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Santorini – Natur- und andere Katastrophen

von Niels Kadritzke | 22. Mai 2025

Dieser Text handelt von einer Insel, die durch die Erdbebenserie im Februar 2025 in die Schlagzeilen geraten ist. Auch das heutige heftige Beben, dessen Epizentrum genau zwischen Kreta und Santorini lag, erinnert erneut daran, dass die seismisch aktivste Region des Mittelmeerraums die Ägäis ist. Vor drei Monaten ist die befürchtete Naturkatastrophe zwar ausgeblieben, doch die seismischen Erschütterungen haben dazu beigetragen, die eigentliche Santorini-Katastrophe aufzudecken. Und die ist von den Menschen gemacht.

Schwarmbeben macht Angst

Ausnahmezustand auf der Insel Thira, besser bekannt unter dem Namen Santorini. Rotweiße Absperrbänder am Kraterrand. Warnschilder „Danger Zone“, Zugang untersagt. Das waren die Bilder von Anfang Februar 2025.


Notstand auf Santorini, 6. Februar 2025
© John Liakos/picture alliance/anadolu

Rückblende, sechs Monate zuvor: Im Sommer 2024 tummeln sich in dieser Gefahrenzone tagtäglich tausende Selfie-süchtige Tourist:innen. Sie hocken auf schmalen Brüstungen, drängen sich auf steilen Treppen, um den angeblich weltweit tollsten Sonnenuntergang zu knipsen.

Sechs Monate später war die ganze Sunset-Galerie abgesperrt. Der Grund waren tausende leichte bis mittelschwere Erdstöße, die seit dem 27. Januar die Inseln der Südägäis erzittern ließen. Die Seismologen registrierten innerhalb von 24 Tagen (bis zum 20. Februar) mehr als 22.600 Erdbeben der Stärke >1 auf der Richterskala, von denen knapp 3.000 die Stärke 2, rund 200 die Stärke 4 und 15 die Stärke 5 übertrafen. Der letzte Erdstoß der Stärke >4 wurde am 19. Februar verzeichnet, danach schwächten sich die seismischen Aktivitäten allmählich ab, gingen aber bei niedriger Intensität noch zwei Wochen weiter (Kathimerini, 21. Februar 2025). Mitte März konnten die Seismologen Entwarnung geben.

Das Euro-Mediterranean Seismological Center (EMSC), das die Erdstöße gemessen und aufgezeichnet hat(1) sprach von einer „Seismic Crisis“ der seltenen Art. Die Fachwelt nennt es „Schwarmbeben“. Unter diesem Stichwort erfährt man bei Wikipedia: „Die Beben haben meist eine ähnliche Stärke und ihre Häufung kann mehrere Tage bis zu einem Jahr andauern … Da die Magnituden der Erdbeben eines Erdbebenschwarmes sich nur wenig unterscheiden, kann keine Einteilung der Seismizität in Vor-, Haupt- und Nachbeben vorgenommen werden.“

Das wochenlange Schwarmbeben im Winter 2025 war nach Expertenmeinung eher ein vulkanisches als ein tektonisches Phänomen. Die Erschütterungen wurden nicht durch die Reibung oder Verkantung tektonischer Platten ausgelöst, sondern durch Magmamassen, die in acht bis zehn Kilometer Tiefe gegen die Erdkruste pressen. Und zwar in einer Dreieckszone zwischen Santorini, Amargos und Anafi, wo der Meeresboden von acht größeren Bruchlinien (fault lines) durchfurcht ist. Das Magma suchte sich „Ventile“ vornehmlich entlang des etwa 20 Kilometer langen Ánydros-Grabens (benannt nach der unbewohnten und nur 1,2 Quadratmeter großen Insel, die auf halber Strecke zwischen Amorgos und Santorini liegt).

Die Experten waren sich auch in einem zweiten Punkt einig: Ein schweres Erdbeben drohte nicht. Ihr Worst-Case-Szenario war, dass der Magmadruck den Ánydros-Graben weiter aufreißen könnte. Doch selbst wenn dies ein „Hauptbeben“ ausgelöst hätte, rechnete man maximal mit der Stärke 6,1.(2)

Ein Vulkanausbruch drohte nie

Noch wichtiger war ein weiterer Befund: Auf keinen Fall drohte ein Vulkanausbruch. Die seismologisch-vulkanologische Fachwelt versicherte unisono, dass die Bebenserie weder den unterseeischen Krater in der Caldera von Santorini aktivieren könne, noch den Krater Kolumbos, der sieben Kilometer vor der Nordostküste von Santorin in nur 20 Meter Meerestiefe schlummert.


Die Geophysikerin Emily Hooft von der University of Oregon, die den Kolumbos seit Jahren erforscht, sah eine „geringe Wahrscheinlichkeit“, dass Magmamassen die Erdkruste durchbrechen könnten – und wenn überhaupt, dann am Meeresboden südwestlich von Ánydros, 20 Kilometer nordöstlich von Santorini.(3)

Vor diesem Hintergrund waren die aufgeregten Schlagzeilen, die vor drei Monaten in der Presse und in sozialen Medien auftauchten, schlichtweg Quatsch. Santorini war in diesem Frühjahr keineswegs eine „Insel auf dem Pulverfass“, wie es die Schlagzeile der Stuttgarter Zeitung vom 18. Februar suggerierte. Ein Schwarmbeben von unvorhersagbarer Dauer ist für die Betroffenen eine Tortur, aber von einer drohenden Naturkatastrophe konnte keine Rede sein.(4)

Die andere Katastrophe – menschengemacht

Das Schwarmbeben von 2025 hat den Blick jedoch auf eine andere Katastrophe gelenkt, die eine anthropogene, ein von Menschen verursachte Katastrophe ist. Die Missachtung der natürlichen Gegebenheiten einer vulkanisch entstandenen Insel hat zu einem Desaster geführt, das zwar nicht unmittelbar Menschenleben bedroht, jedoch das Geschäftsmodell des Santorini-Tourismus zu verschlingen droht.

