite Problem, das den Abschluss der Evaluierung noch immer blockiert: die offene Frage nach der weiteren Beteiligung des IWF. Seit meiner letzten Analyse (vom 22. Dezember 2016) hat sich in dieser Frage allerdings Einiges getan. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung  vom 13. Januar sprach der deutsche Finanzminister zum ersten Mal von der Möglichkeit, dass der IWF auf eigenen Entschluss aus dem Griechenland-Programm ausscheiden könnte. In dem Fall, so Schäuble, seien die Europäer sehr wohl in der Lage, „eine eigene Lösung im europäischen Währungssystem“ zu organisieren. Allerdings müssten dann die Europäer selbst die Vereinbarungen kontrollieren, und zwar deutlich strenger: „…falls wir ein Programm alleine machen würden, müsste die Verbindlichkeit der Vereinbarungen auf andere Weise entscheidend verbessert werden. Damit könnten wir etwa den Europäischen Rettungsfonds ESM beauftragen.“

Voreilige Freude über Schäuble

In Athener Regierungskreisen – aber auch in den Medien - wurde diese Aussage Schäubles vorschnell als begrüßenswerter „Positionswechsel“ gewertet, der die Aussichten auf eine rasche Einigung mit den Gläubigern verbessern würde. Tsipras selbst und seine engsten Berater hatte in den letzten Wochen unermüdlich verbreitet, dass die weitere Beteiligung des IWS aus Athener Sicht unerwünscht sei. In der freudigen Erregung über ein mögliches Ausscheiden des ungeliebten „Partners“ übersah man zunächst, was Schäuble gegenüber der SZ ebenfalls angekündigt hat: Der europäische Plan B, der sich allein auf die Finanzierung durch den ESM stützt, wäre „etwas ganz anderes und müsste zuvor vom Deutschen Bundestag gebilligt werden“.

Gegenüber dem Wall Street Journal wurde Schäuble noch deutlicher: Der Bundestag müsse entscheiden, „ob er Verhandlungen über ein neues Programm zustimmt oder nicht“. (WSJ vom 16. Januar). Was der Zusatz „oder nicht“ bedeutet, erläuterte der deutsche Finanzminister drei Tage später im Interview mit dem Wirtschaftssender Bloomberg TV: Er hält die Zustimmung des Bundestags zu einem neuen Griechenland-Plan für unwahrscheinlich und wird sich dafür auch nicht stark machen.(15) Diese Klarstellung lässt die rhetorische „Wende“ Schäubles in einem anderen Licht erscheinen. Der Zuchtmeister Griechenlands droht Athen ganz offen mit dem Scheitern des dritten Memorandums und der Ankündigung, dass es ein viertes nicht geben wird.

Der ESM wäre ein IWF auf deutsch

Das ist für die Tsipras-Regierung nicht die einzige schlechte Nachricht. Denn Athen müsste, wie die Brüssel-Korrespondentin der Kathimerini (vom 20. Januar 2017) berichtet, bei einem Ausscheiden des IWF mit noch größerem Druck von anderer Seite rechnen. In den Niederlanden finden bereits am 15. März  nationale Wahlen statt, aus denen die rechtsradikale Anti-EU-Partei des Geert Wilders deutlich gestärkt hervorgehen wird. „Es ist völlig klar, dass ein griechisches Programm ohne Teilnehme des IWF vom holländischen Parlament kein grünes Licht bekommen wird. Und zwar nicht nur vor den Wahlen, sondern auch im Zeitraum danach, wobei die Regierungsbildung in Holland normalerweise mehrere Monate dauert.“

Mit dem Ausstieg des IWF wäre also die gesamte Zeitplanung der Tsipras-Regierung hinfällig. Und es gibt einen weiteren Grund, warum die voreilige Freude, die in Athen über ein Memorandum ohne IWF aufkam, ganz unrealistisch war. Nick Malkoutzis hat in der Kathimerini vom 15. Januar gefragt: Angenommen, das neue Programm würde die Parlamente passieren, was würde es für Griechenland bringen? Seine Antwort lautet, dass ein Plan B nach Machart Schäuble noch „deutscher“ ausfallen würde als das alte Memorandum. Deshalb könne Athen die Hoffnung auf einen leichteren Ausweg ohne den IWF vergessen: „Wenn der ESM die Aufsicht über das griechische Programm hätte, würde Berlin noch mehr Einfluss ausüben als es derzeit schon tut: laut ESM-Vertrag entsprechen die Stimmrechte der Mitgliedsstaaten dem Anteil ihrer Beteiligung am Kapital und an den gewährten Sicherheiten. Das bedeutet, dass Deutschland über 27 Prozent der Stimmrechte verfügt, was auf eine Vetomacht hinausläuft: Bei fehlendem Konsens gilt ein besonderes Abstimmungsverfahren, bei dem für einen Beschluss eine qualifizierte Mehrheit von 85 Prozent erforderlich ist.“

Ein Fallbeil als Damoklesschwert

Wenn Schäuble von einer strengeren Kontrolle des griechischen Programms spricht, hat er neue Verpflichtungen im Auge, die für die Regierung Tsipras schwere Zumutungen darstellen würden. Das gilt vor allem für die Verschärfung des Mechanismus, den die Griechen als „koftis“ bezeichnen, was man mit Fallbeil übersetzen kann (im griechischen Kontext wäre auch der Begriff „Damoklesschwert“ naheliegend).

