Nach Moria: Zur Lage der Flüchtlinge, nicht nur auf Lesbos
von Niels Kadritzke | 21. Oktober 2020
Griechenland hat in diesen Zeiten viele Probleme gleichzeitig zu bewältigen: die anhaltende Flüchtlingskrise, den bedrohlichen Konflikt mit der Türkei, der von Seitens Erdoğans immer weiter angeheizt wird, und natürlich die Corona-Krise. Diese letze Krise wird das Thema meines nächsten Blog-Textes sein, in dem ich zeigen werde, wie die Mitsotakis-Regierung die Erfolge eines entschlossenen und anfangs sehr erfolgreichen Krisenmanagements seit Sommer 2020 schrittweise verspielt hat.
Provisorisches Zeltlager Kara Tepe, 14. Oktober 2020
© Panagiotis Balaskas/AP/dpa
Ein wichtiges und über Griechenland hinausweisendes Ereignis war auch die Gerichtsentscheidung nach einem fünfeinhalbjährigen Strafprozess gegen die Führer der Neonazi-Partei Chrysi Avgi. Dieser Prozess und das Urteil, das die Partei als kriminelle Vereinigung qualifiziert und ihre Anführer ins Gefängnis schickt, wird in der November-Ausgabe von Le Monde diplomatique von meinem griechischer Kollegen Yiannis Papadopoulos analysiert, der die Neonazis über viele Jahre beobachtet hat.
Der folgende Text konzentriert sich auf ein Thema, das erst durch den Brand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos wieder in die Erinnerung gehoben wurde. Dabei gehe ich der Frage nach, was sich seit dem großen Feuer für die Flüchtlinge verändert hat – und was nicht. Die skandalösen Zustände auf den ostägäischen Inseln sind das Resultat eines gesamteuropäischen Versagens, das in der Coronakrise noch offensichtlicher geworden ist. Die EU-Partner haben den Ländern, in denen die meisten Flüchtlinge und Asylbewerber ankommen, nie die nötige und mehrfach zugesagte Entlastung verschafft. Das wird sich auch mit dem geplanten „Migrationspakt“ nicht ändern, den die EU-Kommission am 23. September vorgelegt hat und der abermals nur das kollektive Versagen Europas dokumentiert. So lautet auch der Befund der griechische Ex-Europa-Abgeordnete Marielena Koppa, deren Text im Anhang (nach den Anmerkungen) nachzulesen ist. Das hier analysierte europäische Versagen muss stets mitgedacht werden, wenn im Folgenden vor allem das Sündenregister der griechischen Seite aufgeblättert wird.
Moria und danach
Dass Moria die Schande Europas ist, können wir schon seit Jahren wissen. Mit dem Brand in der Nacht vom 8. auf den 9. September, der das Lager und seine Infrastruktur vernichtet hat, wurde diese Schande noch einmal weltweit ins öffentliche Bewusstsein gehoben.
Seitdem liefen Berichte über die Katastrophe von Lesbos über alle internationalen Medien. Doch das alte und neue Elend der um Asyl ersuchenden Menschen wurde vor allem von den NGOs dokumentiert, die seit Jahren mit den in Moria internierten Flüchtlingen arbeiten – und das zunehmend in Konflikt mit den griechischen Behörden. Die Beobachtungen und Einschätzungen dieser direkten Zeugen sind auch für mich die wichtigste Informationsquelle, weshalb sie in der folgenden Darstellung ausführlich zitiert werden.
Die schandbaren Zustände im "Aufnahme- und Identifikationszentrum" (KYT) von Moria wurden tausendfach beschrieben, ohne dass sich diese Zustände geändert hätten. Auch nicht seit Beginn der Corona-Krise, die für ein überfülltes Lager mit knapp 20 000 Menschen (Anfang März 2020) eine besonders große Gefahr darstellte. Bis Ende September 2020 wurden zwar mehrere tausend Asylberechtigte in eine prekäre „Freiheit“ entlassen, aber an den hygienischen Bedingungen im Lager hat dies nichts geändert. Vier Tage bevor Moria brannte, klagte eine Flüchtlingsfrau aus Afghanistan gegenüber Mitgliedern der deutschen NGO "Volunteers for Lesbos": "Wir sind seit März im Corona-Lockdown, das Wasser wird täglich für mehrere Stunden abgestellt, deshalb können wir nicht unsere Hände waschen und auch nicht auf die Toilette gehen…"(1)
Moria in der Corona-Krise: Abschottung statt Vorsorge
Schon in der ersten Phase der Pandemie warnte die griechische Sektion von "Médecins sans frontières" (MsF): "Wenn wir keine Maßnahmen zum Schutz dieser Menschen ergreifen, ist die Grenze zum kriminellen Handeln erreicht." Weder im umzäunten Teil des KYT noch in dem angrenzenden "wilden Camp" war es möglich, elementare Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionsgefahr wie die Abstandsregel oder regelmäßiges Händewaschen auch nur ansatzweise umzusetzen. Das galt für alle KYT-Lager auf den ostägäischen Inseln. Darauf wurde in dem Aufruf #SOSMoria hingewiesen, den Anfang April mehr als 5000 Ärzten aus ganz Europa unterzeichnet haben: "Die Vorstellung, dass ein Covid-19-Ausbruch in diesen Lagern einzudämmen wäre, in denen 40 000 Menschen auf wenigen Quadratkilometern zusammengedrängt leben, ist eine Illusion."
Eine Illusion war es auch, auf regelmäßige Corona-Tests für die Lagerinsassen und für das – stark reduzierte – Personal zu hoffen. Die Tests beschränkten sich auf die neu angekommenen Bootsflüchtlinge, die separat untergebracht wurden. Die einzige "hygienische" Maßnahme, die von den griechischen Behörden für die KYT-Lager verfügt wurde, war eine strikte Abschottung. Dabei diente die Umwandlung in epidemiologisch legitimierte "Isolationslager" vornehmlich dem Schutz der griechischen Bevölkerung vor einer von den Lagern ausgehenden Corona-Welle.
Seit wann sich das Virus im KYT Moria verbreitet hatte, konnte – mangels Tests – niemand wissen. Aber seit Beginn der Pandemie musste allen Verantwortlichen und Unverantwortlichen bewusst sein, was ein UNHCR-Mitarbeiter schon Ende März ausgesprochen hat: "Wenn wir in Lesbos keine Katastrophe erleben, werden wir schieres Glück gehabt haben."(2) Das Glück endete am 2. September. An diesem Tag wurde der erste positive Test bekannt. Die Behörden regierten mit einer verschärften Bewachung des gesamten Geländes, obwohl Médecins sans frontières (MsF) die sofortige Evakuierung des Lagers forderten.
Eine andere Forderung von MsF wurde jedoch umgehend erfüllt: Plötzlich waren Testkits für 2.000 der knapp 13.000 Lagerinsassen verfügbar. Das Ergebnis war niederschmetternd. Am 7. September wurden bereits 35 positive Fälle gemeldet. Das bedeutet per Hochrechnung, dass zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon mindestens 200 Personen infiziert waren und den Virus innerhalb des Lagers weitertragen konnten.
Vorverurteilung der "Brandstifter" durch die Regierung
Wie genau es dazu kam, dass in der Nacht des 8. September das Lager brannte, ist noch nicht eindeutig geklärt. Unzweifelhaft ist jedoch, dass es sich um keinen Unfall sondern um die bewusste Aktion von Lagerinsassen handelte, wobei die ersten Brandherde wegen des starken Windes außer Kontrolle gerieten. Eine Woche nach dem Feuer wurden sechs junge afghanische Männer festgenommen und unter Anklage gestellt. Seitdem werden sie von der Regierung – und speziell vom Polizeiminister Michalis Chrysochoidis, der sich "Minister für den Schutz der Bürger" nennen darf – nicht als mutmaßliche, sondern als überführte "Brandstifter" bezeichnet und behandelt.