Das führt zu unserer Ausgangsfrage zurück: Warum musste der Zugang zum Rand der Caldera vorsorglich gesperrt werden? Die Antwort gab Efthymis Lekkas, Leiter der staatlichen Behörde, die für die Planung der Schutzmaßnahmen bei Erdbeben (OASP) zuständig ist. Der Professor für „Management von Naturkatastrophen“ erklärte in einem Interview: „Fast auf der ganzen Länge der Caldera-Kante besteht eine hohe Gefahr; aber offenbar auch eine ebenso hohe Risikobereitschaft der Menschenmassen, die sich genau an dieser Gefahrenstelle zusammenballen, und das mindestens acht Monate im Jahr.“ (Kathimerini, 6. Februar 2024)

Das von Lekkas geleitete Geologenteam hat Anfang Februar entlang der Calderakante – von den Einheimischen „die Klippen“ (τα γκρεμνά) genannt – fünf Zonen absperren lassen. Drei dieser Zonen, für die ein erhöhtes Risiko von Erdrutschen und Abbrüchen ermittelt wurde, sind dicht überbaut, obwohl sie auf den „Klippen“ liegen, die mit einer Neigung bis zu 70 Grad in die Caldera-Bucht abstürzen. (Kathimerini, 5. Februar)

Aus statischer Sicht hätte hier überhaupt nicht gebaut werden dürfen. Der Kraterrand ist erdrutschgefährdet, erklärte Panayotis Karidis, Inhaber des Lehrstuhls für Erdbeben-Bautechnik am Athener Polytechnikum, „zumal sich durch die Erdstöße der letzten Zeit das Gestein gelockert hat, und wenn noch Regen dazu kommt, der den Boden durchnässt, kann das ganze abrutschen.“(5)

Auch der ehemaligen OASP-Vorsitzende Dimitris Papanikolaou hielt ein striktes Bauverbot auf den Calderaklippen für dringend geboten. Doch leider, meinte der Geologie-Professor, „hat man bei der touristischen Entwicklung der Insel die Umwelt und Sicherheits-Aspekte völlig außer acht gelassen. Das Ergebnis sehen wir heute: Luxushotels mit Pools und Jacuzzis, die über den gefährdeten Calderaflanken hängen, wo der vulkanische Boden elastisch und instabil ist.“ (Reuters, 7. Februar 2024)

139 Pools auf prekären Klippen

Was der Geologe schildert, kann man auf der Google-Earth-Karte von Santorini überprüfen. An der Westküste von Thira gibt es zwischen der Bucht von Athinios im Süden und dem „Dorf“ Oia (ausgesprochen: Ia) im Norden nicht weniger als 139 größere und kleinere Pools, die direkt auf der Caldera-Klippe aufsitzen (und noch mal die doppelte Anzahl in einer 100-Meter-Zone dahinter).

Solche „infinity pools“ gehören zu Hotelanlagen, die der touristischen Kundschaft den „unübertrefflichen Sunset-Blick auf die Caldera“ verkaufen.

Diese Pools sind ein spezieller Risikofaktor, erklärte der Geologe Lekkas gegenüber der Wochenzeitung Documento (3. Februar 2025): „Ein kleiner Pool hat ein Gewicht von mindestens zehn Tonnen, und das in einer morphologischen Formation, die seismische Schäden um bis zu 170 Prozent verstärkt.“ Deshalb wurden Anfang Februar alle Becken, die über der Kraterkante hängen, sofort geleert – und dürften wenn es nach Lekkas ginge, gar nicht mehr gefüllt werden.

Das wäre das Aus für all die „pools with sunset-view“, wie sie auf den Internet-Seiten der Luxusherbergen abgebildet sind, die mit glamourösen Namen protzen: Adonis Wellness Resort oder Symphonie Suites, Volcano View Hotel, Soil of Sun Luxury Villas oder Santorini Princess Presidential Suites.

Einige dieser Anlagen erstrecken sich über sechs Stockwerke, die aber nicht in die Höhe streben, sondern am Caldera-Abhang nach unten wuchern. Solche Strukturen hätten niemals entstehen dürfen, erklärte mir ein Bauingenieur, der sich in Santorini gut auskennt. Das verbiete der Bau-Untergrund an der Westseite von Thira von selbst.

Höhlensuiten und illegale Tunnel

Wie sieht dieser Untergrund aus? In seinem geologischen Standardwerk über die ägäische Inselwelt hat Alfred Philippson die Schichtung der Caldera-Wand beschrieben: über den Schlacken- und Lapilli-Massen, die den schmalen Strand ausmachen, erhebt sich eine Lavabank, die durch eine bis zu 30 Meter mächtige Bimssteinschicht gedeckelt ist.(6)

Bimsstein (auf griechisch elafrópetra, „Leichtstein“) kann zwar als Leichtbaustein verwendet werden, hat aber nur eine geringe Tragfähigkeit. Andererseits hat die Bimssteinschicht von Thira zwei Eigenschaften, die von den Einheimischen seit jeher genutzt wurden: Sie isoliert gut gegen Kälte und Wärme, und sie lässt sich leicht aushöhlen. Deshalb hatten viele der alten Häuser am Kraterrand unterirdische, gut klimatisierte Höhlenkammern und vor allem Zisternen, in denen der Winterregen gespeichert wurde.

Diese bauliche Tradition hat sich das touristische Gewerbe angeeignet und zum Exzess getrieben. Die Zisternen wurden in „Höhlensuiten“ umgewandelt. Und viele der neuen Luxus-Resorts auf der Caldera-Kante haben die Bimssteinschicht weiter durchlöchert und neue Wohnhöhlen geschaffen, die sie auf ihren Websites bewerben.

Zum Beispiel das Perivolos Cave Hotel, das zwanzig „direkt in das Kliff hinein gefräste individuelle Suiten“ anbietet, von denen jede eine „spektakulären Aussicht auf die Caldera aus dem infinity pool bietet“. Die Cocoon Cave Suites inserieren fünf exklusiven „Höhlensuiten“, die „aus der spektakulären vulkanischen Landschaft von Santorini herausgeschält wurden“ und als „Sinnzufluchtsort“ vermarktet werden.

Das Grand Ambassador Hotel in Akrotiri preist „aus dem Vulkanfelsen herausgeschälten Honeymoon Pool Suites“ an, die nur durch einen Tunnel mit „mystifizierender Atmosphäre“ zu erreichen sind. Auch die Dana Villas am Rand des Hauptortes Thira bieten neben „Cave Pool Suites“ mehrere „Suiten mit Caldera-Blick“, die am Ende eines „geheimen Tunnels“ liegen.

Durchlöchert wie Schweizer Käse

Besonders krasse Beispiele illegaler Aushöhlungen schilderte die Architektin Elsa Vaianou einer Reporterin der Zeitung To Vima. Da kaufte ein Investor ein Grundstück, das relativ preisgünstig war, da es keine Aussicht auf die Caldera bietet. Dieses Manko hat er beim Bau des Hotels beseitigt, indem er einen 80 Meter langen Tunnel durch die Bimssteinschicht in Richtung der Klippen fräsen ließ. Die Flanke der Caldera wurde also von innen durchstoßen, um Luxussuiten mit Pools und Sunset-View zu schaffen. Ähnlich dreist verlief eine illegale Landnahme südlich des Hauptorts Thira (Fira). Auch hier lag das erworbene Grundstück auf der falschen Seite, und auch hier ließ der Besitzer einen Tunnel graben, um einen Caldera-Blick zu eröffnen, obwohl die Bimssteinschicht bereits „wie ein Schweizer Käse“ durchlöchert ist, wie die Architektin klagt. Und dabei geht die illegale Bautätigkeit immer weiter: „Überall entstehen neue große touristische Einheiten, und die Gesetze werden einfach missachtet“.