Was ist der „koftis“? Es handelt sich um die automatische Verpflichtung, konkrete Sparmaßnahmen zu ergreifen, falls die vereinbarten Primärüberschüsse nicht erreicht werden. Dann würde das Fallbeil niedergehen und weitere staatliche Ausgaben kappen. Doch der IWF gibt sich mit der bloßen Installation des Fallbeils nicht zufrieden. Er forderte wiederholt, die Athener Regierung müsse die definierten Sparmaßnahmen bereits vorab in Form von „Vorrats-Gesetzen“ verabschieden. Die Regierung Tsipras konnte diese Forderung bislang auch deshalb abwehren, weil sie in diesem Punkt die EU-Institutionen hinter sich hat. (Kathimerini vom 23. Januar 2017). Sollte Schäuble  - etwa mit Hilfe des ESM - ultimativ auf solche präventive Gesetze dringen, wäre die letzte „rote Linie“ bedroht, die Tsipras und Tsakalotos niemals überschreiten wollten.

Die Athener Regierung sieht inzwischen ein, dass der IWF wohl im Boot bleiben wird.(16) Deshalb ist sie verzweifelt bemüht, den Institutionen so weit entgegenzukommen, dass der IWF einen „Kompromiss“ wenigstens nicht obstruiert. Zugleich beschwört sie die EU-Partner, die neoliberalen Dogmatiker in Washington beim Thema Arbeitsrecht zur Vernunft zu bringen. Der IWF müsse kapieren, erklärte Regierungssprecher Tzanakopoulos in einem Radio-Interview, „dass wir hier in Europa sind“ und dass man Griechenland nicht „in eine Sonderwirtschaftszone verwandeln kann“ (To Vima vom 21. Januar).

Brücke zum Kompromiss?

Selbst wenn der IWF in diesem Punkt nachgeben würde, bliebe das Hauptproblem bestehen: Zur „Sicherung“ von 3,5 Prozent Primärüberschuss im Haushaltsjahr 2018 sieht der Fonds einen weitere Sparbedarf in Höhe von mehr als 4 Milliarden Euro. Wie weit kann die Regierung Tsipras diesem Bedenken gerecht werden? Nach einem Bericht der linken Efimerida ton Syntaktion (vom 21. Januar) wird sie bei der Sitzung der Eurogroup am 26. Januar einen „Brückenvorschlag“ vorlegen, der den Abschluss der Evaluierung durch die Eurogroup in der darauffolgenden Sitzung vom 20. Februar ermöglichen soll. Das Papier konkretisiert für den Fall des „koftis“ drei mögliche Bereiche für Einsparungen:

- eine „drastische“ Senkung der Schwelle für steuerfreie Einkommen;

- die Reduzierung der staatlichen Zuschüsse für die Rentenkassen, was weitere Rentenkürzungen bedeutet;

- die Erhöhung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes von 13 auf 14 Prozent.

Das Entscheidende an diesem Kompromissvorschlag sind aber zwei andere Punkte: Zum einen verpflichtet sich Athen zu diesen Fallbeil-Maßnahmen auch für die Zeit nach dem Auslaufen des dritten Memorandums Mitte 2018. Deshalb sprechen Kritiker der Regierung (in den Medien, wie in den Oppositionsparteien) bereits vom Einstieg in ein „viertes Memorandum“. Die Zusage Athens gilt allerdings nur für ein Jahr. Im Gegenzug erwartet die griechische Seite, dass die Höhe des Primärüberschussses ab 2020 deutlich gesenkt wird und dass eine Einigung über die Laufzeit des geforderten Überschusses erzielt wird. Laut Kathimerini vom 24. Januar 2017 erwartet Athen auch eine verbindlichere Aussage über die mittelfristigen Maßnahmen zur Schuldenentlastung.(17)

Pfeifen im Walde

Der zweite Punkt ist für die Regierung Tsipras noch brisanter: Sie will den „Mechanismus verstärkter Garantien“ (18), also auch die Definition potentieller Einsparbereiche, bereits jetzt vom Parlament beschließen lassen. Damit würde die Regierung zwar die Verabschiedung der vom IWF gewünschten „Vorrats-Gesetze“ vermeiden. Aber mit der Verlängerung des „koftis“ wäre die „rote Linie“ überschritten, die die Syriza noch Anfang des Jahres selbst gezogen hat. Damit würde sie einen Großteil ihrer potentiellen Wähler und vor allem ihrer Mitglieder ein weiteres Mal vor den Kopf stoßen.

Diesen Kritikern kann die Regierung nur ein Argument entgegenzusetzen, das zunehmend wie das Pfeifen im Walde klingt: Das koftis-Programm stehe nur auf dem Papier, die potentiellen Sparbeschlüsse würden nie fällig, weil man die Haushalts-Vorgaben erfüllen werde. Aber auch diese Aussage steht unter zwei Vorbehalten: erstens müsste alles „normal“ verlaufen, zum Beispiel die Evaluierung noch im Februar abgeschlossen werden; und zweitens müsste der geforderte Primärüberschuss ab 2020 deutlich abgesenkt werden.

Was aber, wenn das nicht geschieht? Sollte eine Einigung beim Eurogroup-Treffen vom 20. Februar nicht gelingen, hätte das fatale Folgen. Die EZB könnte frühestens im Mai die Beteiligung Griechenlands am QE-Programm beschließen. Damit würden die öffentlichen Finanzen ab Juli 2017 erneut in Schieflage geraten.

Ab Juli ist Griechenland wieder klamm

Griechenland muss im kommenden Juli Schulden und Zinsen in Höhe von 6,3 Milliarden Euro zurückzahlen, das ist der größere Teil der 2017 insgesamt fälligen Summe von 11,3 Milliarden Euro.(19) Aber diese Gelder sind in der Staatskasse nicht vorhanden. Die Rettung müsste also vom ESM kommen, was den Abschluss der zweiten Evaluierung voraussetzt. Die Zwangslage, in der sich die Athener Regierung damit befindet, lässt im Athener Finanzministerium bereits „quälende Erinnerungen an 2015“ aufkommen, wie Vassilis Ziras in der Kathimerini vom 16. Januar schreibt.