Auch ein "geistiger Brandstifter" war bald ausgemacht. Nach der Festnahme der jungen Afghaner erklärte der Soziologe Antonis Liakos, der ein Mitglied der Syriza, aber kein Parteisoldat ist: "Wenn ich 17, 18 Jahre alt wäre und gegen tausend Wellen angekämpft hätte, um ins gelobte Land Europa zu gelangen, nur um in der Hölle von Moria zu landen, dann hätte ich auch einen Brand gelegt." (zitiert nach EfSyn vom 17. September) Die Sätze unverkennbarer Empathie lösten im Netz und in den regierungstreuen Medien einen Shitstorm aus. Innenminister Chrysochoidis verurteilte die Äußerung und die Regierungspartei ND forderte die Syriza-Führung auf, Liakos aus der Partei auszuschließen. Darauf stellte der Soziologe klar, er habe die Brandstiftung keineswegs gutgeheißen, sondern "die Verzweiflung der Moria-Insassen und vor allem der Jungen aufzeigen wollen". Seinen Kritikern hielt er entgegen: „Das Verbrechen von Moria wurde vor der Zerstörung des Lagers begangen. Sucht die politische Verantwortung gefälligst in eurer Heuchelei und eurem schuldhaften Schweigen.“ Er selbst wolle weiter für eine Bildungspolitik kämpfen, die jungen Migranten die Integration in die griechische Gesellschaft erleichtert. (EfSyn vom 18. September).
Brandursache: Die Corona-Angst der Lagerbevölkerung
Nach Aussagen von Zeugen aus NGO-Kreisen kam es am Abend des 8. September zu einem handgreiflichen Konflikt zwischen zwei Flüchtlingsgruppen. Das waren zum einen die positiv Getesteten samt Familienangehörigen und Kontaktpersonen, die sich nicht in ein provisorisches Quarantäne-Quartier verweisen lassen wollten, das nicht einmal fließend Wasser hat. Die andere Gruppe waren Flüchtlinge, die Druck auf die Infizierten ausübten, weil sie nicht angesteckt werden wollten. Sie hatten Angst, dass sich das Virus in einem Lager, in dem sie „wie in einer Sardinenbüchse untergebracht waren“, sehr rasch ausbreiten würde (EfSyn vom 10. September).
Der erste Corona-Patient von Moria war ein 40 Jahre alter Mann aus Somalia, dessen Geschichte das ganze Flüchtlingschaos in Griechenland veranschaulicht. Das Verfahren dieses Asylbewerbers war bereits mit einem positiven Bescheid abgeschlossen, weshalb der unter Vorerkrankungen leidende Mann am 17. Juli nach Athen reisen durfte. Dort aber konnte er weder eine Unterkunft noch Arbeit finden.
Dabei hatte der Somalier theoretisch Anspruch auf ein Hilfsprogramm, das von der International Organization for Migration (IOM) angeboten und von der EU-Kommission finanziert wird. Dieses seit Juni 2019 laufende Programm namens HELIOS soll anerkannte Asylberechtigte in Griechenland auf vielfältige Weise unterstützen: durch Sprach- und Integrationskurse, durch Hilfe bei der Anmietung von Wohnungen und bei der Suche nach einer Beschäftigung, wie auch im Umgang mit den griechischen Behörden. Insgesamt soll HELIOS die Flüchtlinge befähigen, sich „im System öffentlicher Dienstleistungen zurechtfinden“ und ein „unabhängiges Leben in Griechenland anzufangen“.(3)
Ein Programm leerer Versprechen
Von diesen Möglichkeiten hatte der Mann aus Moria nie gehört, als er aufs griechische Festland reiste. In Lesbos hatte man ihn nicht für das Programm angemeldet. Damit ging es ihm wie tausenden anerkannten Flüchtlingen, die seit März aus den KYT-Lagern entlassen wurden, um die Überfüllung zu reduzieren. Sie alle landeten (wie es Dimitris Angelidis in der EfSyn vom 25. September beschrieben hat), „ohne Geld und ohne Unterkunft“ in Athen, wo sie sich gezwungenermaßen auf den Straßen und Plätzen herumdrückten, bis sie von der Polizei eingesammelt und in Auffanglager in der Provinz verfrachtet wurden.
Damit erlebten sie das Gegenteil dessen, was HELIOS verspricht. Erst nach dem Brand von Moria (am 25. September) erklärte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis, seine Regierung werde den anerkannten Asylbewerbern über das IOM-Programm angemessene Verhältnisse bieten, die „es ihnen leichter machen, in würdigen und sicheren Wohnverhältnissen unterzukommen“. Für den Somalier aus Moria kam dieses Versprechen zu spät. Seine Lage in Athen war so verzweifelt, dass er nach einigen Wochen wieder nach Lesbos zurückfuhr – zurück an den einzigen Ort, der ihm in Griechenland vertraut war. Zurück in den "Dschungel", wie das "irreguläre" Zeltlager von Moria genannt wird, in dem tausende Flüchtlinge ohne fließendes Wasser, ohne Kanalisation und ohne Müllentsorgung hausten.
Eine Corona-Strategie, die nie umgesetzt wurde
Die griechische Sektion der NGO Médecins du Monde („Ärzte der Welt“) hatte bereits am 9. April für die KYT-Lager ein konkretes Programm zur Eindämmung des Covid-19-Virus vorgeschlagen. Die wichtigsten Punkte dieses Plans waren:
- mindestens 100 Isolationsbetten für potentielle Covid-19-Patienten
- bessere hygienische Bedingungen durch mehr Waschbecken und Toiletten (auch außerhalb des eingezäunten Lagers); mehr Gesundheitsstationen, mehr Essensausgabestellen und Betreuungszentren
- eine Informationskampagne in vielen Sprachen (Flugblätter, Plakate, Videomaterial) die „detaillierte Erklärungen“ vermittelt, „wie sich das Virus ausbreitet, wie sich die Menschen schützen, wie sie Symptome identifizieren und wie sie gesundheitliche Betreuung erlangen können“
- die sofortige Verlegung von älteren Menschen und besonders gefährdeten Personen, von Schwangeren und Frauen mit Säuglingen, in andere, besser ausgestattete Einrichtungen wie leerstehende Hotels(4)
Keine dieser Forderungen wurde erfüllt. Schlimmer noch: Die griechischen Stellen haben begrenzte Verbesserungen auch dann nicht umgesetzt, wenn es möglich war. Solche konkreten Möglichkeiten hat Yiannis Papadopoulos in der Kathimerini vom 9. September aufgezeigt. Ich zitiere diesen Text ausführlich, weil er an drei Beispielen aufzeigt, wie vorhandene Ressourcen, die für den Schutz der Lagerinsassen nützlich gewesen wären, nicht oder nur unzureichend genutzt wurden.
Erster Fall: Eine Corona-Station wird für illegal erklärt
Im Mai dieses Jahres baute Médecins sans frontières in einem alten Lagergebäude außerhalb von Moria eine medizinische Einrichtung auf, um Covid-19-Fälle rund um die Uhr versorgen zu können. Die NGO rekrutierte medizinisches Personal von insgesamt 75 Kräften (Ärzte, Krankenpflegerinnen, Psychologen und Dolmetscherinnen) für 40 Betten, mit der Möglichkeit einer Erweiterung auf 60 Betten. Hier wurden bis Ende Juli 55 Menschen betreut, die zunächst leichte Symptome gezeigt hatten, am Ende aber negativ auf das Virus getestet wurden und in ihre Zelte zurückkehrten.
Die Einrichtung füllte eine erhebliche Lücke, die eigentlich der griechische Staates abdecken sollte, und hätte im Ernstfall das Krankenhaus der Insel entlasten können. Doch nach Klagen von Bürgern befand die Baubehörde der Gemeinde Mytilini, die von der NGO errichteten Bauten seien illegal. Sie belegte die humanitäre Organisation mit einer Geldstrafe von 35.000 Euro, obwohl die Einrichtung mit Kenntnis des Athener Migrationsministeriums eröffnet worden war.
Für Médecins sans frontières erklärt die für die COVID-19 zuständige Koordinatorin Caroline Willemen gegenüber Kathimerini: „Seit einem Monat versuchen wir, eine Lösung zu finden. Wir stehen nicht über dem Gesetz, wir haben erläutert, dass das Gebäude provisorisch ist und dass wir uns mitten in der Pandemie befinden.“ Aber angesichts der möglichen rechtlichen Konsequenzen entschied sich die NGO, die Klinik zu schließen.