Am Strand von Santorini: Erbebenopfer warten auf ihre Evakuierung, 22. Juli 1956
© Uncredited/picture alliance/ap

Das gilt auch für eine Rechtsverordnung von 1990, die für eine Baugenehmigung geologische Gutachten über die „seismische Resilienz“ vorschreibt. Doch die lokale Baubehörde hat solche Gutachten offenbar nie verlangt. Das kam im November 2024 ans Licht, als das Athener Umweltministerium endlich aufwachte und anordnete, dass für alle touristischen Strukturen auf dem Kraterrand statische Gutachten nachzureichen seien. Geschieht das bis Ende 2026 nicht, soll die Anlage ihre Betriebslizenz verlieren. Darüber hinaus wurde ein vorläufiges einjähriges Bauverbot für die gesamte Caldera-Kante verfügt.

Seit 2021 fordern die Experten einen Baustopp

Diese Anordnung des Umweltministeriums kam zehn Wochen vor Beginn des Schwarmbebens. Doch die Athener Regierung war schon viel länger über den baulichen Wildwuchs informiert. Am 7. Juli 2021 hatte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis eine Expertenkommission der „Griechischen Gesellschaft für den Schutz der Umwelt und des Kulturellen Erbes“ (ETPP) empfangen. Die übergab dem Regierungschef einen Report über die Zustände in Santorini, erarbeitet von einer Expertenkommission, die sich auf der Insel gründlich umgesehen hatte.

Dieser ETPP-Bericht war alarmierend. Er betonte die „dringende Notwendigkeit einer bodentechnischen Untersuchung, um die Sicherheit der Gebäude auf der Caldera zu überprüfen“. Die Kommission hatte außerdem ermittelt, dass viele dieser Gebäude keine Baugenehmigung hatten. Deshalb forderte sie, „die willkürliche Bautätigkeit, die innerhalb der Caldera vonstatten geht, sofort zu stoppen“. (To Vima, 8. Juli 2021)

Dieser Forderung ist die Regierung Mitsotakis nie nachgekommen. Als dreieinhalb Jahre später das Schwarmbeben die Bevölkerung von Santorini in Panik versetzte, erklärte der griechische Regierungschef in einem Reuters-Interview, die Sicherheit auf der Insel sei voll gewährleistet: „Wir haben ein strenges Baurecht, das im ganzen Land angewandt wird, besonders in den stärker von Erdbeben gefährdeten Gebieten. Deshalb sind wir uns sehr, sehr sicher, dass alles getan wurde, was getan werden konnte.“(7)

Regierung hintertreibt Bauverbot

Solches Gerede gehört zu den zahlreichen Flunkereien, in die sich Mitsotakis immer dann flüchtet, wenn die griechische Wirklichkeit das Narrativ von seiner straffen, kompetenten und effektiven Regierungsführung (epiteliko kratos genannt) Lügen straft.(8) Wobei es sich in diesem Fall tatsächlich um eine Lüge handelt. Denn der Regierungschef kannte nicht nur die ETPP-Forderung eines sofortigen Bauverbots. Die von ihm am kurzen Zügel geführte ND-Parlamentsfraktion hat auch eine Regelung hintertrieben, die Lekkas – als staatlicher Beauftragter für den Erdbebenschutz – schon 2022 ausgearbeitet hatte. Sie sah eine Grenzlinie vor, jenseits derer am Caldera-Abhang nicht gebaut werden darf, damit „wenigstens das Bauen auf öffentlichem Grund verboten wird“. Dieser Regelung hätte das Parlament zustimmen müssen, „aber das ist nie geschehen“ , wie Lekkas bitter anmerkt.(9)

Ob ein gesetzliches Stoppschild etwas gebracht hätte, ist allerdings fraglich. Verbote stehen in Griechenland häufig nur auf dem Papier. Auch der Baustopp, den das Umweltministerium im November 2024 anordnete, wurde nie durchgesetzt. Anfang Februar führte mich ein alter Freund, der das Treiben an der Kraterkante seit Jahren verfolgt, auf Google Earth nach Santorini. Er wollte mir zeigen, wie an einem der Caldera-Abhänge trotz des Bauverbots das Fundament für eine weitere mehrstöckige Struktur gegossen wurde. „Da macht jeder was er will, und sie nutzen jeden Quadratmeter. Die bauen drauf los, bis sie an ein anderes Gebäude stoßen. Und dabei schnappen sie sich öffentliche Flächen, ohne dass die Gemeinde einschreitet.“

Erschlichene Privatisierung

Was hier am Fuß der „Klippe“ vor sich geht, hat die Kathimerini-Reporterin Elvira Krithari recherchiert. Die bereits gegossene Betonplattform bildet die Basis für eine Pfeilerkonstruktion, die eine weitere Apartment-Terrasse tragen soll. Dass solche illegalen „Erweiterungen“ unter der Nase der Behörden stattfinden, ist für Krithari keine Ausnahme, sondern „typisch“ für eine Insel, auf der unter den Bauunternehmern eine strikte „Omerta“ herrscht: Keiner zeigt den anderen an, weil alle irgendwelche illegalen Projekte betreiben, die alle höchst profitabel sind. Im geschilderten Fall kann das Bauunternehmen wegen der schwierigen Hanglage einen um 80 Prozent erhöhten Preis berechnen. (Kathimerini, 12. Februar 2025)

Ganz in der Nähe ist die Privatisierung öffentlicher Flächen längst vollzogen. Das Boutique Hotel Petit Palace Suites (Slogan: „each corner whispers luxury“) wuchert über sechs kaskadenartige Ebenen an der Steilwand nach unten. „Da hat einer oben am Kraterrand ein privates Grundstück gekauft, um von da aus nach unten zu expandieren, und das alles auf Gemeindeland“, erklärt mir der Santorini-Kenner E. Die illegale Aneignung hat dem Besitzer bereits Millionengewinne eingebracht.(10) Aber wie üblich habe niemand geklagt, auch nicht die Kommune. Mit einer Ausnahme – unweit der Petit Palace Suites hängt ein Betonskelett wie eine Riesenspinne an der Klippe. „Das ist die einzige Bauruine, aber das Projekt wurde durch den Einspruch eines Nachbarn gestoppt, nicht durch die Gemeinde“, erzählt E. Dann holt er ein weiteres Beispiel für illegale Landnahme auf den Bildschirm.

Im äußersten Südwesten der Insel hat ein Athener Ehepaar vor Jahren ein Grundstück von wenigen Hektar gekauft – von einem Bauern, der behauptete, sein Großvater habe hier einen Acker betrieben. Dokumente für den Besitzanspruch gab es nicht, aber das Grundstücksamt hat den Verkauf abgesegnet. Im Lauf der Jahre annektierten die neuen Besitzer schrittweise das umliegende felsige Gelände. Durch die illegale Privatisierung von Gemeindeland entstand eine ums Zehnfache vergrößerte Fläche, auf der sich vier große touristische „Resorts“ und ein Restaurant angesiedelt haben.