Damit stellt sich erneut die Frage nach der Schmerzgrenze einer realpolitisch geknebelten Linkspartei. Innerhalb der Syriza mehren sich erneut die Stimmen, die nach dem Sinn einer Regierungspolitik fragen, bei der nicht einmal im Bereich des Kleingedruckten eine „linke Handschrift“ zu erkennen ist. Dass die Syriza „im Namen des Machterhalts“ immer mehr von ihren Zielen abrückt, kritisiert nicht nur die innerparteiliche Oppositionsgruppe „53+“ (20) Auch die Parteibasis insgesamt – oder was von ihr übrig geblieben ist -  artikuliert eine allgemeine Unzufriedenheit über die „Verselbständigung“ der Regierungspolitik.(21)

Kritisch wird es für die Regierung aber erst, wenn der Rückhalt in der Parlamentsfraktion bröckeln sollte. Das ist keineswegs ausgeschlossen, meint Dora Antoniou, die Syriza-Spezialisten der Kathimerini: Einzelne Abgeordnete, die sich schwer tun, ein potentielles Sparprogramm für die Zeit nach 2018 abzusegnen, wollen durchsetzen, dass solche Maßnahmen im Zentralkomitee der Syriza diskutiert werden, wo die Parteilinke stärker vertreten ist als in der Fraktion. (Kathimerini vom 22. Januar 2017). Wenn die Regierungskoalition ihre beiden Parlamentsfraktionen nicht zusammenhalten kann, wird es zwangsläufig zu Neuwahlen kommen. Bei der knappen Mehrheit von nur 153 Abgeordneten (144 der Syriza, 9 der rechtspopulistischen Anel) würden drei Dissidenten ausreichen, um Tsipras und seine Regierung zum Rücktritt zu zwingen.

Vorzeitige Neuwahlen – oder auch nicht

In den letzten Wochen haben die politischen Auguren in Griechenland endlos über die Frage spekuliert, ob Tsipras selbst vorgezogene Neuwahlen antizipiert oder sogar anstrebt. Auch die „Weihnachtsgaben“ an die Rentner und die Inselbevölkerung wurden von einigen als klassische Vorwahlgeschenke wahrgenommen. Dagegen versicherten er Regierungschef und maßgebliche Syriza- Minister wiederholt, dass sie die volle Legislaturperiode bis Herbst 2019 aussitzen wollen.

An dieser Absicht kann es kaum Zweifel geben. Tatsächlich kann die Syriza an raschen Neuwahlen schon deshalb nicht interessiert sein, weil sie diese krachend verlieren würde. Das gilt auch für ihren Koalitionspartner Anel, der wahrscheinlich an der 3-Prozent-Hürde scheitern würde. Seit Monaten bescheinigen die Demoskopen der Nea Dimokratia einen Vorsprung zwischen 10 und 16 Prozentpunkten vor der Syriza. Auch nach den Weihnachtsgaben der Regierung, die von einer Mehrheit der Wähler positiv bewertet wurde, sehen die Institute die konservative Oppositionspartei weiterhin klar in Front. (22). Bei der jüngsten Umfrage (der Mazedonischen Universität von Thessaloniki) kommt die ND bei der Sonntagsfrage mit 30, 5 Prozent auf fast doppelt so viel Stimmen wie die Syriza mit 16,5 Prozent (Kathimerini vom 19. Januar 2017). Ähnlich deutlich führt der ND-Vorsitzende bei der Frage nach dem „fähigeren“ Regierungschef: mit 33,5 Prozent gegenüber 20 Prozent für Tsipras.

Dass die für die Syriza entmutigenden Zahlen nicht nur eine Momentaufnahme sind, ergibt sich aus einer Umfrage, die am 5. Dezember in der Efimerida ton Syntaktion (EfSyn) veröffentlicht wurde. Das demoskopische Institut Prorata differenziert dabei zwischen den „sicheren“ Wählern, die von ihrer Präferenz zu 80 und mehr Prozent überzeugt sind, und Wählern, die nur zu etwa 50 Prozent überzeugt sind. Von den 29 Prozent der Befragten, die für die ND optieren, gehörten 21 Prozent zu den „sicheren“ und 8 Prozent zu den weniger sicheren Kantonisten. Bei den erklärten Syriza-Wählern, die nur 18 Prozent der Befragten ausmachen, gehören 10 Prozent zu den unsicheren Kantonisten und nur 8 Prozent sind sich ihrer Präferenz sicher.

Das Misstrauen gilt der ganzen politischen Klasse

In diesen Zahlen spiegelt sich die gewaltige Verunsicherung selbst der Stimmbürger, die der Syriza-Regierung (noch) die Treue halten.(23) Die Ernüchterung dieser Gruppe zeigt sich auch in anderen Zahlen: In sämtlichen Umfragen seit November 2016 erklärten deutlich mehr als  70 Prozent derjenigen, die noch im September 2015 für die Syriza gestimmt haben, dass sie die Politik der Tsipras-Regierung für falsch halten; der Prozentsatz der enttäuschten Syriza-Wähler liegt damit nicht viel niedriger als bei der Gesamtheit der Befragten ( 83 bis 88 Prozent).