Zweiter Fall: Eine Pflegestation wird eingeweiht, aber nicht eröffnet
Am 20. August hat die griechische Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou eine neue Gesundheitsstation in Moria eingeweiht, deren Ausstattung von der niederländischen Regierung gespendet wurde. Die Einrichtung hat 62 Krankenbetten und weitere vier in einer Intensivpflege-Abteilung. Sie verfügt über moderne Geräte, ist aber nicht mit Personal ausgestattet. In dieser Einrichtung hat ein Team der Nationalen Organisation des öffentlichen Gesundheitsweisens (griechisch: EODY) vor wenigen Tagen 2000 Tests durchgeführt, nachdem der erste positive Corona-Fall in dem Lager aufgetreten war. Bei diesen Kontrolltest wurden 35 neue Ansteckungen entdeckt.
Der Präfekt der Region Nordägais, Kostas Moutzouris, hatte sich gegen die Eröffnung der Station gestellt. Trotz des wichtigen Beitrags, den diese Station für die Gesundheitsversorgung leisten könnte, würde sie das Aufnahmezentrum zu einer Dauereinrichtung machen, argumentierte Moutzouris, der seit langem die endgültige Schließung von Moria fordert.
Ein Postscriptum: Die von der Staatspräsidentin eingeweihte Einrichtung konnte mangels Personal ihren Zweck nie erfüllen.
Dritter Fall: Eigeninitiativen von Flüchtlingen werden nicht unterstützt
"Wir versuchen, die Leute zu informieren, mit ihnen über das Virus zu sprechen, über Isolierungsmaßnahmen, übers Händewaschen", erzählt Omid Alizadah, ein Afghane, der 2014 in seinem Heimtland ein pharmazeutisches Diplom erworben hat, gegenüber Kathimerini. Er lebt seit neun Monaten in Moria und hat im März mit zehn weiteren Personen ein Informationsteam gegründet. Die Gruppe will die Lagerinsassen rechtzeitig über die Pandemie und vorbeugende Maßnahmen aufklären, aufkommende Zweifel zerstreuen und Verschwörungstheorien entkräften. Bis vor kurzem, sagt Alizadah, waren diese Bemühungen erfolgreich, aber es war praktisch unmöglich, die Botschaft an 12.000 Menschen weiterzugeben.
Initiativen wie diese nehmen Aufgaben wahr, die eigentlich Sache der griechischen Stellen gewesen wäre. Die Selbsthilfe-Gruppe um den afghanischen Pharmazeuten nannte sich das Moria Corona Awareness Team (MCAT); sie wurde finanziell von der griechischen NGO “Stand by me Lesvos” und ausländischen karitativen Organisationen (wie der Evangelischen Diakonie Österreichs) unterstützt. Dagegen erfuhr sie von den griechischen Behörden keinerlei Hilfe. Das Gegenteil war der Fall, wie uns die folgende unglaubliche Geschichte erzählt (die Alizadah gegenüber dem Kathimerini-Reporter nicht erwähnte).
Im Mai 2020 wurde das Corona-Aufklärungsteam vom Präfekten der Nordägäis aufs Korn genommen. Von demselben Moutzouris also, der gegen die von den Niederlanden finanzierte Gesundheitsstation opponiert hatte.(5) Der Präfekt beantragte bei der Staatsanwaltschaft von Mytilini ein Ermittlungsverfahren gegen das MCAT. Die Begründung lautete, das Team habe "unsere unanfechtbare nationale Souveränität in Frage gestellt".
Wie war die Beschuldigung begründet? Die Selbsthilfegruppe hatte am 20. Mai gegenüber einer norwegischen Zeitung die Welt außerhalb des Lagers als "Greek side of the island" bezeichnet. Diese verunglückte Wortwahl wertete der Präfekt als Angriff auf die terrioriale Integrität von Lesbos, obwohl die Organisation sofort klarstellte: "Mit dem Satz wollten wir keinesfalls zeigen, dass es auf der Inseln ein nicht-griechisches Gebiet gebe, sondern nur hervorheben, dass das Leben innerhalb und außerhalb des KYT-Lagers vollständig verschieden ist, dass es sich um zwei unterschiedliche Welten handelt. Während die Griechen über alle nötigen Güter und alle Rechte verfügen, fehlt es den Menschen in Moria sogar an elementaren Dingen wie Wasser und Sicherheit." Um alle Zweifel zu zerstreuen, erklärte die Gruppe: "Wir wünschen uns, dass Moria nicht nur dem Namen nach, sondern auch tatsächlich zu Griechenland gehört."(6)
Der Präfekt hat das Team natürlich nicht wegen eines angeblichen Anspruchs auf griechisches Territorium angezeigt – auch die MCAT-Leute wollen ja nichts wie weg von Lesbos. Sein Zorn gilt der Aufklärungsarbeit, die solche Gruppen nach außen leisten, indem sie berichten, dass unter den elenden Bedingungen von Moria eine Prävention gegen die Ausbreitung des Virus praktisch unmöglich ist.(7) Deshalb werden die NGOs insgesamt von den griechischen Stellen nicht als Helfer, sondern als Gegner wahrgenommen. Und das nicht nur auf Lesbos, sondern auch in Athen. Nach dem Brand von Moria hat das Migrationsministerium an die obdachlosen Flüchtlinge appelliert, sie sollten nur den Informationen des Ministeriums und der Polizei vertrauen. Nur auf diese Stellen sei Verlass, denn: "Keine NGO, niemand, der Sie behandelt, will Ihr Wohl." (zitiert nach: Mare Liberum, 25. September 2020).
Das nächste Moria heißt Kara Tepe
In einem Punkt sind sich allerdings die Behörden von Lesbos – allen voran der rechtsradikale Präfekt – mit fast allen NGOs wie auch mit den meisten Flüchtlingen einig: Das abgebrannte Moria sollte nicht durch ein zweites Lager ersetzt werden. Doch genau dies ist inzwischen geschehen, weil die Regierung Mitsotakis die Verlagerung des Problems auf das griechische Festland scheut.
Nachdem tausende "obdachlose" Flüchtlinge – Kinder, Frauen, Männer – mehrere Tage und Nächte buchstäblich auf der Straße verbrachten, wurden die meisten von ihnen in das neue "provisorische" KYT von Kara Tepe eingewiesen.(8) Dieses Lager wurde in Windeseile auf einem ehemaligen Schießplatz der griechischen Armee errichtet und dabei vorwiegend mit Sommerzelten ausgestattet.
Das drei Kilometer nördlich der Hauptstadt und unmittelbar an der Küste gelegene Gelände galt bis dahin als ungeeignet für die Unterbringung von Flüchtlingen. Zurecht, denn das kahle, schattenlose Gelände ist im Sommer brütend heiß, im Winter dagegen den kalten Nordwinden und bei Sturm den hohen Wellen ausgesetzt. Schon nach den ersten herbstlichen Regenfällen vom 8. und 13. Oktober stand ein Zehntel der Zelte unter Wasser, da sie ohne Holzboden auf dem nackten Grund errichtet waren. Wie die lokale Zeitung Sto Nisi berichtete, verwandelte sich ein Großteil des Geländes in ein einziges Schlammfeld. Um das Wasser abzupumpen, musste das Migrationsministerium das griechische Militär zur Hilfe rufen.(9)
Allen Ortskundigen war von vornherein klar, was die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR nach dem Regen feststellen musste: Das Gelände des neuen Zeltlagers ist "für Überflutung anfällig und bietet nicht den notwendigen Schutz gegen die Elemente und niedrige Temperaturen". Deshalb müssten die griechischen Behörden das Lager unverzüglich winterfest machen und "gravierende Mängel" beseitigen, was die Drainage, aber auch die Wasserversorgung, sanitäre Anlagen, Hygiene und Gesundheitsversorgung betrifft (UNHCR-Presserklärung vom 9. Oktober 2020). Auf diese Forderung reagierte das Athener Ministerium mit einer Schuldzuweisung an die UNHCR, die entgegen ihrer Zusage die nötige Infrastruktur nicht fertig gestellt habe. Die UN-Flüchtlingsagentur solle gefälligst für eine "Beschleunigung der Bauarbeiten sorgen, die internationale Organisationen und humanitäre Institutionen übernommen haben". (EfSyn vom 12. Oktober)
Auf Kosten der Gastfreundschaft
Dass die Koordination bei der Einrichtung des Provisoriums nicht geklappt hat, bezeugt eine weitere Kontroverse zwischen den UN-Organisationen und der Athener Regierung. Sie betrifft eine Institution für die Betreuung von rund 1.000 besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen, die schon seit Jahren in Kara Tepe (oberhalb des Schießplatzes) untergebracht ist. Das “Kentro Philoxenias“ (Zentrum der Gastfreundschaft) wird von der Kommune Mytilini unterhalten und dient vor allem als Zufluchtsort für Familien mit Kleinkindern und für gesundheitlich gefährdete Personen. Es gehört nach dem Urteil der UNHCR zu den wenigen funktionierenden humanitären Strukturen für Flüchtlinge in Lesbos. "Im Gegensatz zu Moria war die Einrichtung von Kara Tepe für vorbildlichen Lebensbedingungen bekannt", heißt es in der EfSyn vom 22. September. "Alle Einrichtungen waren überdacht und klimatisiert, es gab eine reguläre Strom- und Wasserversorgung, hier hatten sich viele pädagogische und interkulturelle Initiativen entwickelt, und es gab keinerlei Klagen (aus der Bevölkerung) über die hier wohnenden Flüchtlinge."