Ermöglicht wird solcher Landraub durch ein systemisches Defizit, das gewollt ist. Die vorbildlichen Gesetze, mit denen Mitsotakis protzt, haben für die Praxis, wie sie in Santorini zu besichtigen ist, keinerlei Bedeutung. Denn eine Kontrolle der praktischen Umsetzung findet nicht statt; entweder weil die erforderlichen Institutionen nicht geschaffen oder weil die nötigen Finanzmittel nicht bewilligt werden – oder beides.

Statische Gutachten – Fehlanzeige

Deshalb wird die Anordnung, für die Gebäude in der Gefahrenzone von Thira nachträglich statische Gutachten vorzulegen, ebenso folgenlos bleiben wie die verfügte Überprüfung aller Baulizenzen der letzten fünf Jahre, die das Umweltministerium ebenfalls angeordnet hat. Diese Überprüfung sollte bis Jahresende 2024 abgeschlossen sein, und es wurde sogar ein Kontrollorgan bestimmt. Das ist – kein Witz – das Bauamt von Santorini, also just die Staatsbediensteten, die bei der Vergabe der Lizenzen eine Auge oder auch zwei zugedrückt haben.

Was ist aus diesen Kontrollen geworden? Als die Staatsanwaltschaft Naxos Mitte Februar in Santorini anfragte, wie weit die Überprüfung gediehen sei, bekam sie von der örtlichen Baubehörde den knappen Bescheid: Mangels Personal haben noch keine Kontrollen stattgefunden.

Was die nachträgliche Vorlage statischer Gutachten betrifft, so ist dieses Unterfangen ohnehin auf Sand beziehungsweise auf Bimsstein gebaut. Der obenerwähnte Bauingenieur hat mir erklärt, warum eine belastbare statische Untersuchung auf der Caldera-Kante gar nicht möglich ist: Um die erforderliche Gesteinsprobe zu gewinnen, müsste eine Bohrung mindestens 10 Meter tief in den Baugrund getrieben werden. Das erforderliche Bohrgestänge ist jedoch so schwer und so sperrig, dass sein Einsatz viel zu riskant wäre. Aber wie werden dann die geforderten Gutachten zustande kommen? „Ist doch klar: Es wird ein Markt für Gutachten entstehen, auf dem man für ein paar Tausend Euro einen statischen Persilschein kaufen kann.“

Drei Stufen der Illegalität

Das erlaubt die Prognose: Spätestens dann, wenn die Bebenängste vom Frühjahr 2025 verdrängt und die Mahnungen der Experten vergessen sind, wird die Bautätigkeit an der Kante der Caldera und am Rande der Legalitität weitergehen. Wobei in der Grauzone zwischen legal und illegal drei Stufen zu unterscheiden sind:

- Bauliche Maßnahmen ohne jede Genehmigung;
 
- kleine oder auch große Abweichungen von genehmigten Bauplänen;
 
- Durchwinken von Bauplänen, die gegen Gesetze oder Verordnungen verstoßen, durch Beamte der lokalen Baubehörde, die entweder bestochen oder bedroht wurden. (11)

Was die dritte Stufe der Illegalität betrifft, so sind die Praktiken von Insel zu Insel verschieden. Für die Bewilligung einer Lizenz gibt es keine einheitlichen Kriterien: „Der eine Sachbearbeiter bewilligt einen Bauantrag, der andere nicht“, heißt es in einem Bericht in To Vima (11. Februar 2022). Auch Abweichungen von genehmigten Bauvorhaben sind nur mit geringem Risiko verbunden. Zwar soll nach den Verwaltungsvorgaben jeder dritte Bau nach Fertigstellung kontrolliert werden, aber auch diese Vorschrift steht mangels Personal nur auf dem Papier.

Pläne für eine systematische Erfassung illegaler Bautätigkeiten durch Drohnen schlummern seit Jahren in den Schubladen des Athener Umweltministeriums. Die Idee stammt aus der Zeit des griechischen Staatsbankrotts, als der Fiskus undeklarierte Besitztümer von Steuersündern ausfindig machen wollte. Das erste Drohnen-Beschaffungsprogramm wurde bereits 2011 ausgeschrieben; 14 Jahre später äußert das Ministerium die Hoffnung, die KI-gestützte Technik zur Auswertung der Luftaufnahmen könnte vielleicht „in einem Jahr“ funktionieren. Als erster Einsatzort ist Mykonos geplant, wo nach Schätzungen des Ministeriums bei der Hälfte aller Projekte baurechtliche Verstöße vorliegen. (Kathimerini, 18. November 2024)

18,5 Hektar Gesetzlosigkeit

Noch vordringlicher wäre der Einsatz über der Caldera von Thira – zumal nach dem Schwarmbeben diesen Winter. Gesicherte Zahlen über illegales Bauen in Santorini gibt es nicht. Einen Anhaltspunkt bieten immerhin die polizeilichen Ermittlungen. Demnach haben in den letzten drei Jahren nur 398 Kontrollen stattgefunden, die in 78 Fällen zu Strafanträgen geführt haben (To Vima, 9. Februar 2025). Wertet man dies als Stichprobe, so wäre etwa jeder vierte Neubau auf Santorini auf die eine oder andere Weise illegal.

Von dieser Dimension gehen auch die von den Medien befragten Bauingenieure aus. Auf den Caldera-Klippen liegt dieser Anteil noch deutlich höher. Die Athener Beraterfirma Samaras + Partners ist mit der Ausarbeitung eines Raumordnungsplanes für Thira betraut. Bei ihrer anfänglichen Bestandsaufnahme hat sie auf der Gemarkung der drei Caldera-Gemeinden illegale Strukturen im Umfang von insgesamt 18,5 Hektar oder 185.000 Quadratmetern ermittelt. Nimmt man die durchschnittliche Breite der gefährdeten Zone entlang der Klippen mit 50 Metern an, würde das bedeuten, dass auf 3,7 Kilometer Länge illegale Strukturen entstanden sind.(12)

Wie viele der Strafanträge zu einer Verurteilung geführt haben, ist nicht bekannt. Sicher ist nur: In keinem Fall wurde eine illegale Struktur abgerissen. Das entspricht dem Usus auf nationaler Ebene: Die griechischen Gerichte verhängen selbst bei schweren baurechtlichen Verstößen lediglich Geldbussen, ordnen aber fast nie einen Abriss an.

Doch selbst wenn das geschieht, erklären die lokalen Behörden, dass sie nicht über das Gerät oder die Gelder für einen Abriss verfügen. Ein schlagendes Beispiel bietet die Touristeninsel Rhodos. Dort hatte die lokale Baubehörde zwischen 1993 und 2022 immerhin 630 Abrisse angeordnet. Aber nur einer wurde ausgeführt (EfSyn, 8. Juni 2023). In den meisten Fällen schoben sich die Gemeinde- und die Regionalverwaltung die Verantwortung für den Abriss zu, bis am Ende beide Instanzen erklärten, dass sie nicht über das nötige Räumgerät verfügten (Kathimerini, 7. Juni 2023). In einem typischen Fall (vom Sommer 2021) scheiterte der Abriss, weil die Stadtverwaltung von Rhodos erklärte, sie habe keinen Platz, um die Balken einer abzureißenden Strandbar zu lagern.