In allen Umfragen zeigt sich aber auch, dass die Kritik der griechischen Wähler der gesamten politischen Klasse gilt. Das Institut Public Issue ermittelte in seinem Politbarometer vom November 2016, dass 84 Prozent der Befragten auch von der Opposition enttäuscht sind. Und auf die Frage, ob eine ND-Regierung die Probleme des Landes besser lösen würde als die Syriza-Anel-Koalition, gaben 52 Prozent die Antwort: „keine von beiden“.(24) Damit wird erneut deutlich, dass sich die Mehrheit der griechischen Bevölkerung von einer neuen Regierung keine Änderung der politischen Lage und der sozioökonomischen Verhältnisse verspricht. Entsprechend zeigen sämtliche Umfragen der letzten drei Monate, dass die Forderung nach Neuwahlen keine Mehrheit hat.(25)

Selbstmord durch Neuwahlen?

Was die Syriza betrifft, so würden Neuwahlen nicht nur das Ende der „ersten linken Regierung“ bedeuten. Die absehbar klare Wahlniederlage würde die Existenz der gesamten Partei in Frage stellen, argumentiert Kostas Kallitsis in der Kathimerini vom 11. Dezember 2016: Da die Syriza wegen des Verlusts der „Bonus-Sitze“ (die würden an die ND als stärkste Partei gehen) gut die Hälfte ihrer Parlamentsmandate abschreiben müsste, bestehe die akute Gefahr, dass die Syriza bereits vor Beginn des Wahlkampfs in ihre Bestandteile zerfällt.

Kallitsis geht davon aus, dass die Linkspartei an einem „Selbstmord“ per Neuwahlen nicht interessiert sein kann. Das Hauptziel der Parteiführung um Tsipras sei nach wie vor, das Programm des 3. Memorandums zu erfüllen – in der Hoffnung, dass es bis zum Zeitpunkt der regulären Wahlen im Herbst 2019 „handfeste Anzeichen für eine ökonomische Erholung“ geben werde. Dieses Ziel hat auch Tsipras mehrfach klar benannt: „Unser Volk hat uns einen Auftrag für vier Jahre gegeben, die wie bis zum letzten Tag ausnutzen werden“.(FN: so in der Haushaltsdebatte im griechischen Parlament Anfang Dezember 2016)  Bis zu den regulären Wahlen im Herbst 2019 durchzuhalten sei für die Syriza-Führung die einzige „rationale“ Strategie, argumentiert Kallitsis.

Mit diesem Vorsatz steht Tsipras nicht allein. Der griechische Unternehmer- und Industriellenverband (SEB) ist ebenso dagegen wie Zentralbankpräsident Yiannis Stournaras. Wahlen bringen in Griechenland immer eine zusätzliche Dosis Instabilität und Ungewissheit, mehr noch: die zeitweilige Einstellung jeder Regierungstätigkeit. Das mögen selbst die Syriza-kritischen Kapitalisten nicht.

Die rechte Opposition: Unredlich und gefährlich

Kallitsis hält deshalb die Politik von Oppositionsführer Mitsotakis für  „unredlich und gefährlich“. (Kathimerini vom 18. Dezember 2016). Der ND-Chef fordert fast täglich die Regierung Tsipras zum Rücktritt auf, um dem Volk die Wahl „zwischen Syriza und Griechenland“ zu ermöglichen (so in einer Rede vom 21. Januar). Allerdings ist die konfrontative Politik von Mitsotakis innerhalb seiner Partei nicht unumstritten.(26) Einige konservative Strategen sähen es lieber, wenn die Syriza-Anel-Regierung die unschmackhafte Suppe des dritten Memorandums bis zum Ende auslöffeln muss. Zudem haben sie Zweifel am politischen Konzept von Mitsotakis. Der verspricht den Wählern heute schon steigende Einkommen und sinkende Steuern, ohne zu sagen, wie das vorausgesetzte Wirtschaftswachstum von 4 Prozent des BIP und die angestrebten ausländischen Investitionen - von 100 Milliarden Euro innerhalb von fünf Jahren - erreicht werden sollen.

Der junge Spross aus dem alten Holz des kretischen Mitsotakis-Clans konnte, als er vor einem Jahr an die Spitze der ND gewählt wurde, kurzfristig eine Aura des Aufbruchs verbreiten. Aber die ist inzwischen verblasst, nachdem der als „Reformer“ angetretene Vorsitzende viele Kompromisse mit den traditionellen Fraktionen seiner Partei geschlossen hat. Zudem ist er in seiner angemaßten Rolle als Streiter wider die Korruption höchst unglaubwürdig, weil er selbst in eine undurchsichtige Kreditaffäre verwickelt ist.(27) Auch rhetorisch neigt Mitsotakis zu einem Maulheldentum, das nicht recht zu seinem Image passen will. Zum Beispiel wenn er ankündigt, er werde Steuersenkungen auch gegen den Willen der Gläubiger durchsetzen, was er ganz sicher selbst nicht glaubt (EfSyn vom 10. Januar 2017).

Auf die entscheidende Frage bleibt der ND-Vorsitzende ohnehin die Antwort schuldig: Mit wem will er eine Regierung bilden, wenn seine Partei die absolute Parlamentsmehrheit verfehlt, was nach den meisten Umfragen wahrscheinlich ist? Zwei der potentiellen Koalitionspartner (Potami und Zentrumspartei) würden es wahrscheinlich gar nichts ins Parlament schaffen. Die Pasok unter ihrem neuen Namen „Dimokratiki Symparataxi“ (DS), die bei der Sonntagsfrage auf 5 bis 7 Prozent kommt, orientiert sich gerade deutlich stärker nach links. Und die Kommunisten wie auch die rechtsextremistische Chrysi Avgi (beide um die 7 Prozent) scheiden als Regierungspartner aus.