Ausgerechnet dieses Zentrum soll auf Anweisung der Regierung Mitsotakis bis Ende des Jahres geschlossen werden. Damit können die Wohn-Container der UNHCR für das neue provisorische KYT genutzt werden.(10) Gegen die geplante Schließung haben mehr als 160 griechische und internationale NGOs und humanitäre Organisationen in einem Offenen Brief vom 30. September protestiert. In dem Text, den u.a. Médecins sans frontières, Human Rights Watch, Amnesty International und SolidarityNow unterzeichnet haben, wird die Frage aufgeworfen, wo die Bewohner des Zentrums künftig unterkommen sollen. Jedenfalls müsse "um jeden Preis verhindert werden", dass sie in dem neuen KYT Kara Tepe untergebracht werden, wo "ihre physische und mentale Gesundheit gefährdet wäre". Dazu ist anzumerken, dass im “Kentro Philoxenias” die ganze Zeit über nicht ein einziger Corona-Fall ermittelt wurde.(11) Die Leitung des Zentrums hatte alle nötigen Schutzmaßnahmen durchgesetzt: Maskenpflicht, Einhaltung der hygienischen Standards und der Abstandsregeln, regelmäßige Aufklärung über die Gefährdung – all das also, was in Moria nie praktiziert wurde (Sto Nisi vom 21. September und vom 7. Oktober 2020).
Eine vorbildliche Einrichtung wird aufgelöst
Der Aufbau des provisorischen Lagers führt zu einer weiteren Konfrontation zwischen humanitären Organisationen und der Athener Regierung, die ebenfalls zu Lasten besonders hilfsbedürftiger Flüchtlinge geht. Das PIKPA-Lager im Ortsteil Neapolis (südlich des Zentrums von Mytilini) ist eine von der Kommune getragene Einrichtung, in der seit 2012 insbesondere zwei Gruppen besonders gefährdeter Asylbewerber eine angemessene Unterkunft gefunden haben: zum einen unbegleitete Jugendliche, zum anderen Erwachsene, die spezieller Therapien (Krebs- und Dialyse-Patienten) bedürfen oder Opfer von Gewalt oder Folter wurden. PIKPA ist – wie das Kentro Philoxenias – eine mustergültige Einrichtung, die von der einheimischen NGO „Allilengyi Lesvou“ (Lesbos-Solidarität) getragen und von internationalen NGOs unterstützt wird. 2016 wurde Efi Latsoudi, der Gründerin und Seele von PIKPA, von der UNHCR der Nansen-Flüchtlingspreis zuerkannt.(12)
Dieses Betreuungszentrum sollte nach einem Beschluss der Kommune Mytilini am 12. Oktober geschlossen werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner will man in das neue KYT von Kara Tepe verschieben, wo sie sehr viel schlechtere Bedingungen vorfinden werden. Wie absurd die ganze Idee ist, hat der Pathologe Dr. Nasos Gialis in einem Interview mit dem lokalen Sender Sto Nisi (vom 12. Oktober) bestätigt: Um diese besonders gefährdeten Personen zu schützen, müssten man sie aus dem provisorischen KYT möglichst schnell wieder wegbringen.
Gegen die Auflösung des PIKPA hat Efi Latsoudi am 8. Oktober in einem Offenen Brief an das Arbeits- und das Migrationsministerium in Athen protestiert: Die Bewohner von PIKPA hätten Angst vor den prekären hygienischen Zuständen in Kara Tepe und vor einem unkontrollierten Corona-Ausbruch. In ihrem Brief verweist sie darauf, dass die viele von ihnen bei einer Ansteckung durch das Virus ernsthaft gefährdet wären: "Der Transfer gefährdeter und schutzbedürftiger Gruppen aus sicheren und menschenwürdigen Einrichtungen in Verhältnisse, die ungeeignet und gesundheitsgefährdend sind, stellt nicht nur eine Verletzung der Menschenrechte dar, sondern steht auch in direktem Widerspruch zu den Aussagen der Regierung und der EU über die würdige und sichere Unterbringung von Flüchtlingen und Asylbewerbern."
Die Proteste haben immerhin erreicht, dass die Schließung des PIKPA für „kurze Zeit“ aufgeschoben wurde (Sto Nisi vom 14. Oktober). Aber letztlich wird das Athener Migrationsministerium dem Drängen starker Interessengruppen nachgeben, auf die sich Migrationsminister Notis Mitarakis ganz offen beruft: „Unsere Entscheidung entspricht der beharrlichen Forderung der lokalen Gesellschaft und des Verbands der Hoteleigentümer“ (zitiert nach Avgi vom 24. September).
Ein Ost-West-Konflikt in Lesbos
Tatsächlich fällt die „Lesbos-Solidarität“ einem Deal zum Opfer, den die Athener Regierung mit den lokalen Behörden der Insel erzielt hat. Diese werden ihren erklärten Widerstand gegen ein neues, geschlossenes KYT aufgeben, das spätestens im Sommer 2021 das Provisorium Kara Tepe ersetzen soll. Dabei ist derzeit völlig unklar, wo dieses Lager – für höchstens 5000 Flüchtlinge – entstehen soll. Der Bürgermeister von Mytilini will die Einrichtung möglichst weit entfernt von der Hauptstadt und am liebsten auf den – bevölkerungsarmen – Westteil der Insel verbannen. Genau das wollen die Leute im Landkreis West-Lesbos mit allen Mitteln verhindern. Ihren Widerstand gegen diese Pläne haben sie schon unmittelbar nach dem Brand von Moria demonstriert.
Am 10. September hatte die Athener Regierung die Fähre Blue Star Chios nach Lesbos entsandt, auf der 1000 Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager provisorisch untergebracht werden sollten. Da man in Mytilini anhaltende Proteste gegen das Anlegen des Schiffes befürchtete (lesvos.news vom 10. September), wurde die Fähre nach Sigri an der Westspitze der Insel dirigiert. Doch der Plan, tausend Flüchtlinge mit Bussen über hundert Kilometer nach Sigri zu transportieren, war zum Scheitern verurteilt, weil mehrere Dörfer entlang der Straße lokale Blockaden organisiert hatten.
Für die Bereitschaft der Lokalpolitiker, sich mit einem neuen Lager abzufinden, muss Minister Mitarakis eine Gegenleistung bieten. Die soll – nach Medienberichten(13) – aus zwei Zusagen bestehen:
- das Ministerium legt einen „konkreten Zeitplan für die Schließung aller anderen Einrichtungen für Flüchtlinge“ vor, (zu denen das PIKPA und das „Kenro Philoxenias“ zählt)
- es soll künftig untersagt sein, „Flüchtlinge und Migranten in Privathäusern in Mytilini unterzubringen“ (was sich gegen unliebsame NGOs richtet, die Flüchtlinge außerhalb des KYT betreut haben).