Exemplarische Raumunordnung

In Thira hat die freibeuterische Bautätigkeit ein Stadium erreicht, das der Bürgermeister Nikos Zoros als „Raumunordnung“ bezeichnet. Auch andere einheimische Stimmen beklagen in Interviews die bauliche „Anarchie“ an der Caldera, wobei sie die Verantwortung am liebsten dem „Athener Staat“ zuschieben. Aber die Schuldfrage liegt komplizierter.

Der erste Entwurf einer auf Santorini zugeschnittenen „Raumordnung“ geht ins Jahr 1993 zurück. An einem verbindlichen Bebauungsplan (πολεοδομικο σχεδιασμο) wird seit fast 20 Jahren herumgewerkelt. Doch der Abschluss und die gesetzliche Verabschiedung werden laufend hinausgeschoben. Das freut die einheimischen Bauunternehmen, vor allem aber die lokalen und internationalen developer (wie sich die Immobilienhaie zu nennen belieben).

In die Erarbeitung einer umfassende Raumordnung, die mit ihren 227 „lokalen Bebauungsplänen“ (TPS) sämtliche Regionen des Landes abdecken soll, sind bereits 600 Millionen Euro geflossen, hauptsächlich aus EU-Programmen. Die Vollendung des Jahrhundertwerks wurde seit 2018 schon drei Mal verschoben; vor sechs Monaten verkündete Regierungschef Mitsotakis, es werde wohl noch „zwei bis drei Jahre“ dauern, da jeder einzelne TPS noch vom Obersten Gericht für rechtens erklärt werden muss.

Bis es so weit ist, wird gebaut wie weiland im Wilden Westen zur Zeit des Goldrauschs. Tatsächlich ist die Gefahrenzone am Kraterrand für die touristische Destination Santorini eine wahres Eldorado. Auch deshalb haben die lokalen Behörden und die Athener Regierung dafür gesorgt, dass zu Beginn der heißen Tourismus-Phase die rot-weißen Absperrbänder verschwunden sind und nichts mehr an die Panik im Januar und Februar erinnert.

The Travel Show Must Go On

Schon am 22. März gab Tourismus-Ministerin Olga Kefalogianni in der Travel-Show bei CNN „grünes Licht“ für die Nachbeben-Saison: "Santorini ist offen und funktioniert völlig normal. Die Besucher sollten sich beim Buchen für diese Saison hundertprozentig sicher fühlen.“ Vor allem habe man „die erforderlichen Vorsorge- und Sicherheitsmaßnahmen bereits umgesetzt“, die Infrastruktur sei „verstärkt“ worden (zitiert nach: Greek Reporter, 23. März 2025). Zwei Wochen später erklärte Kefalogianni, ihr Ministerium unterstütze aktiv „die Bemühungen, die Attraktivität von Santorini als einer touristischen Top-Destination zu erhalten“. Über die angeordnete Überprüfung der illegalen Bauten sagte die Ministerin nichts.

Trotz dieser Regierungspropaganda muss das Santorini-Business mit einer deftigen Delle rechnen. Für das zweite Quartal 2025 (April bis Juni) wird ein Rückgang der Vorbuchungen um 30 Prozent gemeldet. Für die Monate April und Mai (in die auch die Osterwoche fiel) gingen die Buchungen bei den Hotels sogar um 60 bis 70 Prozent zurück. Im gleichen Zeitraum stiegen die Touristenzahlen für ganz Griechenland um rund 10 Prozent.

Die Hoteliers von Thira vergleichen diesen „Crash“ mit der katastrophalen Corona-Periode 2020/21. Viele halten ihre Luxusherbergen bis Ende Mai geschlossen; einige werben mit Preisnachlässen zwischen 20 und 80 Prozent. Und fast alle machen für die Krise die „Panikmache“ der Massenmedien und die „falsche Kommunikation“ der Regierung verantwortlich: Die Medien hätten dem Schwarmbeben „übertriebene Publizität“ gegeben, klagen sie. Und die Obrigkeit habe die Panik noch geschürt, indem sie Einheiten der Armee und des Katastrophenschutzes auf die Insel entsandte. Deshalb fordert die Branche die Regierung auf, eine Kampagne zu finanzieren, „um das Image von Santorini wieder zu reparieren“.(13)

Die Gemeinde Thira unternimmt einen Reparaturversuch, der wenigstens einen Anflug von Selbstkritik erkennen lässt. Für das Jahr 2025 hat sie die „Förderung der Authentizität“ als Leitmotiv ausgegeben. Man will die „örtliche Kultur“ und die „bäuerliche Gastronomie“ besser präsentieren, „den Schutz der natürlichen Umwelt“ betonen und „authentische Erlebnisse für die Besucher“ organisieren.

Authentizität mit Honeymoon-Suiten und Flying Dresses

Aber wie soll das gehen? Was an der Caldera von Santorini heute als authentisch verkauft wird, nennt der Kolumnist Michalis Tzintzinis einen „Überbau aus Gips“ (Kathimerini, 9. Februar 2025). Die verlogene Kykladen-Idylle wird auf dem weltweiten Tourismusmarkt als Kulisse für ein „unvergessliches“ Luxuserlebnis vermarktet: als Dreierpack von Infinity Pool + Calderablick + Sonnenuntergang für 500 bis 3000 Euro pro Tag, wobei für die Hochsaison in der Regel ein Mindestbuchung von drei bis fünf Tagen gefordert wird.

Neben dem Luxusresort- und Gastronomie-Gewerbe hat sich in dieser Gipskulisse eine Event-Industrie eingenistet, die sich auf zwei Hauptgeschäftszweige verteilt. Das ist zum einen die lukrative Hochzeitsbranche, die vor dem Schwarmbeben für die Saison 2025 schon 1200 Bestellungen in den Büchern hatte (vor allem von Paaren aus China, den USA und Großbritannien). Damit ist (oder war) die Insel einer der populärsten "wedding destinations“, wie es auf der Website Santorini.net heißt.(14)


Wer auf Santorini heiratet, bucht häufig auch ein professionelles Fotoshooting
© Manfred Neubauer/picture alliance/SZ Photo

Wie viele dieser aufwendigen Events (Trauzeremonie im Rathaus + Hochzeitsessen + Hochzeitsnacht in der Honeymoon-Suite + professionelles Fotoshooting) seit März abgesagt wurden, ist nicht bekannt. Die inserierten Rabatte lassen auf sinkende Nachfrage schließen, aber noch hoffen die Anbieter, dass sich die Konjunktur gegen Sommer und Herbst wieder stabilisiert.