Syriza auf der Suche nach dem Profil

Obwohl diese Parteienlandschaft für Mitsotakis (noch) keine Regierungsbildung hergibt, sitzt die Regierung Tsipras weit unsicherer im Sattel als noch vor drei Monaten. Dabei haben sich ihre mittelfristigen Perspektiven weiter eingetrübt. Nachdem die Syria bei ihren zweiten Wahlsieg im September 2015 als „reformistische“ Partei angetreten ist, hat sie bis heute noch keinen plausiblen „politischen Standort“ gefunden. Zwar hat sie ihre ideologische Identität als linke bis linksradikale Formation abgestreift, aber der schleichende Wandel zur Mittelinks-Partei hat ihr keinerlei politischen Gewinn eingebracht.

Ein Mitglied der Tsipras-Regierung beschreibt dieses Dilemma gegenüber der Kathimerini (vom 8. Januar) wie folgt: Nach den Wahlen vom September 2015 sei die Syriza zur“ reinen Verwaltungsinstanz für das Sparprogramm“ geworden. Damit werde ein mögliche Wahlkampf zum „alptraumhaften Szenario“, denn es werde nur noch um die Frage gehen, „wer der bessere Krisenmanager ist“. Dennoch will nach diesem Bericht heute kein maßgeblicher Syriza-Funktionär -  trotz gegenteiliger Bekundungen - einen Urnengang noch im Jahr 2017 ausschließen.

Der zitierte Bericht beschreibt den inneren Zustand der Partei als depressiv, leblos, paralysiert. Um diesen Zustand zu verstehen, muss man sich in jene Syriza-Mitglieder hineindenken, die nach dem zweiten Syriza-Wahlsieg ohnehin nur noch begrenzte Erwartungen hatten, also keinen revolutionären Aufbruch verlangten, sondern nur  die gewissenhafte Umsetzung einer linken Reform-Agenda plus Erleichterungen für die Ärmsten der Krisenverlierer. Was haben diese Syriza-Genossen und - Genossinnen seitdem erlebt?

Eine sehr durchwachsene Reformbilanz

Die enttäuschende Bilanz der von beiden Tsipras-Regierungen verkündeten und zögerlich angepackten Reformprojekte habe ich auf diesem Blog in meinem Text vom 14. Oktober 2016 dargestellt. Für die Probleme bei der Umsetzung dieser Maßnahmen, etwa zur Stabilisierung der Steuereinnahmen, kann man Tsipras und seine Ministerriege keineswegs allein verantwortlich machen. Das Gegenteil gilt für das völlig unnötige Scheitern eines anderen Reformprojekts, das Tsipras und sein engster Mitarbeiter Nikos Pappas als wichtigen Schritt zur Demokratisierung des öffentlichen Lebens angekündigt haben. Pappas versprach, die skandalösen Privilegien der (hoch verschuldeten) privaten Fernsehsender abzuschaffen und die TV-Oligarchen für die Sendelizenzen endlich blechen zu lassen.

Den Anfang dieser Geschichte habe ich bereits erzählt. Hier ist das Ende der Blamage nachzutragen: Das höchste griechische Gericht (StE) hat Anfang November das ganze Verfahren annulliert, weil die Versteigerung der Lizenzen nicht von dem unabhängigen Rundfunkrat durchgeführt wurde, sondern unter Regie von Tsipras engstem Vertrauten, seinem Staatsminister Nikos Pappas. Dieses Verfahren wurde vom StE als verfassungswidrig erkannt. Verfassungswidrig war aber auch der frühere rechtlose Zustand, den die Athener Regierungen 25 Jahre lang geduldet hatten und den der neu gewählte Rundfunkrat auf  legale Weise beenden muss.(28) Das bedeutet allerdings, dass die im August (für ca. 250 Millionen Euro) versteigerten neuen Lizenzen hinfällig sind und dass der Staat nach wie vor keine Einnahmen aus TV-Lizenzen bezieht.

Konflikt mit der orthodoxen Kirche

In diesem Fall hat die Regierung Tsipras eine wichtige Reform, die nicht die kleinen Steuerzahler belastet, sondern mächtige Oligarchen zur Kasse gebeten hätte, rein handwerklich verbockt. Das Scheitern einer wichtigen Reform, die ebenfalls zu den kulturpolitischen Prioritäten der Syriza gehörte, hatte andere Gründe. Bildungsminister Nikos Filis wollte den griechisch-orthodoxen Religionsunterricht in den Schulen durch einen allgemeinen Ethik-Unterricht ablösen und damit einen wichtigen symbolischen Schritt zur Trennung von Staat und Kirche machen, die in Griechenland noch längst nicht vollzogen ist.

Die orthodoxe Kirche und ihr Oberhaupt Erzbischof  Ieronymos erhoben erwartungsgemäß heftigen Protest. Daraufhin entschloss sich Tsipras, den Konflikt zu beenden und Filis im Rahmen der Regierungsumbildung von Anfang November in ein anderes Ressort zu versetzen. Doch der linke Journalist, der kurz zuvor bei der Wahl zum Syriza-Zentralkomitee die zweithöchste Stimmenzahl erhalten hatte, zog es vor, ganz aus der Regierung auszuscheiden. Die Ablösung des  Bildungsministers hatte im Namen des Koalitionspartners Anel auch Verteidigungsminister Kammenos gefordert. Der Anlass: Filis war in ein nationales Fettnäpfchen getreten, als er in einem Interview erläutert, warum er die Verfolgung und Ermordung der Pontus-Griechen während des griechisch-türkischen Krieges von 1921/22 nicht als „Genozid“ im Sinne des Völkerrechts bewertet. Seine juristisch begründete Aussage brachte die ganze Phalanx der griechischen Nationalisten in Aufruhr, voran die Verbände der vertriebenen Schwarzmeer-Griechen, zu deren Sprecher sich Kammenos machte.