Was der zugesagte „konkrete Zeitplan“ wert ist, wird sich zeigen. Solange das neue KYT auf Lesbos nur auf dem Papier steht, werden tausende Flüchtlinge und Asylsuchende, die der „Hölle von Moria“ entkommen sind, in Kara Tepe verbleiben. Viele NGOs befürchten, dass dieses Provisorium zu einer zweiten Hölle wird. Ob es so kommt, wird auch von den "epidemiologischen" Verhältnissen in Kara Tepe abhängen.
Eine provisorische Gesundheitsversorgung
Derzeit gibt es begründete Hoffnung, dass wenigstens die hygienische Infrastruktur und die Gesundheitsversorgung in Kara Tepe besser sein werden als in Moria. Der Brand hat immerhin die Aufmerksamkeit der internationalen Organisationen angefacht, die schnelle Hilfe zugesagt haben, wie zum Beispiel das Emergency Response Coordination Center (ERCC) der EU. Die gesundheitliche Betreuung der Flüchtlinge in Kara Tepe ist zunächst durch ein norwegisches Team einigermaßen gewährleistet.(14) Die 22-köpfige Helfergruppe, zu der auch Hebammen und Kinderärzte gehören, wurde von der WHO entsandt. Ende Oktober soll sie durch ein Team aus Deutschland abgelöst werden, das bis Ende des Jahres im Einsatz sein wird. Danach soll die medizinische Betreuung dauerhaft an das griechische Gesundheitssystem übergeben werden. In einem Interview mit Sto Nisi äußerte sich der Arzt Nasos Gialis allerdings skeptisch, ob die griechische Seite das nötige Personal bis zum Jahresende abstellen kann.
Doch das größte Problem ist, dass das Provisorium zu einem Corona-Hotspot geworden ist. Bei der Aufnahme der insgesamt 9.398 obdachlosen Flüchtlinge in Kara Tepe wurden alle Erwachsenen und alle Kinder ab 10 Jahren getestet. Von diesen 7.064 Corona-Tests waren 243 positiv, was eine Quote von 3,4 Prozent ausmacht (Sto Nisi vom 21. September). Das Durchschnittsalter der positiv Getesteten lag bei 24 Jahren, die meisten von ihnen waren asymptomatisch. Zwar wurden die Corona-Infizierten in Sonderbereichen isoliert, aber für das Lager insgesamt sind die epidemiologisch gebotenen Regeln nicht gewährleistet. Deshalb hat der Präfekt für die Nordägäis am 14. Oktober gefordert, Kara Tepe vollständig abzuriegeln, denn jeder Flüchtling, der sich außerhalb des KYT bewege, sei für die griechische Bevölkerung eine bedrohliche „Hygiene-Bombe“.(15)
Wie das neue KYT funktioniert und wie lange das "Provisorium" Bestand haben wird, hängt nicht nur von der Fertigstellung eines kleineren dauerhaften KYT in Lesbos ab. Entscheidend wird sein, ob das „Zwischenlager“ Kara Tepe in den nächsten Monaten wesentlich „entlastet“ werden kann. Bis Ende September wurden immerhin mehr als 1.500 Flüchtlinge, die ein Recht auf Asyl erworben haben, von Lesbos auf das Festland transportiert. Bis Jahresende sollen weitere 4.500 Asylberechtigte die Insel verlassen, wie der Athener Innenminister Chrysochoidis verkündete (The Guardian vom 16. September). Dieses Ziel ist nur zu erreichen, wenn die Bearbeitung der Asylanträgen beschleunigt wird. Das hat die Regierung Mitsotakis zwar versprochen, aber ähnliche Zusagen wurden zu Zeiten des KYT Moria nie eingelöst.
Athen will eine neue „Flüchtlingswelle" mit "allen Mitteln" verhindern
Der Entlastungseffekt hängt aber noch von einem weiteren Parameter ab: von der Zahl der Boatpeople, die in nächster Zeit von der türkischen Küste nach Lesbos gelangen. Deshalb ist die Regierung Mitsotakis entschlossen, eine neue „Flüchtlingswelle“ mit allen Mitteln zu verhindern. Zu diesen Mitteln gehören nicht nur inhumane Praktiken wie „unterlassene Hilfeleistung“, sondern auch völkerrechtswidrige Pushback-Aktionen.
Inzwischen ist zweifelsfrei bewiesen, dass die griechische Küstenwoche seit April dieses Jahres immer wieder Flüchtlingsboote, die es in die griechische Hoheitszone oder sogar an ein rettendes Ufer geschafft hatten, in türkische Gewässer zurückgedrängt hat. Ein Beispiel ist der Vorfall auf Samos von Ende April, der in meinem Blog-Text vom 9. Mai 2020 noch als ungeklärt galt. In einem Bericht der Deutschen Welle vom 23. Mai 2020, der auf Recherchen von Medienplattformen wie Lighthouse Reports und Bellingcat basiert, wurde dieser Fall umfassend dokumentiert. Demnach wurde die 22-köpfige Gruppe, die am 28. April im Westen von Samos an Land gegangen war, von der griechischen Polizei nicht etwa pflichtgemäß in das KYT von Samos gebracht. Stattdessen wurden die Flüchtlinge auf ein schwarz-rotes Life-Raft verfrachtet, das weder Motor noch Paddel hatte. Dieses Rettungsfloß wurde wurde von der griechischen Küstenwache ins offene Meer geschleppt. Da das fragile Gefährt zunächst nach Samos zurücktrieb, wurde es von den Griechen an den Haken genommen und in türkische Hoheitsgewässer geschleppt.(16)
Seit diesem Vorfall von Ende April haben zahlreiche weitere Pushbacks stattgefunden, die von internationalen NGOs, aber auch von der Frontex, der UNHCR, dem Europarat, sowie von der dänischen und der deutschen Regierung kritisiert wurden.(17) Die Dimension dieser illegalen Praktiken ist unklar, weil die griechischen Behörden auf Anfragen jede Auskunft verweigern. In einem detailliertem und mit Video-Aufnahmen dokumentierten Bericht der New York Times vom 14. August 2020 kommen Patrick Kingsley und Karam Shoumali zu dem Ergebnis, dass die griechische Küstenwache mindestens 31 Pushback-Aktionen unternommen und dabei mindestens 1.072 Flüchtlinge in die Türkei zurückgedrängt hat.
Eine exemplarische Pushback-Erfahrung
Eine der eindringlichsten Schilderungen stammt von einer syrischen Migrantin, die gleich zwei Pushback-Aktionen miterlebt hat. Die 50-jährige Lehrerin Najma al-Khatib gehörte zu einer Gruppe von 23 Boatpeople, die am 23. Juli 2020 die Überfahrt nach Rhodos geschafft hatten. Über die Landung ihres Bootes in der Nähe des Hafens erschien damals auch ein Bericht in der lokale Zeitung I Rodiaki (vom 24. Juli), in dem es hieß, die Flüchtlinge seien von der Polizei festgenommen worden.
Was dann passierte, schilderte die syrische Lehrerin gegenüber der New York Times. Die Flüchtlinge wurde drei Tage lang in einem Arrestzentrum der Hafenpolizei festgehalten. Am Abend des 26. Juli kam ein Polizeibus, der sie abholte: "Man sagte ihnen, sie würden in ein Lager auf einer anderen Insel und von dort nach Athen gebracht. Stattdessen wurden sie nach Anbruch der Nacht von maskierten griechischen Beamten auf zwei Schiffe verfrachtet, die sie aufs Meer hinausfuhren und an der Grenze zu türkischen Gewässern auf Life-Rafts absetzten". Dort wurden sie in den frühen Morgenstunden von der türkischen Küstenwache gerettet.
Zwei Wochen später unternahm Najma al-Khatib einen weiteren Versuch, nach Griechenland zu gelangen. Dieses Mal wurde ihr Schlauchboot nördlich von Lesbos von der griechischen Küstenwache aufgebracht und in türkische Gewässer zurückgeschleppt. Der Vorfall war nur einer von mehreren, die sich diesen Sommer vor und an den Küsten von Lesbos abspielten. Berichte über die Pushbacks erschienen in den lokalen Medien, aber auch in der Athener Tageszeitung EfSyn (am 4., 13. und 22. Juni, und am 1., 13., 14. und 20. August). In zwei der dokumentierten Fälle haben maskierte Männer der Küstenwache innerhalb der griechischen Hoheitszone den Motor des Flüchtlingsboots zerstört, um es manövrierunfähig zu machen.