Die zweite Event-Branche bietet unter dem Label „Flying Dresses“ ein „individuelles“ Photoshooting für ein vorwiegend weibliches Publikum, dem ein Bild in wallenden, knallfarbenen Kleidern von dreifacher Bettlakengröße zwischen 400 und 1500 Euro wert ist. „Look and Feel like a Queen“, verspricht eines der Inserate mit Fotos von elfengleich schwebenden Wesen vor „atemberaubender“ Naturkulisse. Ein anderes Photoshooting-Unternehmen bietet als Location wahlweise eine blaue Kirchenkuppel oder das Dach eines „authentisch“ kykladisches Hauses mit Caldera-Background.

Beide Zweige dieser Event-Industrie sind auf die vulkanische Kulisse angewiesen, also wären beide Geschäftsmodelle durch Verbotszonen oder Absperrungen am Kraterrand stark gefährdet.

Zwei Mausklicks – zwei Welten

Die Schändung einer von gewaltigen Naturkräften geschaffenen Landschaft ist mit Worten kaum zu beschreiben, aber man kann sie sich mit zwei Mausklicks vor Augen führen: Mit einem Klick auf eine Website der „Flying Dresses“-Branche (flyingdress.photo, yannisvys.com oder santoriniphotoshoot.com), gefolgt von einem Klick auf die Website santorini.net. Hier wird auf eine Ausstellung von Schwarz-Weiß-Fotos hingewiesen, die im Sommer 2025 in Thira zu sehen sein wird. Die berühmteste griechische Fotografin Elli Sougioultzoglou-Seraidari, die sich “Nelly” nannte, hat das „authentische“ Inselleben vor hundert Jahren dokumentiert.(15) Wem beim Betrachten dieser Ansichten – von den Menschen, von ihren Kirchen und Häusern, von den nackten Caldera-Klippen – nicht vor Rührung oder vor Wut die Tränen kommen, hat kein Herz.

Das lokale Kulturamt will mit den Fotos aus dem Archiv des Athener Benaki-Museums „den 100. Jahrestag von Nellys erstem Besuch in Santorini würdigen, und damit ihre Vision von der Authentizität und zeitlosen Schönheit der Insel – eine Vision, die immer noch Künstler und Reisende aus aller Welt inspiriert.“

Tatsächlich dokumentiert der Kontrast zwischen Nellys Schwarz-Weiß-Fotos und dem bonbonbunten Flying-Dress-Kitsch den Abgrund zwischen der Santorini-Kulisse von Heute und dem Gestern, das damit vernichtet wurde: die Lebenswelt von Menschen, „die ein Gespür für die Gefahren entwickelt hatten, und für das richtige Maß, das sie wahren mussten, um Erdbeben, Piratenüberfällen, Dürreperioden und Armut zu überleben“, wie es Nikos Konstandaras in der Kathimerini vom 9. Februar 2025 formuliert hat.

Übertourismus und Authentizität

In Santorini führt die Ausbeutung einer Landschaft, die durch eine zerstörerische Katastrophe entstanden ist, zur Zerstörung der viel beschworenen „authentischen“ Inselkultur. Diese unvermeidliche Wirkung des Tourismus ist natürlich nicht auf Santorini beschränkt. Aber hier ist längst das nächste Stadium erreicht: ein Übertourismus, der selbst die Grundlagen des klassischen Kykladen-Tourismus zerstört.

Eine der fatalen Folgen ist die Wohnungsnot der einheimischen Bevölkerung, die durch die Ausbreitung von Airbnb-Unterkünften noch verschärft wurde. So klagt eine lokale Initiative: „Viele öffentliche Angestellte, etwa medizinisches Personal oder Lehrkräfte, die auf die Insel entsandt wurden, können keine anständige Wohnung zu vernünftigen Preisen finden. Sie verlassen Santorini, was in wichtigen Bereichen zu einem Personalmangel führt.“ Darunter leidet auch die Tourismusbranche. Schon in der letzten Saison konnten mangels Unterkünften nicht genügend Saisonarbeitskräfte nach Santorini gelockt werden.

Diese Krisendynamik wird sich im Jahr des Schwarmbebens noch beschleunigen. Viele Einwohner:innen von Santorini haben die Panik, die sie im Frühjahr 2025 durchmachten, auch als Weckruf erlebt. Als Aufforderung zum Nachdenken über ihr touristisches „Entwicklungsmodell“ das einen Übertourismus hervorgebracht hat, der sich selbst zerstört.

Die zwei Säulen der griechischen Tourismus-Industrie

Über die Zukunft dieses Tourismus-Modells muss sich auch die Athener Regierung Gedanken machen. Im zuständigen Ministerium werden seit Jahren Überlegungen zur langfristigen Perspektive der „griechischen Schwerindustrie“ entwickelt. Sie kreisen um den zentralen Begriff „nachhaltige Entwicklung“ (sustainable development), der allerdings nicht als ökologisches Desiderat gemeint ist, sondern als Synonym für „krisenfest“. In diesem ökonomischen Sinne formulierte Tourismusministerin Olga Kefalogianni Anfang März das strategische Ziel, „Griechenland zu einem nachhaltigen, robusten, konkurrenzfähigen Reiseziel zu machen, das für die griechische Wirtschaft und Gesellschaft einen maximalen Ertrag erbringt“. (zitiert nach: Navtemporiki, 5. März 2025)

Diese Strategie steht auf zwei Pfeilern. Der erste ist der Massentourismus (im Branchenjargon als "sun and beach holidays" bezeichnet), basierend auf niedrigen Anreisekosten dank Charterflügen und einem All-inclusive-Paket, das für die untere europäische Mittelklasse erschwinglich ist. Der Massentourismus konzentriert sich seit Jahrzehnten auf die populärsten griechischen Inseln wie Kreta, Rhodos und Kos in der Südägäis, oder Korfu (Kerkyra) und Zakinthos im Ionischen Meer,(16) boomt aber auch auf dem Festland, wo genügend Strände für den Massentourismus nutzbar sind (wie auf der nordgriechischen Halbinsel Chalkidiki).

Dieses Massengeschäft wird von der Regierung als Selbstläufer betrachtet, der keiner besonderen Förderung bedarf, jedoch Investitionen in die Infrastruktur erfordert. Zudem will man eine weitere quantitative Steigerung erreichen, indem man die Saison verlängert (mit dem Fernziel des „ganzjährigen“ Tourismus) und neue nationale Märkte erschließt (insbesondere Russland, Israel, die Türkei und China). Doch weder die Regierung noch der Verband der griechischen Hotelindustrie sehen den Massentourismus als „nachhaltige“ Zukunftsperspektive, zumal dieser Geschäftszweig von ausländischen Konzernen dominiert wird.

Das Hauptziel der griechischen Tourismus-Politik ist vielmehr qualitativ definiert: Eine „große strategische Initiative“ soll „die Attraktion des hochwertigen touristischen Sektors“ steigern und die „durchschnittlichen täglichen Ausgaben“ der ausländischen Klientel erhöhen. Damit ist der zweite Hauptpfeiler der „griechischen Schwerindustrie“ benannt: der Luxus-Tourismus, der „werthaltiger“ ist, weil er die Reichen dieser Erde anlockt.

