Neue Pushback-Aktionen (Corona, Teil II a)
von Niels Kadritzke | 9. Mai 2020
In diesem Text beschäftige ich mich noch einmal ausschließlich mit der Flüchtlingsfrage, weshalb dieser Teil als Corona II a benannt wird. Darin werden ausführlich neuerliche Pushback-Aktionen der griechischen Küstenwache dokumentiert, die von den internationalen Medien kaum zur Kenntnis genommen werden. Der letzte Teil III, der sich ganz auf die ökonomischen Folgen der Corona-Krise konzentriert, erscheint Anfang nächster Woche.
Am 01. Mai 2020 wurde eine Gruppe Migranten, die von der griechischen Küstenwache in die türkischen Hoheitsgewässer zurückgedrängt wurden, vor der Küste von İzmir's Çeşme Distrikt/Boğaz Insel entdeckt. © Türkische Küstenwache
Die Situation der März-Flüchtlinge
Beginnen möchte ich mit einer weiteren Information zur Frage des Asylrechts für die “März-Flüchtlinge”. In einer nachträglichen Berichtigung zum Teil II dieses Berichts habe ich klargestellt, dass den im März aus der Türkei angekommenen Migranten von der Athener Regierung doch noch das Recht auf einen Asylantrag eingeräumt wird.
Wie es zu dieser erfreulichen Entwicklung gekommen ist, weiß die Tageszeitung EfSyn zu berichten. Demnach geriet die Regierung nach Äußerungen, dass sie diese Flüchtlinge pauschal in ihre Heimatländer zurückschicken wolle, unter starken politischen Druck seitens der UN-Organisationen und der EU-Kommission. Dieser Druck erzwang laut EfSyn einen “ungeordneten Rückzug von der Umsetzung der berüchtigten Rechtsverordnung, die eine sofortige Ausweisung (der März-Flüchtlinge) in ihre Herkunftsländer vorsah”.
Entscheidend waren dabei offenbar zwei Schachzüge gegen die Athener Regierung. Erstens soll die EU-Kommission gedroht haben, die Finanzierung der Lager auf dem griechischen Festland einzustellen, wenn die Flüchtlinge ihrer Rechte dauerhaft beraubt blieben. Zweitens begannen die in Griechenland tätigen Büros der Internationale Organisation für Migration (IOM) und der UNHCR am 5. April demonstrativ, ihre Arbeitsstäbe in die Lager zu schicken und die März-Flüchtlinge zu befragen, ob sie Asyl beantragen wollen.(1) Diese Befragung zu unterbinden, hätte eine riesigen Eklat bedeutet. Unter dem doppelten Druck aus Brüssel und seitens der UNHCR musste die Regierung Mitsotakis einknicken. Allerdings ist wegen der Corona-Maßnahmen auch weiterhin ungeklärt, wann die Flüchtlinge ihre Aslyanträge tatsächlich stellen können. Während des ganzen Monats April wurden jedenfalls keine neuen Anträge entgegengenommen (EfSyn vom 4. Mai 2020).
Neue Container und neue Pushback-Fälle
Wie im Teil Corona II berichtet, benötigt Griechenland für den Aufbau von Quarantäne-Stationen in den Flüchtlingslagern (auf den Inseln wie auf dem Festland) weitere Wohncontainer, in denen Corona-infizierte Lagerinsassen behandelt und isoliert werden können. Am 8. April bekam die Athener Regierung von Österreich die Zusage über die Lieferung von 181 Containern. 60 von ihnen sind am 30 April mit einem Güterzug in Thessaloniki eingetroffen, wo sie von Vize-Migrationsminister Koumoutsakos und dem österreichschen Botschafter in Empfang genommen wurden. Der Weitertransport der ersten Container in die Lager erfolgte in der ersten Maiwoche - sechs Wochen nachdem die Regierung am 22. März den Notfallplan “Agnodike” für den Schutz der Lagerinsassen vorgestellt hatte.
Ein Bericht über die glückliche Ankunft der Container erschien am 1. Mai in der Wiener Tageszeitung Der Kurier. Darin wird Koumoutsakos mit einigen seltsamen Äußerungen zitiert. Unter anderem erklärte der Athener Minister, in den Lagern sei alles “unter Kontrolle”, denn: "Wir haben sehr früh Maßnahmen getroffen, die Leute in allen Sprachen informiert, Abstandhalten eingeführt und alle Aktivitäten gestoppt, die eine Ansammlung von vielen Leuten erzeugen würden.”