Der Erzbischof und sein Handlanger Kammenos

Der Anel-Chef betätigte sich  allerdings zugleich als Handlanger der orthodoxen Kirche. Das hat deren Oberhaupt Ieronymos in einem Fernsehinterview mit dem Sender Sky ausgeplaudert: Kammenos habe ihm versichert: „Wenn sie, Herr Erzbischof, es mir sagen, lasse ich morgen die Regierung platzen.“  Der Verteidigungsminister hat den Vorgang nicht dementiert. Tsipras hat zu dem unerhörten Sachverhalt geschwiegen.(Greek Reporter vom 2. November 2016)

Dass sich der Koalitionspartner der Syriza als Agent der orthodoxen Kirche versteht und bereit ist, die Regierung zu sprengen und Neuwahlen herbeizuführen, hat den Syriza-Anhängern erneut vor Augen geführt, auf welches Wagnis sich die Linkspartei mit dem rechtspopulistischen Partner eingelassen hat. Als Juniorpartner der Koalition schien Kammenos verkraftbar zu sein, so lange er sich mit seinem Amt und seinem militärischen Sandkasten zufrieden gab und sein Ministerium nach Gutsherrenart bestellen durfte.(29) Mit Beginn der Flüchtlingskrise wurde er sogar zu einem unentbehrlichen Partner, weil er Personal und leerstehende Kasernen zur Verfügung stellte.

Doch seit einigen Monaten spreizt sich der Mann im Athener Pentagon immer mehr zum Neben-Außenminister auf. Damit stellt er in einer Zeit, in der die Spannungen mit der Türkei jederzeit eskalieren können, ein beträchtliches Gefahrenpotential dar. Kammenos hat nicht nur ein leichtes Mundwerk, sondern auch einen Drang zu leichtfertigen Symbolhandlungen, die häufig die Grenze zur Provokation überschreiten. (30) Das hat er Anfang Dezember 2016 ausgerechnet an der Grenze zur Türkei demonstriert.

Eine chauvinistische Kreuzfahrt - mit den Neonazis

Am 5. Dezember organisierte Kammenos eine Gruppenreise von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses auf die Insel Kastellorizo, den entlegensten Außenposten Griechenlands im östlichen Mittelmeer (die Insel mit nur 400 Einwohnern liegt 120 Kilometer östlich von Rhodos, aber nur 3 Kilometer vor der türkischen Küste). Der mit großem PR-Aufwand inszenierte Auftritt der Athener Delegation war als Botschaft an den türkischen Staatspräsidenten Erdogan gedacht, der kurz zuvor die Zugehörigkeit einiger Inseln zu Griechenland angezweifelt hatte. Dabei sorgte Kammenos für eine besondere Pointe: Er hatte ausdrücklich auch zwei Abgeordneten der rechtsextremistischen Chrysi Avgi eingeladen. Daraufhin sagten die Oppositionsparteien, voran die Nea Dimokratia, ihre Beteiligung ab.

So kam es zu den peinlichen Fotos, auf denen Kammenos, umrahmt von Parlamentariern seiner Anel, der Syriza und der Neonazis, der türkischen Bedrohung ins Auge blickt.(31) Von Kastellorizo aus tönte Kammenos in Richtung Erdogan: „Die Botschaft der Einmütigkeit des griechischen Volkes stärkt die hohe Moral der bewaffneten Streitkräfte“. Indem er die Neonazis an die vorderste Verteidigungslinie gegen den Feind mitnahm, erneuerte er die Botschaft, mit der griechische Rechtspopulisten ihre extremistischen Konkurrenten immer wieder zu Patrioten adeln: In der Stunde der Not gehören selbst die Faschisten zur Volksgemeinschaft. In diesem Fall auch die Neonazis, deren Führer Michaloliakos kurz zuvor getönt hatte, dass Griechenland - „wenn nötig“ - zum Krieg gegen die Türkei bereit sein müsse.

Der beste Kenner und Kritiker der Neonazis, der Journalist Dimitris Psarras, sieht in der Einladung der Chrysi Avgi-Abgeordneten zu der „chauvinistischen Kreuzfahrt“ das Bemühen von Kammenos, „neue Verbündete in den rechtsextremistischen Nestern des tiefen Staates zu suchen“.(32) Noch beunruhigender ist allerdings die Tatsache, dass die drei Syriza-Parlamentarier und Vize-Verteidigungsminister Dimitris Vitsas, ein alter Syriza-Veteran, ihre Beteiligung nicht abgesagt haben,  wie es die Abgeordneten der anderen Parteien getan haben.(33) Sind sie bereits von dem „patriotischen Virus“ infiziert oder mussten sie für den  Zusammenhalt der Koalition einstehen – selbst um diesen schändlichen Preis?