Ein Sündenregister
Eine umfängliche Dokumentation über die illegalen Praktiken der griechischen Küstenwache hat das Legal Centre Lesvos (LCL) am 13. Juli 2020 vorgelegt („Collective Expulsions Documented in the Aegean Sea: March – June 2020“). Darin kommt das LCL zu dem Schluss: „Die griechische Regierung verfolgt ganz offen eine Politik der Abschreckung und gewaltsamen Behinderung der Überfahrt von Migranten, womit sie ihre Verpflichtungen, die sich aus dem Völkerrecht und insbesondere dem Grundsatz der Nichtzurückweisung ergeben, so wenig respektiert wie das Leben der Zuflucht suchenden Menschen. Wenn diese Aktionen, wie hier dokumentiert, zu einer verbreiteten und systematischen Praxis werden, sind sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewerten.“
Die Studie basiert auf eigenen Recherchen, laufenden Medienberichten und Informationen, die von NGOs wie Alarmphone, Mare Liberum und Aegean Boat Report stammen. Da der Text in englischer Sprache vorliegt, empfehle ich dringend, ihn ganz zu lesen. Laut LCL umfasst das Sündenregister der griechischen Küstenwache folgende Punkte:
- Gestoppte Flüchtlingsboote werden bedroht und beschädigt oder man verweigert ihnen über längere Zeit jede Hilfe
- an Land aufgegriffene Personen werden in inoffizielle Haftzentren verbracht, bevor eine kollektive Abschiebeaktion übers Meer stattfindet
- Flüchtlingen wird ihre Habe abgenommen, darunter Mobiltelefone, Ausweise, Geld und (in Einzelfällen) Medikamente
- angekommene Flüchtlinge werden nicht registriert und erhalten auch keine Information über die Möglichkeiten und Modalitäten eines Asylbegehrens
- Flüchtlinge werden verbal und physisch bedroht und von einem Schiff der Küstenwache auf ein motorloses Life-Raft oder in ihr eigenes – manövrierunfähig gemachtes – Boot gestoßen
- die Küstenwache nimmt das Life-Raft oder das beschädigte Schlauchboot in Schlepptau und zieht es ins offene Meer, wo man die Flüchtlinge ihrem Schicksal überläßt.
Ausflüchte, Abstreiten und Lügen
Wie reagiert die griechische Regierung auf solche Beweise für ihre völkerrechtswidrigen Praktiken? Sie gibt ausweichende Antworten. Oder sie streitet ab. Und wenn es sein muss, lügt sie auch. Mit Ausweichen reagierte etwa Regierungssprecher Stelios Petsas auf die Anfrage der New York Times: „Die griechischen Behörden unternehmen keine geheimen Aktivitäten. Griechenland hat, was die Beachtung internationaler Gesetze, Konventionen und Protokolle betrifft, eine ausgewiesene Erfolgsbilanz vorzuweisen. Das gilt auch für die Behandlung von Flüchtlingen und Migranten.“
Das üblichste Ablenkungsmanöver ist der triumphierende Hinweis, dass das angebliche Beweismaterial aus türkischen Quellen stamme. Auch Regierungschef Mitsotakis behauptete in einem Interview mit CNN (vom 20. August), alle belastenden Informationen kämen „im wesentlichen aus der Türkei“. Sein Land sei also Opfer einer „türkischen Desinformations-Kampagne“. Diese Ausflucht ließ ihm die souveräne Interviewerin Christiane Amanpour allerdings nicht durchgehen. Mit der Klarstellung, dass der New York Times-Artikel auch auf Informationen von NGOs und kompetenten Wissenschaftlern beruht, entlarvte sie den Verweis auf die "türkische Desinformationen" als Desinformation von Mitsotakis.
Das CNN-Interview vom August ist auch deshalb aufschlussreich, weil Amanpour dem griechischen Ministerpräsidenten eine offizielle Stellungnahme zu den illegalen Pushback-Praktiken abringt. Auf Amanpours Frage: "On the record: Has this happened?" antwortete Mitsotakis, nach drei Sekunden Zögern: "No, it has not."(18)
Mitsotakis ist kein perfekter Lügner
Was lernen wir aus dieser Szene: Wenn die Fakten nicht mehr zu schönen sind, hat der Champion der medialen Selbstinszenierung keine Skrupel, der internationalen Öffentlichkeit ins Gesicht zu lügen. Mitsotakis versicherte seiner Gesprächspartnerin: „Wenn es irgendeinen Fall gibt, der aufgeklärt werden muss, wenn es irgendwo irgendwelche Übertreibungen gibt, werde ich der erste sein, der sich darum kümmert.”
Der PR-Stratege gab sein Bestes. Und doch machte er am Ende des Interviews einen Fehler, als er seiner Unschuldsbeteuerung eine Argumentation nachschob, die das Abschieben von Flüchtlingen in die Türkei als legitim erscheinen lässt: "All diese Leute, die Asyl in Griechenland suchen, kommen doch aus einem Land, in dem sie sicher sind… die Türkei ist für sie eine sicherer Bestimmungsort". Mit dieser Behauptung – die überdies falsch ist(19) – versucht Athen seit der Flüchtlingskrise im März 2020 auf EU-Ebene (im Verein mit Bulgarien und Zypern) eine "Notfallregelung" durchzusetzen, nach der man Flüchtlingen, die über die Türkei kommen, das Recht auf einen Asylantrag verweigern kann.
Eine Notstandsklausel will die Regierung Mitsotakis aber auch für das griechische Grenzregime erreichen. Als im Juni immer mehr internationale Medien über die Pushback-Praktiken berichteten, forderte Vize-Migrationsminister Georgios Koumoutsakos in einem TV-Interview, die EU müsse dem "Frontstaat" Griechenland bei der Verteidigung der Festung Europa gegen die Migrantenflut eine gewisse "Flexibilität" einräumen: "Wenn wir die europäischen Grenzen schützen, fordern wir, dass uns hinsichtlich der Methoden, die wir anwenden, keinerlei Kritik angehängt wird".(20)
Wie sich die Regierung Mitsotakis um die Pushback-Vorwürfe kümmert
Auch die illegalen Pushback-Praktiken zählen aus Sicht Athens zu den Methoden einer "flexiblen" Grenzsicherung, die aller Kritik enthoben sein sollen. Dass Mitsotakis von diesen Methoden keine Kenntnis hatte, ist angesichts seines straffen, zentralisierten Regierungsstils völlig ausgeschlossen. Dabei ist die Aussage des Regierungschefs, er werde der erste sein, der sich um die Aufklärung möglicher "Übertreibungen" kümmern würde, nicht nur wahrheitswidrig, sondern auch zynisch. Wie wir heute wissen, hat sich Mitsotakis durchaus um die Pushback-Aktionen gekümmert – wenn auch auf andere Weise als gegenüber Amanpour versichert.
Das ist eine längere Geschichte, die erst jetzt herausgekommen ist. Am 4. Oktober veröffentlichte die – gewöhnlich gut informierte – Kathimerini einen detaillierten Bericht über eine verdeckte Operation, die "nach Absprache auf zentraler Regierungsebene" durchgezogen wurde. Dabei wurden NGOs ins Visier genommen, die sich in Lesbos seit Jahren für die Rettung und Betreuung von Flüchtlingen engagieren. Um welche Organisationen es sich handelt, gaben die Regierungsstellen nicht bekannt. Nach informellen Auskünften sollen die NGOs Watch the Med, Mare Liberum (in Deutschland registriert) und Josoor (registriert in Österreich) betroffen sein. Alle drei haben regelmäßig über Pushback-Aktionen der griechischen Küstenwache berichtet und arbeiten eng mit einem System namens AlarmPhone zusammen.