Der Minister sagte allerdings nicht, dass die Regeln zwar für die gesamte Bevölkerung gelten, aber gerade in den Lagern gar nicht eingehalten werden können. Dennoch behauptete Komoutsakos, die Flüchtlinge seien auf den Inseln besser geschützt als auf dem Festland, weil es hier kaum Corona-Fälle gebe. Erleichtert werde die Situation auch dadurch, dass “bereits seit Wochen fast keine Ankünfte mehr von Flüchtlingsbooten aus der Türkei auf den Ostägäischen Inseln” zu verzeichnen seien.(2)
Die verschwundenen Flüchtlinge von Samos
Diese letzte Behauptung, die das von der Regierung Mitsotakis verkündeten Dogma der “Null-Ankunft” von Flüchtlingen bekräftigt, ist schlicht und einfach falsch. Inzwischen gibt es Belege dafür, dass sehr wohl Flüchtlinge auf den Inseln ankamen, dann aber umgehend in die Türkei zurückgedrängt wurden. Und zwar mittels Pushback-Operationen, die genauso illegal und noch schwerwiegender sind als diejenigen, die Anfang März an der griechisch-türkischen Landgrenze in Thrazien stattgefunden haben.(3) Diese illegalen Praktiken werden, wie schon während des kleinen “Grenzkriegs” am Evros im März, von den meisten griechischen Medien verschwiegen.
Basierend auf zwei Vorfällen, die der Journalist Yiannis Negris von der lokalen Radiostation 2000FM in Samos recherchiert hat, traute sich immerhin eine Athener Zeitung (die linke Efimerida ton Syntakton oder EfSyn), über dieses Thema zu schreiben. In dem winzigen Dorf Drakei (gr. Schreibweise Drakoiei), im einsamen Südwesten von Samos, tauchten um die Mittagszeit des 28. April etwa 30 Flüchtlinge auf, die offensichtlich an einem Strand unterhalb des Dorfes an Land gegangen waren. Ein Ladenbesitzer rief im Radiosender 2000FM an und zeigte sich besorgt, dass die Ankömmlinge den Coronavirus eingeschlept haben könnten. Auch andere Dorfbewohner bestätigten gegenüber dem Sender die Ankunft der Flüchtlinge (in mehreren kleinen Gruppen); einer erzählte, dass eine Flüchtlingsfrau ihn gebeten habe, die Polizei zu benachrichtigen.
Die ganz Gruppe wurde später in zwei Fahrzeugen der Polizei und der griechischen Küstenwache (4) abtransportiert, was auch eine Frau aus dem Nachbardorf Kallithea bestätigte, die beide Fahrzeuge um 15 Uhr durch ihr Dorf fahren sah. Sie war die letzte Augenzeugin, die die Flüchtlinge gesehen hat. Denn die sind seitdem verschwunden. Alle Stellen, bei denen Yiannis Negris nachfragte – die Küstenwache, die Polizei, das Krankenhaus der Hauptstadt Vathy – wussten angeblich von nichts. Die Küstenwache erklärte entschieden: “Ein solcher Vorfall hat nicht stattgefunden.” Selbst der ebenfalls befragte Ortsvorsteher von Drakei wollte von den boat people in seinem Dorf nichts mitbekommen haben.
Die norwegische NGO Aegean Boat Report (ABR) hat inzwischen ein kurzes Video verbreitet, das der ABR offensichtlich von den Flüchtlingen übermittelt wurde. Es zeigt erstens eine Szene auf hoher See mit der Westspitze von Samos am Horizont, und eine zweite Szene vom Aufstieg der Gruppe nach Drakei, mit Blick zurück auf die Küste.(5) Die Ankunft der Flüchtlinge auf Samos steht also außer Zweifel. Dass sie von den Behörden geleugnet wird, lässt nur einen Schluss zu: Die Flüchtlinge wurden von der griechischen Küstenwache an die türkische Küste zurück verfrachtet. Eine zweite mögliche Erklärung, dass man die Ankömmlinge in ein Quarantäne-Quartier verbracht hat, ist nicht plausibel, denn warum hätten die Behörden dies verheimlichen sollen?