Statisten bei der patriotischen Show von Kammenos

Undenkbar ist auf jeden Fall,  dass die Syriza-Repräsentanten die Reise mit den Neonazis auf eigenen Entschluss angetreten haben. Eine so hochsymbolische Entscheidung muss der Regierungschef selbst treffen. Was das bedeutet, hat die linke innerparteiliche Oppositionsgruppe „53+“ so beschrieben: Tsipras habe zum einen geholfen, eine Partei „weißzuwaschen“, die ihrer kriminellen Handlungen wegen seit zwei Jahren vor Gericht steht. Zum anderen habe die Beteiligung der Syriza  an der patriotischen Show von Kammenos eine politische Inszenierung aufgewertet, die der Agenda der Neonazis entspricht. Und überhaupt seien großspurige Auftritte wie in Kastellorizo das Gegenteil einer besonnenen Außen- und Verteidigungspolitik gegenüber einem Erdogan, „der dabei ist, einen auf Ausnahmerecht basierenden Staat zu schaffen, und der die ganze Region zu destabilisieren droht.“ (Kathimerini vom 6. Dezember 2016)

Das sind nicht nur die Bedenken des geschwächten linken Flügels innerhalb der Linkspartei. Der realpolitische Fatalismus, mit dem viele Syriza-Mitglieder und -Anhänger das Bündnis mit dem populistischen Demagogen und seinen „unabhängigen Hellenen“ akzeptiert und gelitten hat, ist nicht unbegrenzt belastbar. Das stellt auch die Syriza-Führung vor die Frage, ob sich das Land im Fall einer außenpolitische Krise einen Verteidigungsminister - und Neben-Außenminister - leisten kann, den man auf angelsächsisch als „loose cannon“ bezeichnen würde.

Syriza – die neueste Altpartei?

Die Möglichkeiten und Bedingungen einer außenpolitischen Krise, etwa nach einem Scheitern der Zypern-Verhandlungen oder nach einer Wende in der türkischen Flüchtlingspolitik, werde ich demnächst in Le Monde diplomatique analysieren. An dieser Stelle geht es mir um das Schicksal einer Partei, deren raison d’etre für ihre Mitglieder und Anhänger kaum noch zu erkennen ist. Aus der Sicht von unten ist die Führung der Syriza vornehmlich damit beschäftigt, die hämische Erwartung der griechischen Rechten zu widerlegen, dass die „erste Linksregierung“ eine „parenthesis“, eine bloße Episode bleiben wird.  Die größte und womöglich tödliche Gefahr für die Syriza besteht darin, dass sie nur noch als Partei des „Machterhalts“ wahrgenommen wird. Wie die oben zitierten Umfragen zeigen, ist diese Wahrnehmung ist inzwischen so verbreitet, dass die ehemalige Linkspartei sich wie die jüngste, aber rasch gealterte Ausgabe der diskreditierten und verbrauchten Altparteien ausnimmt.

Einige Repräsentanten der Partei tun alles, um diesem Eindruck zu vertiefen. Ein viel kommentiertes Beispiel für die Anpassung der Syriza an die Usancen des klientelistischen Parlamentarismus war der Versuch einiger Abgeordneten, zum Jahresende 2016 ein paar Vergünstigungen für politische Kumpel oder Kunden zu ertricksen. Nach dem bewährten Usus, auf irgendein Gesetz einen völlig sachfremden Paragrafen draufzusatteln, um zum Beispiel ein gültiges Gerichtsurteil aufzuheben.(34)

Dennoch steht immer noch außer Zweifel,  dass sich die Tsipras-Regierung weniger und weniger krasse Skandale und Korruptionsaffären leistet als frühere Regierungen. Aber von einem beispielgebenden Bemühen um eine „Reform der politischen Kultur“ kann ebenfalls keine Rede sein. Dabei würde diese Art von Reform keine Kosten verursachen, sondern im Gegenteil moralisches Kapital akkumulieren. Und dieses Kapital wäre das einzige, das die „erste linke Regierung“ ansammeln und einsetzen könnte, ohne die Gläubiger um Erlaubnis zu bitten.
Wie lautet die Antwort, wenn sich die Syriza-Anhänger zwei Jahre nach dem Januar 2015 fragen, was der damalige Wahlsieg dem Land und der griechischen Linken gebracht hat? Das wird sich an den Kundgebungen ablesen lassen, die Tsipras und seine Minister am kommenden Wochenende im ganzen Land veranstalten wollen, um ihren Anhängern die Bilanz von zwei Regierungsjahren zu erklären.