Premium-Tourismus und Golden Visa

Diese exklusive Sparte wird von der neoliberalen Mitsotakis-Regierung systematisch gepäppelt. Das ist an den Prioritäten abzulesen, die das Tourismusministerium auf seiner Website formuliert. Da steht an oberster Stelle „die Entwicklung hochklassiger [premium], integrierter Touristen-Resorts und von privaten Einzelanwesen“. Die Nachfrage nach solchen Investitionsobjekten wird gezielt gefördert durch ein „Golden Visa“-Gesetz, das Nicht-EU-Ausländern, die mindestens 250.000 Euro anlegen, für fünf Jahre visumfreies Reisen in der gesamten EU ermöglicht.


Blick auf den Ort Fira, 1950
© A. & E. Frankl/picture alliance/ullstein bild

Doch das wichtigste Instrument ist das „Gesetz über strategische Investitionen“, das im Dezember 2021 verabschiedet wurde. Der Nomos 4864/2021 bezieht sich zwar auf alle Arten von Investition, die „von großer Bedeutung für die nationale und lokale Wirtschaft sind“,(17) begünstigt aber speziell die Tourismusbranche, insbesondere durch bestimmte Anreize und Ausnahmeregelungen, wie etwa erhebliche Steuererleichterungen (auf 12 Jahre) oder ein „one-stop-service“ für Investoren. Der garantiert eine beschleunigte Baugenehmigung, die in maximal 45 Tagen abgeschlossen sein soll, wohingegen normale Baugesuche bis zu einem Jahr auf den Ämtern liegen. Zudem ist die öffentliche Auslage der Baulizenz – sprich die Einspruchsmöglichkeit gegen das Projekt – auf 14 Tage beschränkt.

Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Regierung sogar „strategische Investitionen“ in Gebieten genehmigen, die durch das Natura-Regime der EU geschützt sind.(18) Zudem erlaubt das Gesetz Ausnahmen von den an sich strengen innergriechischen Regeln für den Schutz der Strand- und Uferzonen. Damit können „strategische“ Projekte die privilegierte Nutzung von Stränden einkalkulieren; darüber hinaus verspricht die Regierung auf ihrer Website eine „laufende Verbesserung der Gesetzgebung“ – mit dem erklärten Ziel, „den Bau von Strandvillen und Ferienhäusern zu gestatten, um den Langzeitaufenthalt von älteren Menschen oder Pensionären zu fördern“.(19)

Als geografischer Schwerpunkt dieser qualitativen Expansion des Tourismussektors ist die ägäische Inselwelt ausersehen. Und speziell die Kykladen bieten sich als ideales Zielterritorium für die „werthaltigsten“ Investitionen in „Premium“-Projekte an. Dabei werden die Investoren auch nicht durch den relativen Niedergang der klassischen Luxus-Destinationen Mykonos und Santorini abgeschreckt. Im Gegenteil: Wenn der Übertourismus sich selber auffrisst, suchen sich die Heuschrecken der Branche neue Anlagefelder auf anderen Inseln. Die Hauptkandidaten sind bereits identifiziert. Sie heißen Ios, Folegandros, Antiparos und Milos.

Es sind diese Inseln, die seit einiger Zeit immer wieder in – häufig gekauften – Reportagen auf touristischen Websites und in Reisemagazinen als „Geheimtip“ gehandelt werden. Dabei läuft die Kommodifizierung der „authentischen“ Inselwelten nach demselben Muster, das Santorini dem Übertourismus ausgeliefert hat. Und auch hier setzt die Werbung auf emblematische „Bilder“ von außergewöhnlichen Orten, die sich als Kulisse für Luxus-Resorts verwerten lassen.

Ein schlagendes Beispiel ist ein Projekt in Milos, das allerdings noch auf der Kippe steht. Der berühmteste und fotogenste Strand von Milos ist der „Sarakiniko“ (der sarazenische) mit seinen vulkanisch entstandenen, blendend weißen, von Wind und Meer gemeißelten Felsformationen, die aus dem azurblauen Meer ragen. Nur 150 Meter über diesem Strand begann der Bau eines 5-Sterne-Hotels, das für jede seiner 30 Suiten einen Swimmingpool vorsieht. Mit der Baugenehmigung hatte das lokale Bauamt nichts zu tun, sie wurde automatisch über die einschlägige Regierungsplattform erteilt, das „Umweltgutachten“ bestand aus einer schlichten Unbedenklichkeits-Erklärung eines Bauingenieurs. Im Übrigen war ganze Projekt von vornherein illegal, weil der Baugrund nicht – wie vorgeschrieben – durch eine öffentliche Straße erschlossen ist, sondern „mitten in der Wildnis“ liegt.

Das Projekt wurde zu einem heiß diskutierten nationalen Thema. Das Umweltministerium, das jede Beteiligung an dem Verfahren bestritt, sah sich gezwungen, die Bauerlaubnis zu suspendieren. Doch die Architektenkammer von Milos erklärte, die Regierung sei sehr wohl für den Skandal verantwortlich, weil sie willentlich einen Masterplan verzögert, der strenge Regeln für den Landschaftsschutz auf der Insel einführen würde. Deshalb drohe eine anarchische Überbauung der Landschaft, wie sie zum Beispiel „mit unverminderter Intensität im Fall der Kaldera von Santorini“ vonstatten gehe. (zitert nach: Proto Thema, 16. Februar 2025)

Der Gemeinderat von Milos hat inzwischen beschlossen, alle vorliegenden Anträge auf touristische Bauvorhaben auf Eis zu legen, bis ein Masterplan für die Insel rechtskräftig beschlossen ist. Das bedeutet den vorläufigen Stopp für weitere zehn Hotel-Projekte, deren Bau die Bettenkapazität innerhalb von zwei Jahren verdoppelt hätte.(20)

Ob die landesweite Empörung über das Sarakiniko-Projekt von Milos ausreicht, um dem Druck der Investoren und der lokalen Bauindustrie zu widerstehen, werden wir frühestens in einem Jahr wissen. Sicher ist jedoch, das die Regierung Mitsotakis an einer Politik festhalten wird, die gezielt den „hochwertigen touristischen Sektor“ fördert und Investitionen in den Erwerb von Premium-Immobilien anlockt. Das liegt schlicht daran, dass damit tatsächlich der „maximale Ertrag“ für die griechische Schwerindustrie zu erzielen ist.

Die Fixierung auf dieses Luxus-Segment hat aber noch einen zweiten Grund. Die Investitionen in alle anderen Bereiche der griechischen Wirtschaft lassen zu wünschen übrig. Die Regierung Mitsotakis ist 2019 mit dem Programm angetreten, ein völlig neues Produktionsmodell zu etablieren. Der Regierungschef sprach pausenlos von Investitionen in innovative Branchen, in Technologien mit hoher Wertschöpfung, die hochwertige Arbeitsplätze garantieren. Das Modell Griechenland 2.0 steht heute – wie so vieles – nur auf dem Wunschzettel der Regierung. Die Realität sieht anders aus: Mehr als zwei Drittel aller Investitionen – auch aus dem Ausland – fließen in den „alten“ Bau- und Immobiliensektor – in Projekte mit minimaler Wertschöpfung aber maximalen Profiten. Und die im Tourismus-Sektor und in der Bauindustrie geschaffenen Jobs sind auch heute noch – trotz leicht gestiegenen Mindestlöhnen – schlechter bezahlt als in den meisten EU-Ländern. Mit dem Resultat, dass der griechische Durchschnittslohn – nach Kaufkraft bemessen – der zweitniedrigste aller EU-Länder ist (niedriger liegt er nur Bulgarien).