Kein Aprilscherz
Der Verdacht einer Pushback-Aktion wird durch einen Vorfall bestärkt, der sich vier Wochen zuvor am anderen Ende von Samos zugetragen hatte. Auch über diesen Fall hat Yiannis Negris über Samos 2000 FM und auf seiner Website aegaio.blogspot.com berichtet.(6) Am 1. April machte ein griechisches Ehepaar an der Ostküste von Samos einen Abendspaziergang am Strand von Mourtia. An dieser Stelle der Meerenge von Mykali ist Samos von der türkischen Gegenküste nur knapp zwei Kilometer entfernt. An diesem Abend stießen die beiden Spaziergänger auf eine Polizeipatrouille, die sie aufforderte, sich zu entfernen. Begründung: Hier werde eine “Übung” der Polizei und der Küstenwache abgehalten. Tatsächlich war auf dem Meer eine Patrouillenboot der Küstenwache zu sehen, das eine Art schwimmendes Campingzelt im Schlepptau hatte. Es handelte sich um ein sogenanntes liferaft, also eine “Rettungsinsel”, die modernere Passagierschiffe anstelle von Rettungsbooten mitführen. Nur dass in diesem Fall die Rettungsinsel mit einem Zeltdach ausgestattet war.
Als Negris von dieser Beobachtung erfuhr, ging ihm ein Licht auf. Am Morgen des 1. April war am Strand von Mourtia eine Gruppe von etwa 25 Flüchtlingen angekommen. Darüber war der Journalist von Augenzeugen informiert worden. Die hatten beobachtet, wie die Flüchtlinge ihr Boot versenkten und sich gegenseitig fotografierten, um ihre glückliche Ankunft in Griechenland zu dokumentieren. Polizei oder Küstenwache waren nirgends zu sehen. Die Augenzeugen schickten die Fotos von dieser Szene auch an Negris. der telefonisch die Küstenwache informierte. Dort bekam er die Auskunft, man wisse bereits Bescheid und habe ein Boot losgeschickt, um die Flüchtlinge abzuholen.
“Aber dann begannen die Merkwürdigkeiten” erzählte Negris der EfSyn. Denn plötzlich waren diese Flüchtlinge verschwunden – wie die Flüchtlinge von Drakei einen Monat später. Um zwölf Uhr rief ein Polizeibeamter den Journalisten an, um eine merkwürdige Botschaft loszuwerden: “Wir haben erfahren, dass Migranten aufgefunden wurden, das hat uns die UNHCR mitgeteilt, aber wir können sie nicht finden. Vielleicht ist das nur ein Aprilscherz.” Negris antwortete, es sei bestimmt kein Aprilscherz und legte auf. Zwei Stunden später erfuhr er, dass man die Flüchtling mit einem großen Schlauchboot abgeholt hatte, das mit unbekanntem Ziel davonfuhr. Daraufhin rief er das Krankenhaus an, dessen Leiter ihm bestätigte, dass er über die Ankunft der Flüchtlinge informiert sei. Ganz anders reagierte die Küstenwache: Ein solcher Vorfall sei bei ihnen nicht registriert - diese Migranten würden schlicht nicht existieren.
Eine nachweisliche Lüge der griechischen Küstenwache
Dass diese Behauptung eine bewusste Lüge war, kann Negris inzwischen mit Bildmaterial belegen. Er hat Fotos ausgewertet, die am 2. April von türkischer Seite veröffentlicht wurden. Sie zeigen, wie die türkische Küstenwache nachts eine Gruppe von Flüchtlingen aufbringt, die auf einem liferaft treiben. An dem Zeltüberbau ist erkennbar, dass es sich um dasselbe “schwimmende Zelt” handelt, das die griechische Küstenwache am Abend davor im Schlepptau hatte. Ein weiteres Foto zeigt, wie diese Flüchtlinge bei Tageslicht - also am nächsten Morgen - auf einem Boot der türkischen Küstenwache abtransportiert werden. Auf diesem Foto vom 2. April sind eindeutig Personen zu identifizieren, die auch auf dem Foto zu erkennen sind, das der griechische Augenzeuge am Morgen des 1. April am Strand von Mourtia gemacht hatte. Auf beiden Bildern tragen die Flüchtlinge dieselbe Kleidung und dieselben Gepäckstücke.(7)
In der Summe lassen diese Dokumente nur eine Schlussfolgerung zu: Wenn die griechischen Stellen und insbesondere die Küstenwache Flüchtlinge auf griechischem Territorium entdecken, kommen die “schwimmenden Zelte” zum Einsatz. Die Küstenwache schleppt die lifecrafts im Schutz der Nacht in türkische Gewässer, damit sie, wie es die EfSyn formuliert, “von den Wellen nach Osten getragen werden, bis sie von der türkischen Küstenwache entdeckt werden”. Dabei ist der Hinweis wichtig, dass ein solches lifecraft weder Motor noch Steuerruder hat; also wird es von dem in Samos vorherrschenden Westwind automatisch auf die türkische Küste zugetrieben.