25.01.2017

Anmerkungen

1) Fotos in ProtoThema vom 27. Dezember 2016 (www.protothema.gr/greece/article/640537/se-xulines-tavles-stirizetai-i-roda-sto-sudagma/).
2) Zum Beispiel, dass der Hinweis auf das fehlende Sicherheitszertifikat von einer Konkurrenzfirma stammte, die bei der Ausschreibung den Kürzeren gezogen hatte; oder das die Aufstellung auf dem Syntagma-Platz von  dem städtischen Dezernenten für Kultur und Sport betrieben wurde, der mit dem „Geschenk an die Athener“ ein paar Punkte für seine politische Karriere sammeln wollte.
3) Siehe meinen Text auf diesem Blog vom 10. Oktober 2016.
4) Die Gebühren, die von den Banken einbehalten werden, liegen in Griechenland zwischen 0,8 und 1,5 Prozent und damit vier bis fünf Mal höher als in anderen EU-Ländern. Diese und weitere Details zur Problematik der Kartenzahlungen dokumentiert die Sonntagszeitung Documento vom 15. Januar 2017.
5) Siehe meinen Beitrag vom 14. Oktober 2016 auf diesem Blog.
6) Zitate siehe: http://adedy.gr/24wrhapergia/ und http://adedy.gr/syllalitiriothessalonikis2016/
7) Siehe dazu den Text auf diesem Blog vom 22. Dezember 2016.
8) Das Schreiben wurde kurz vor Weihnachten abgeschickt, von der griechischen Regierung aber nicht publik gemacht. Im Wortlaut ist es in der Tageszeitung Ta Nea vom 28 Dezember nachzulesen.
9) Zahlen nach Panagiotis Vlachos, in: Social Europe vom 6. Dezember 2017 (www.socialeurope.eu/2017/01/no-intergenerational-equity-millennials/)
10) Ein enger Mitarbeiter von Tskalotos, der Generalsekretär für öffentliche Finanzen Frankiskos Koutedakis, präzisierte gegenüber der EfSyn vom 5. Januar 2017:  Hätte die Regierung die offiziellen Eurostat-Zahlen von Eurostat im April 2017 abgewartet,  hätte die Zahlung den Haushalt von 2017 belastet, „mit der offensichtlichen Gefahr, dass neue Maßnahmen erforderlich wären, um die Ziele für 2017 zu erreichen“.
11) Siehe die Analyse von Carolynn Look beim Nachrichtendienst Bloomberg vom 12. Januar: www.bloomberg.com/news/articles/2017-01-12/ecb-stimulus-extension-followed-disagreement-on-best-path-for-qe) 
12) Süddeutsche Zeitung vom 13. Januar 2017; FAZ vom 3. Januar 2017.
13) Zu beiden Punkten eine ausführliche Darstellung in meinem Text auf diesem Blog vom 22. Dezember.
14) Siehe dazu meinen Text vom 22. Dezember 2016.
15)  Schäuble wörtlich: „Ich würde nicht dazu raten, dass wir versuchen sollten, die Zustimmung des deutschen Parlaments zu gewinnen.“ Interview vom 19. Januar in Davos (www.bloomberg.com/news/videos/2017-01-19/german-finance-minister-schaeuble-on-greece)
16) Allerdings betonen Regierungskreise nach wie vor, es wäre besser, wenn die strengen Wächter aus Washington nicht als Kreditgeber beteiligt wären, zumal die IWF-Kredite weit höher verzinst sind als die ESM-Anleihen.
17) Kathimerini vom 24. Januar 2017. Dazu Näheres in meinen Text vom 22. Dezember 2016 auf diesem Blog.
18) Den Ausdruck benutzte Regierungssprecher Tzanakopoulos gegenüber der Presse, siehe Kathimerini vom 17. Januar 2017.
19) Von den 11,3 Milliarden Euro gehen 9,2 Milliarden an die „offiziellen Gläubiger“, also EZB, ESM und IWF; die restlichen 2,1 Milliarden werden für zweijährige Schatzbriefe fällig, die im Juli 2014 ausgegeben wurden.
20) Deren ehemaliger informeller Anführer Tsakalots ist längst als Finanzminister in die Regierungspolitik eingebunden.
21) So Dora Antoniou in der Kathimerini vom 24. Januar. Ein politische Beirat der Syriza, den die Regierung laufend unterrichten soll, hat seit seiner Gründung Anfang November 2016 nur ein Mal getagt und wird über die aktuellen Entscheidungen des Finanzkabinetts der Regierung nicht einmal informiert (Kathimerini 9. Januar 2017).
22)  EfSyn vom 16. Dezember und Kathimerini vom 31. Dezember 2016.
23) Das sind weniger als 50  Prozent der Syriza-Wähler vom September 2015; dagegen kann die ND mit 85 Prozent ihrer Wähler von 2015 rechnen).
24) Siehe dazu dazu meine Analyse vom 28. September 2016 (Herbstlese, Teil I.).
25) Zuletzt sprachen sich 62 Prozent dagegen aus und nur 32 Prozent dafür (EfSyn vom 16. Dezember 2016).
26) Die Differenzen werden in der Wochenzeitung Documento vom 15. Januar 2017 analysiert.
27) Es geht um einen nie zurückgezahlten 300 000-Euro-Kredit für die kretische Lokalzeitung „Kyrikas Chanion“ (Chanioter Bote), die mehrheitlich im Besitz der Familie Mitsotakis ist. Siehe dazu EfSyn vom 18. Januar 2017.
28) Die Entscheidung des Gerichts wurde im Wortlaut erst im Januar veröffentlicht, siehe Kathimerini vom 13. Januar 2017.
29) Wobei er wie ein guter Gutsherr dafür sorgte, dass die Gehälter für das Militär nicht so stark gekürzt wurden wie die der zivilen Staatsbediensteten.
30) Kammenos und sein taktisches Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Wahrheit habe ich früher auf den Nachdenkseiten beschrieben, etwa in den Texten vom 28. Januar  2015 (www.nachdenkseiten.de/?p=24781) und vom 18. März 2015 (www.nachdenkseiten.de/?p=25437).)
31) Ein Foto (http://www.kathimerini.gr/886770/article/epikairothta/politikh/53-h-kyvernhsh-3eplenei-th-xrysh-aygh) zeigt ganz links den Abgeordneten und Parteisprecher der Neonazis, Ilias Kasidiaris; weitere Bilder findet man bei Google unter den Stichworten „Kammenos, Kastellorizo“).
32) Dimitris Psarras ist Verfasser eines Buches über Chrysi Avgi, das auch auf deutsch erschienen ist: „Neofaschisten in Griechenland“, Hamburg (Laika Verlag) 2014.
33) Immerhin hat der Syriza-Abgeordnete Konstantinos als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses verhindert, dass die Reise von dem Ausschuss mit organisiert wurde; dessen Mitglieder folgten also einer persönlichen Einladung des Verteidigungsministers.
34) Letzteres versuchte einige Syriza-Abgeordnete mit der Begründung, man wolle „Ungerechtigkeiten beseitigen, die von der extremen Anwendung der Gesetze herrühren“. Insgesamt wurden in der letzten Parlamentssitzung 27 solcher unkeuschen Anträge eingebracht (von Abgeordneten aller Parteien), von denen nur vier abgelehnt wurden. Siehe: Kathimerini vom 22. und 23. Dezember 2016).