Warum die neoliberale Wirtschaftsstrategie der Mitsotakis-Regierung für die Mehrheit der griechischen Bevölkerung ein Desaster ist, werde ich in einem meiner nächsten Texte ausführlich untersuchen. Ein weiterer Beitrag wird der Frage nachgehen, warum die konservative Regierung immer noch fest im Sattel sitzt, obwohl nur noch 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler mit ihr zufrieden sind. Der Grund ist vor allem der elende Zustand der griechischen Linken, die mittlerweile aus nicht weniger als sieben Parteien besteht.

Warum diese zersplitterte Linke außerstande ist, die Empörung der Bevölkerung in ein überzeugendes politisches Programm zu übersetzen, werde ich am aktuellsten Beispiel darstellen: den Massenprotesten gegen die Versuche der Regierung, die Ursachen des Eisenbahnunglücks vom 28. Februar 2023 zu vertuschen, das 59 Menschenleben gefordert hat.

Anmerkungen

1) Siehe: "Earthquake sequence between Santorini Amorgos Islands since January the 27th 2025", EMSC, 27. März 2025; detaillierte Angaben auch hier: "Earthquakes of the last 20 days in Greece", University of Athens, Seimological Laboratory.

2) Damit erinnert das Geschehen an die lange Phase mikro-seismischer Aktivitäten, die im Januar 2011 mit einem Magma-Anstieg unterhalb der Caldera von Santorini begann und 16 Monate andauerte. Siehe die Analyse von R. Andinisari, K.J. Konstantinou und P. Ranjan, „Seismicity along the Santorini-Amorgos zone and its relationship with active tectonics and fluid distribution“, ScienceDirect, März 2021; siehe auch das Interview mit dem Seismologen Prof. Kostas Papazachos, Kathimerini, 7. Februar 2025.

3) Hooft geht davon aus, dass die aktuelle Verschiebung der Magmamassen den Druck unter der Caldera von Santorini sogar verringert hat; siehe Interview mit Kathimerini vom 20. Februar, siehe auch die englische Ausgabe der Zeitung vom 22. Februar: "Santorini volcano’s ,breathing' intensifies".

4) Allerdings hat Santorini eine lange Geschichte von Vulkanausbrüchen. Tatsächlich geht der ganze Inselkomplex in seiner heutigen Gestalt auf die „Minoische Eruption“ vor 3700 Jahren zurück. Seit dem Mittelalter gab es größere Ausbrüche in den Jahren 1570, 1650, 1707, 1866 (bis 1870 andauernd) und 1925/26. Dieser letzte Ausbruch warf in der Caldera ein neues Lavafeld auf, das zwei kleine Inseln zur heutigen Insel Nea Kaimeni verschmolzen hat. Den meisten Thira-Touristen, die vom Caldera-Rand nach Westen blicken, ist nicht bewusst, dass das Eiland vor ihren Augen in seiner heutigen Gestalt vor hundert Jahren noch nicht existierte.

5) So Karidis im Morgen-Magazin von Skai TV am 9. Februar 2025 und gegenüber der Wochenzeitung Pontiki vom 2. Februar; ebenso Konstantinos Spyrakos, Professor für Bautechnik an der Wirtschaftsuniversität Piräus in To Vima vom 9. Februar 2022.

6) Alfred Philippson, „Das Aegaeische Meer und seine Inseln“, Frankfurt.M. (Klostermann) 1959, S.168, 176.

7) Lefteris Papadimas und Karolina Tagaris, "Week of tremors exposes dangers of Santorini's construction boom", Reuters, 7. Februar 2025. Kurz darauf versicherte Mitsotakis in einem Instagram-Eintrag vom 9. Februar 2025, seine Regierung habe in den letzten fünf Jahren eine „neue Kultur des Zivilschutzes“ entwickelt, damit habe „der Schutz des menschlichen Lebens und die Sicherheit unserer Mitbürger die höchste Priorität“.

8) Zu Konzept und Anspruch des „Epiteliko Kratos“ siehe meinen Blog-Text „Moderne Zeiten in Griechenland“ vom 29. Oktober 2019.

9) Alle Abhänge an der Caldera-Kante sind nach zwei Urteilen des höchsten griechischen Gerichts (von 2013 und 2017) Staatsbesitz; siehe Kathimerini vom 24. März 2025, wo Giorgios Lialios die langjährigen juristischen und politischen Auseinandersetzungen um illegale Bauten auf der Caldera-Kante schildert; illustriert durch aufschlussreiche Karten.

10) Die Anlage mit 23 Suiten („each with stunning caldera views, private pools or jacuzzis“) verfügt über sechs größere Pools direkt an der Caldera-Kante, zu besichtigen auf petitpalacesuites.gr.

11) 2019 wurde in Santorini ein Angestellter des Bauamtes in seinem Büro verprügelt; über ähnliche Fälle in Mykonos siehe meinen letzten Blog-Text „Tourismus über alles“ vom 17. Oktober 2024.

12) To Vima vom 9. Februar 2025. Die Zahlen für die einzelnen Gemeinden: Thira (Fira) 10,5 Hektar, Imerovigli 4,7 und Oia 4,4 Hektar.

13) Berichte über die Klagen der Hoteliers in Kathimerini vom 16. Februar 2025, in Parapolitika vom 7. April und Today Press vom 8. April 2025.

14) Siehe santorini.net

15) santorini.net; weitere Nelly-Fotos auf greece-is.com

16) Die Destination Zakynthos hat sich explosionsartig entwickelt und ist heute das überfüllteste Urlaubsziel in Europa (mit sechs Millionen Übernachtungsgästen bei einer Einwohnerzahl von nur 40.000).

17) Das Gesetz unterscheidet zwei Kategorien von strategischen Investitionen, wobei die Kategorie 1 ein Volumen von mindestens 75 Millionen Euro bzw. 40 Millionen Euro plus die Schaffung von 75 festen Arbeitsplätzen erfordert. Alle relevanten Bestimmungen auf der regierungsamtlichen (griechischen) Website enterprisegreece.gov.gr

18) Siehe Nomos 4864/2021, Artikel 3, Par. 1A

19) Zitate von der englischsprachigen Regierungs-Website „Enterprise Greece“

20) Anfang 2025 hatte Milos 43 Hotels mit 1781 Betten, beantragt sind Projekte mit mehr als 2600 Betten. Zahlen in: Travel and Tour World (TTW) vom 11. März 2025.


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