Was von Yiannis Negris recherchiert und beschrieben wurde, ist eine klassische klandestine Pushback-Operation. Die EfSyn geht noch einen Schritt weiter. Sie sieht in der Operation von Samos, die kein Aprilscherz war, nicht etwa nur eine lokale Aktion oder "die Initiative irgendeines subalternen Offiziers, der zufällige günstige Umstände ausnutzen wollte”. Die Zeitung beruft sich dabei auf einen Bericht der NGO Aegean Boat Report vom 6. April, in dem neun weitere Vorfälle dokumentiert werden, die das Operationsmuster von Samos erkennen lassen.(8)
Samos war kein Einzelfall
Die NGO stützt sich ebenfalls auf Dokumente der türkischen Küstenwache. Die neun Vorfälle ereigneten sich zwischen dem 23. März und dem 4. April entlang der türkischen Ägäisküste von Ayvalik (gegenüber Lesbos) bis zur Datca-Halbinsel (nördlich von Symi). Dabei wurden insgesamt 169 Flüchtlinge von lifecrafts geborgen, die auf die türkische Küste zutrieben (in diese Zahl sind die 26 Flüchtlinge von Samos eingerechnet). Nur zwei weitere Gruppen hatten offenbar – wie die Flüchtlinge von Samos – festes Inselterritorium erreicht, und zwar beide in Chios (am 23. bzw. am 25. März). In beiden Fällen wurden sie einen Tag später auf lifecrafts von der türkischen Küstenwache vor der Hafenstadt Cesme (direkt gegenüber von Chios) aufgegriffen. Und in beiden Fällen stellte die Polizei von Chios eine absurde Behauptungen auf: Die Gestrandeten seien in Wirklichkeit “einheimische” Migranten, die schon lange im Lager von Chios lebten und ihre Ankunft übers Meer nur vorgetäuscht hätten, um als “neue Flüchtlinge” aufs griechische Festland transportiert zu werden. Das anschließende “Verschwinden” dieser angeblichen fake-boat people konnten die griechischen Behörden allerdings nicht erklären.
In allen zehn dokumentierten Fällen sagten die Geretteten aus, sie seien von der griechischen Küstenwache – zumeist auf hoher See - gestoppt und auf die “schwimmenden Zelte” verfrachtet worden. Das kann nur innerhalb der griechischen Hoheitsgewässer geschehen sein, denn die HCG vermeidet es tunlichst, in die türkische Hoheitszone zu geraten. Dass die lifecrafts griechischen Ursprungs sind, steht schon deshalb außer Zweifel, weil ein Gefährt ohne Motor und Steuerruder für eine Überfahrt in die Gegenrichtung völlig ungeeignet ist.
Wie hoch die Dunkelziffer bei diesen pushback-Praktiken der griechischen Küstenwache ist, lässt sich objektiv nicht ermitteln. Man kann aber davon ausgehen, dass die Zahl der Aktionen auf hoher See noch viel höher liegt. Die türkische Küstenwache (Sahil Güvenlik Komutanligi) registriert auf ihrer Website für den Monat April (einschließlich des Chios-Falls vom 1. Mai) 81 pushback-Aktionen der griechischen Küstenwache, bei denen angeblich insgesamt 2505 Flüchtlinge in die türkischen Gewässer zurückgedrängt wurden (siehe: https://en.sg.gov.tr/news). Ob in allen diesen Fällen die griechische Seite aktiv wurde, lässt sich nicht ermitteln.
Der neuste Fall vom 30. April: Pushback in Chios
Die jüngste Pushback-Aktion der griechischen Küstenwache hat ebenfalls in Chios stattgefunden. Auch dieser Fall wurde von einer lokalen Website (astraparis.gr) aufgedeckt und von zwei Athener Zeitungen aufgegriffen: von der EfSyn in Berichten vom 4. und 6. Mai, und von der Syriza-Parteizeitung Avgi vom 4. Mai. Auch die norwegische NGO Aegean Boat Report (ABR) hat diesen neuesten Fall auf ihrer Website mit Datum vom 5. Mai 2020 dokumentiert.