Welchen Stellenwert der Schlag gegen die lästigen NGOs für die Athener Regierung hat, zeigt die Tatsache, dass an der von Vize-Innenminister Lefteris Oikonomou koordinierten Operation auch das griechische Militär und der Geheimdienst EYP beteiligt waren. Laut Kathimerini dauerte die Aktion vom 23. Mai bis zum 12. August 2020 und lief in drei Phasen ab. Zunächst wurden die Büros und Einrichtungen von sechs NGOs in Mytilini von der Polizei durchsucht. Auf Grundlage des konfiszierten Material ordnete die örtliche Staatsanwaltschaft weitere Nachforschungen und Ermittlungen gegen vier der NGOs an – begründet mit dem Verdacht auf "Beihilfe zum Transfer von Migranten und Flüchtlingen von der Türkei nach Lesbos" mittels "illegaler Methoden und Prozeduren".
Migranten als Geheimdienstagenten
In der letzten Phase kam der griechische Geheimdienst EYP ins Spiel, der die "Operation Alkmene" organisierte. Da das konfiszierte Material offenbar nicht ausreichte, um eine aktive Beihilfe der NGOs zu dem Delikt "Menschenschmugggel" zu belegen, schickte der Geheimdienst ein 30-köpfiges Team nach Lesbos, das eine Undercover-Aktion inszenierte. Unter anderem warben die EYP-Leute zwei Ausländer an, die nach Izmir geschickt wurden, um sich an der türkischen Küste in ein Flüchtlingsboot einzukaufen. Bei diesem Plan musste der Geheimdienst auch die Küstenwache von Lesbos einschalten, damit "das von der türkischen Küste ablegende Boot an seinem Bestimmungsort auch landen konnte". Das heißt: Das Boot mit den "Migranten-Agenten" wurde von der Küstenwache ausnahmsweise durchgelassen, um belastende Aussagen der beiden EYP-Söldner über die "Fluchtbeihilfe" der feindlichen NGOs zu gewinnen. Laut Kathimerini sollen diese Aussagen "nach Meinung von Kennern entlarvend sein".
Auf Grundlage der geheimdienstlich inszenierten Zeugenaussagen hat die Polizei in Lesbos am 28. September strafrechtliche Ermittlungen gegen 33 Mitglieder der vier inkriminierten NGOs in die Wege geleitet. Und zwar wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung, Spionagetätigkeit, Verletzung von Staatsgeheimnissen und Verstößen gegen Migrationsgesetze. Die beschuldigten Personen sollen „unter dem Vorwand humanitärer Tätigkeit“ den „Zustrom von Flüchtlingen unterstützt“ haben, indem sie durch Übermittlung „vertraulicher Informationen und Angaben“ die (versuchte oder gelungene) Überführung von Ausländern nach Lesbos in mindestens 32 Fällen erleichtert haben. Zudem wird den NGOs vorgeworfen, sie hätten „mittels ausgiebiger Nutzung von Telefonverbindungen, die mit der Aktivierung von Rettungsaktionen zu tun haben, die Rettungsarbeiten von Schiffen der Küstenwache erschwert“ (Sto Nisi vom 28. September).
Die Pushback-Zeugen werden zu Staatsfeinden
Dieser letzte Vorwurf bringt den Zweck der ganzen Übung auf den Punkt. Die NGOs und die 33 Personen, die zu Staatsfeinden erklärt werden, haben eines gemeinsam: Ihr Einsatz für die Bootsflüchtlinge stützt sich auf das System AlarmPhone, das 2014 von der internationalen NGO Watch the Med gegründet wurde und in drei Regionen des Mittelmeers (Griechenland, Libyen, Marokko) präsent ist. Wenn die Notrufnummer des Systems von Boatpeople – oder deren Angehörigen – angerufen wird, können die AlarmPhone-Mitarbeiter die zuständige Küstenwache alarmieren und zur Rettung der Flüchtlinge auffordern. Die Tätigkeit der Organisation wird völlig transparent kommuniziert und wird auf der Website von Watch the Med fortlaufend dokumentiert.(21)
Diese Rolle als Notruf-Zentrale macht AlarmPhone zwangsläufig zum Zeugen von illegalen Praktiken und Pushback-Aktionen. Die meisten Informationen über die Vorfälle in Lesbos zwischen Mai und Juli 2020 stammen von AlarmPhone und Watch the Med, deren Meldungen auch von internationalen Medien und von humanitären Organisationen aufgegriffen wurden.(22) Das ist der eigentliche Grund, warum die Regierung Mitsotakis die griechische Polizei, die Armee und den Geheimdienst gegen die allzu „investigativen“ NGOs mobilisiert hat. Den Zeugen und Anklägern der völkerrechtswidrigen Praktiken soll das Handwerk gelegt werden.
Als der griechische Regierungschef in dem CNN-Interview jede Kenntnis dieser Praktiken leugnete, war die "Operation Alkmene" seines Geheimdienstes bereits abgeschlossen. Das heißt: Als Mitsotakis gegenüber Amanpour erklärte, er werde sich künftig um die Aufklärung der Pushback-Vorwürfe "kümmern", hatte er bereits eine Operation zur Einschüchterung und Kriminalisierung unliebsamer Zeugen autorisiert. Und zwar mit dem alleinigen Ziel, die zugesagte Aufklärung zu unterbinden.
Die dreiste Lüge des Kyriakos Mitsotakis wurde in den griechischen Medien nur von der linken Zeitung EfSyn thematisiert. Die Mainstream-Medien präsentierten den CNN-Auftritt des Regierungschefs dagegen als großen Erfolg. Der Nimbus als zupackender Macher, den Mitsotakis nach wie vor genießt, beruht zu einem erheblichen Teil auf seiner erfolgreichen Pflege der Medienlandschaft. Doch dieser Ruf ist gefährdet, wenn das erzeugte Image nicht mehr mit der Realität übereinstimmt. Das größte Problem für Mitotakis ist deshalb die höchst bedrohliche Entwicklung der Corona-Krise, die seine Regierung im Frühjahr unter Kontrolle zu haben glaubte. Wie diese Regierung und ganz Griechenland ihren gefeierten Anfangserfolg verspielt haben, werde ich in meinem nächsten Text untersuchen.
Anmerkungen
1) Zitiert nach "Respekt für Griechenland". Die Initiative „Volunteers for Lesbos“ wird von der NGO „Respekt für Griechenland“ getragen, auf deren Website aktuelle Berichte aus Lesbos nachzulesen sind.
2) Siehe dazu meinen Blog-Text "Das Virus und die Flüchtlinge" vom 21. April 2020; sowie die sehr informative „Kurzgeschichte“ des Lagers Moria von Michael Martens: „Erwartbare Katastrophe“, FAZ vom 14. September 2020.
3) Nach einem Bericht der Kathimerini vom 10. Juli 2020 hatten im ersten Halbjahr 2020 nur 10 Prozent der rund 2.000 asylberechtigten Flüchtlinge, die von den Inseln nach Attika gebracht wurden, die Aufnahme in das Programm beantragt. Der Helios-Zielkatalog ist zu finden unter dem folgenden Link.
4) Der Plan vom 13. April 2020 in englischer Fassung.
5) Moutzouris ist ein fanatischer Nationalist, der früher der Regierungspartei ND angehörte, sein Amt als Präfekt aber als „Unabhängiger“ gewonnen hat. Welches Geistes Kind er ist, zeigte Moutzouris im Juli 2020, als die türkische Regierung verkündete, dass die Istanbuler Hagia Sophia wieder eine Moschee wird. Der Präfekt forderte einen demonstrativen Revancheakt: die Einstellung der staatlich finanzierten Restauration der Valide Cami, der älteste Moschee von Mytilini aus der osmanischen Epoche (siehe EfSyn vom 15. Juli 2020).
6) Eine Woche nach dem Interview hat sich die NGO in aller Form für die Formulierung entschuldigt und gelobt, sich nicht mehr so auszudrücken. Siehe die Website lesvosnews.net vom 28. Mai 2020. Auf Englisch findet sich eine Schilderung des Konflikts auf der (überaus chauvinistischen) Website “Greek City Times”, die von in Auslandsgriechen in Australien betrieben wird.
7) In einem Interview klagte die Selbsthilfegruppe zum Beispiel: "Es fehlen Handwascheinrichtungen, Hygienemaßnahmen und soziale Distanz können nicht umgesetzt werden."