Am Morgen des 30. April beobachteten zahlreiche griechische Augenzeugen, wie sich acht Kilometer südlich der Hauptstadt Chora am Strand Monolia (der Gemeinde Kallimasia) ein Boot mit Flüchtlingen näherte. Mindestens vier Augenzeugen sahen die 14 Bootsinsassen, darunter Frauen und Kinder, an Land gelangen. Ein Beobachter machte ein Foto der Szene, das auf einer privaten Website veröffentlicht, aber nach kurzer Zeit wieder gelöscht wurde. Ein anderer Augenzeuge (den die EfSyn zitiert) hat sich mit zwei der Flüchtlinge, einem Mann und einer jungen Frau, die ein kleines Baby trug, am Strand unterhalten. Dieser Zeuge rief daraufhin Freunde an, die sich in lokalen NGOs für die Flüchtlingshilfe engagieren. Die antworteten ihm jedoch, dass „sie nicht mehr arbeiten und dass ich die Behörden informieren müsse, die für die Flüchtlinge zuständig sind.“
Nach einem Anruf beim Hafenamt traf ein Patrouillenboot der Küstenwache (mit Kennungszeichen NG518) ein. Ein Mitglied der HCG-Besatzung fuhr mit dem Beiboot der NG518 zum Strand und schleppte das Boot der Flüchtlinge ab. Die Flüchtlinge selbst wurden unter Bewachung gestellt und gegen Mittag abtransportiert. Augenzeugen konnten vom Ufer aus sowohl die Flüchtlinge an Bord des Patrouillenboots erkennen, als auch deren Schlauchboot, das die Küstenwache in Schlepptau genommen hatte.
Gestrandet auf einer unbewohnten Insel
Am nächsten Morgen fand die türkische Küstenwache von Cesme 14 Menschen auf der unbewohnten Insel Bogaz Adasi, die acht Kilometer östlich des Strands von Ayia Fotini und zwei Kilometer vor der türkischen Küste liegt. Nach türkischen Angaben berichteten die geretteten Flüchtlinge (sechs Männer, fünf Frauen und drei Kinder), dass sie in der Nacht von der griechische Küstenwache auf Schlauchbooten, die keinen Motor hatten, im offenen Meer ausgesetzt worden waren. Auch in diesem Fall wurden die Flüchtlinge vom Westwind in Richtung Türkei getrieben.
Die Bergung der boat people von der Insel Bogaz wurde vom lokalen türkischen Sender SZG TV in einem Video (der türkischen Küstenwache) dokumentiert. Diese Aufnahme hat die EfSyn dem Augenzeugen übermittelt, der mit den Flüchtlingen am Strand von Chios gesprochen hatte. Der erkannte auf dem Rettungsvideo „ohne jeden Zweifel“ die Frau mit dem Baby wieder.(9)
Mehrere griechische Augenzeugen haben ihre Eindrücke über die sozialen Medien weitergegeben. Einige beobachteten das HCG-Boot NG 518 mit zwei kleinen Gummibooten im Schlepptau auf Kurs in Richtung Osten. Mehrere dieser Zeugen wurden von der lokalen Küstenwache angerufen und aufgefordert, ihren Eintrag samt Fotos zu löschen, heißt es in dem Bericht von Aegean Boat Report: „Einige wurden höflich gebeten, andere, die die Aufforderung nicht befolgen wollten, wurden bedroht und haben daraufhin ebenfalls ihre Informationen gelöscht.“
Die zuständigen Behörden wissen von nichts
Die Hafenpolizei von Chios beantwortete mehrere Anfragen nach dem Verbleib der 14 Flüchtlinge, mit der uniformen Auskunft: „Es hat keine neuen Ankömmlinge auf der Insel gegeben.“ Einige Anrufer, die sich mit dieser offensichtlichen Lüge nicht abspeisen lassen wollten, wurden von der Hafenpolizei aufgefordert, ihren Mund zu halten und sich um ihre eigenen Dinge zu kümmern. Gegenüber der lokalen Webzeitung astraparis.gr verstieg sich das Hafenamt von Chios zu einer besonders dreisten Lüge: Das Schlauchboot sei leer am Strand von Monolia angespült worden und die Küstenwache sei nur gekommen, um eine Gruppe von „Plünderern“ daran zu hindern, das Boot auszuschlachten. Man habe diese Leute - 13 Ausländer und 2 Griechen – aber wieder laufen lassen, weil man ihnen kein Vergehen nachweisen konnte. Das geplünderte Boot sei inzwischen „zerstört“ worden.