8) Der Ortsname Kara Tepe (Schwarzer Hügel) hat sich im Sprachgebrauch aus osmanischer Zeit erhalten; in offiziellen Verlautbarungen (und in patriotischen Zeitungen) wird das türkische Wort durch das griechische „Mavrovouni“ ersetzt.
9) Berichte in Sto Nisi vom 8. und vom 13. Oktober mit Fotos; eindrucksvolles Video-Material bietet der Aegean Boat Report vom 8. und 14. Oktober 2020. Einen detaillierten Bericht über die Zustände in Kara Tepe hat die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart veröffentlicht.
10) Nach einem Bericht in Sto Nisi vom 12. Oktober hat das Migrationsministerium bereits die Überführung der Container ins Lager Kara Tepe angefordert. Siehe auch EfSyn vom 22. und Kathimerini vom 24. September 2020.
11) Der schnelle Massentest im neuen Lager wurde durch eine private Spende eines Reeders ermöglicht (Kathimerini vom 20. September).
12) Die Aufnahme in das Camp erfolgt per Überweisung durch die lokale UNHCR-Vertretung. Zur Verleihung des Nansen Reward siehe den Link.
13) Zitiert nach Ethnos vom 24. September; siehe auch EfSyn vom 12. Oktober 2020.
14) Siehe Norway Today vom 23. September 2020.
15) Der Vorstoß des Präfekten erfolgte, nach dem das KYT von Chios abgeriegelt worden war, weil man dort mehrere Corona-Fälle festgestellt hatte. Welcher Logik diese Maßnahme für das KYT Chios folgt, zeigt die Tatsache, dass schwangere Frauen aus dem Lager sofort aufs griechische Festland verschickt werden sollen, um zu verhindern, dass sie zur Entbindung das Krankenhaus von Chios aufsuchen (siehe Sto Nisi vom 14. Oktober).
16) Diese Pushback-Aktion ist auf einem Video dokumentiert, das bei Bellingcat abzurufen ist. Zwei Wochen später hat die Küstenwoche von Samos erneut ein Life-Raft mit Flüchtlingen in türkische Gewässer geschleppt (siehe Aegean Boat Report vom 11. Mai 2020).
17) EfSyn vom 10. August 2020. Frontex-Chef Fabrice Leggeri bestätigte die Pushback-Aktionen bei seiner Anhörung im Europäischen Parlament vor einer Arbeitsgruppe des Innenausschusses. Siehe dazu die Facebook-Mitteilung des sozialdemokratischen MEP Dietmar Köster vom 2. Juni 2020. Ein Bericht über den Einsatz der Rettungsinseln (Liferaft) als Pushback-Vehikel stand am 22. Mai 2020 auf Website von Just Security, einem Online-Forum der New York University School of Law.
18) Diese Stelle findet sich in dem Video bei 10:30 min.
19) Diese Aussage ist falsch. In einer Studie von Amnesty International mit dem Titel "No safe Refuge" wird unter anderem auf syrische Flüchtlinge verwiesen, deren Menschenrechte in der Türkei nach ihrer Rückkehr aus Griechenland verletzt wurden, etwa durch "willkürlich Inhaftierung" oder die Verweigerung einer "rechtlichen Vertretung" oder einer speziellen medizinischen Versorgung.
20) Erklärung im staatlichen TV-Sender ERT 1 (zitiert nach Efsyn vom 5. Juni 2020). Die Pushback-Aktionen an der Landgrenze zur Türkei in Thrazien, die auf diesem Blog in anderen Texte (vom 21. April 2020 und vom 22. Juni 2017) geschildert wurden, hat die NGO Human Rights 360 in ihrem neuesten Report ausführlich dokumentiert. Siehe: „Defending Right in Times of Border Militarization“, Oktober 2020.
21) Ein gutes Beispiel ist der Bericht über eine (ergebnislose) Recherche im Gebiet zwischen Rhodos und der türkischen Küste vom 8. Juli 2020.
22) Siehe den AlarmPhone-Report „Aegean Regional Analysis“ vom 14. Oktober.
Anhang:
Marilena Koppa: Zu wenig und zu spät (EfSyn vom 29. September 2020)
Am 23. September, nur wenige Tage nach dem Brand, der dem Horrorlager von Moria ein Ende bereitete, hat die Europäische Kommission ihren Entwurf für eine neue, längst überfällige Vereinbarung zur Flüchtlings- und Asylpolitik veröffentlicht. Über diesen Text werden die Mitgliedsstaaten in nächster Zeit hart verhandeln. Doch angesichts dieser Diskussionsbasis kann das Ergebnis der Verhandlungen nur enttäuschend ausfallen.
Der Text verspricht zum einen, die Solidarität und das Vertrauen zwischen den Partnern in der Asylfrage wiederherzustellen, zum anderen ein klareres Verfahren für die Migranten und Asylbewerber zu schaffen. Dabei werden den Mitgliedstaaten probate Wahlmöglichkeiten angeboten, wie etwa die Wahl zwischen der Aufnahme neu angekommener Migrantenn und der Finanzierung des Rückführungsverfahrens von Menschen, denen das Asylrecht verweigert wurde.
Leider wird die neue Vereinbarung weder die Dublin-Verordnungen abschaffen, womit man die Ersteinreise-Länder entlasten würden, noch eine pragmatische Lösung für die Migranten und Flüchtlinge bringen. Und schon gar nicht wird sie verhindern, dass sich die tragische Erfahrung von Moria wiederholt.
Das „Nie wieder“, das Europa nach Moria eigentlich aussprechen müsste, kommt in diesem Text leider nicht vor. Denn der ist in der Substanz nicht etwa eine Reaktion auf das Flüchtlingsproblem, sondern auf die Spannungen zwischen den EU-Staaten mit unterschiedlichen Interessen, die jeweils zum Teil bedient werden. Einerseits will man die „Frontstaaten“ beschwichtigen und zu diesem Zweck einige der Dublin-Regelungen abändern, sodass diese grundsätzlich das Recht haben sollen, die über See ankommenden Migranten sofort nach ihrer Ankunft auf die gesamte EU zu verteilen. Zum anderen werden die Länder bedient, die keine Migranten aufnehmen wollen (also vor allem die Visegrad-Staaten), indem man ihnen eine alternative Zuständigkeit bietet: nämlich die Rückführung von Flüchtlingen mit negativem Asylbescheid zu übernehmen.
Der Text enthält keinerlei Bezug auf den UN-Migrationspakt „Global Compact on a Safe, Orderly and Regular Migration“ (GCM). In diesem 2018 verabschiedeten Dokument wurden erstmals grundlegende Prinzipien verankert, die den Migranten nicht nur die Wahrung ihrer Menschenrechte garantieren, sondern auch menschenwürdige Lebensverhältnisse sichern soll. Mit der Missachtung dieses Dokument vermittelt die EU den Eindruck, dass ihre Mitgliedstaaten über die von der UN aufgestellten Prinzipien erhaben sind und die vielfachen Verstöße gegen die Menschenrechte von Flüchtlingen und Migranten, die auf ihrem Territorium stattfinden, nicht zur Kenntnis nehmen.
Und so enthält der Entwurf der Kommission auch keinerlei Selbstkritik: Weder wird erwähnt, was schief gelaufen ist, noch gibt es einen Hinweis auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die sich in den EU-Ländern breit gemacht haben, und die eine ausgewogene Verteilung der Lasten zwischen den Ländern ebenso erschweren wie die Integration der Aufgenommenen in das Alltagsleben.
Das Grundproblem bleibt also bestehen: Die EU verfügt über kein geregeltes Verfahren für legale Einwanderung nach Europa, das eine normale und rechtlich geregelte Bearbeitung von Asylanträgen ermöglichen würde. Die Union gibt damit stillschweigend zu erkennen, dass sie ihre Migrations- und Asylpolitik in Wirklichkeit weder reformieren kann noch will. Das zeigt etwa die Tatsache, dass der Brüsseler Entwurf das Problem der Migrationsströme nicht einmal erwähnt. Was die Kommission vor allem beschäftigt, ist die Regelung der Rückführungen, die sich als zentraler Punkt des ganzen Textes erweist.