Im einzelnen lauteten die Antworten, die astropars.gr von den Behörden erhielt (dokumentiert in Avgi vom 4. Mai):
Pressestelle der Küstenwache (ECG): Es hat in den letzten Tagen keine Flüchtlinge gegeben; für weitere Auskünfte sei das Hafenamt zuständig.
Hafenamt von Chios: Es hat keine Ankunft von Flüchtlingen gegeben; für den Einsatz der Küstenwache wurde die oben zitierte absurde Erklärung gegeben.
Polizeidirektion Chios: Die Polizei hat in den letzten Tagen weder von neu angekommenen Flüchtlingen erfahren, noch wurde sie von Bürgern von einem solchen Vorfall informiert.
Frontex-Büro: Auf die Frage, ob die Frontex an dem geschilderten Vorfall irgendwie beteiligt war, erfolgte kein Antwort.
KYT Vial (das Flüchtlingslager von Chios): In den letzten fünf Tagen hat es keine neue Einlieferung gegeben, weder von der Küstenwache noch von der Polizei.
UNHCR: Auf der Basis der Informationen seitens der Küstenwache Chios war in Chios nach dem 15. März keine neue Ankunft zu verzeichnen.
Verschweigen als patriotische Tat?
Die Frage ist, wie lange sich die griechische Obrigkeit der Verantwortung entziehen kann, indem sie sich dumm stellt. Nach dem letzten Fall in Chios hat der Syriza-Abgeordnete Andreas Michailidis, der die Insel im Athener Parlament vertritt, die Regierung Mitsotakis und den zuständigen Minister zur sofortigen Aufklärung über das Schicksal der 14 Flüchtlinge aufgefordert und erklärt: „Sollte sich der Bericht in atraparis.gr als richtig erweisen, ist die griechische Regierung ernsthaft bloßgestellt und für die Folgen ihrer Praktiken verantwortlich zu machen.“ (zitiert nach Avgi vom 4. Mai).
Die Regierung hat bislang geschwiegen. Und die lokalen Behörden lassen sich durch solche Forderungen nicht beeindrucken. Der Bürgermeister von Chios, Stamatis Karmantzis, hat auf die Kritik des Syriza-Abgeordneten mit einer öffentlichen Danksagung an die Küstenwache reagiert: „Angesichts der andauernden verstärkten Provokationen jeglicher Art seitens unseres Nachbarn im Osten, schulden wir den Männern und Frauen der Küstenwachstation von Chios ein öffentliches Dankeschön für ihren täglichen Kampf zur Verteidigung der Hoheitsrechte unseres Landes und die Bewachung seiner Grenzen.“ Diese Frauen und Männer kämpfen nach Ansicht des Bürgermeisters „seit Ende Februar entschlossen gegen die methodische Instrumentalisierung der Migrantenfrage“ durch die Türkei und „stärken damit die Moral, aber auch das Sicherheitsgefühl der Einwohner unserer Inseln“. Dieses Bemühen müsse die Bürgerschaft kollektiv - und jeder Bürger einzeln - „mit allen Mitteln und auf jegliche Weise anerkennen und unterstützen“. (zitiert nach Avgi vom 8. Mai 2020).
Die unausgesprochene Botschaft ist klar: Wer die Küstenwache denunziert, untergräbt deren patriotischen Auftrag und die Sicherheit der Inseln und der Nation. Diese Haltung wird auch von der griechischen mainstream-Presse unterstützt, die fast alle hier geschilderten Fälle verschweigt oder auf die Dementis der staatlichen Stellen verweist. Repräsentativ für diese patriotische Feigheit ist, dass in der Kathimerini das unbestreitbare pushback von Samos überhaupt nicht, und das vom 30. April in Chios bislang nur mit einem einzigen Satz erwähnt wurde. Und der lautete: „Die Veröffentlichungen auf der Website astraparis.gr, die wohlgemerkt von Vertretern der Küstenwache dementiert wird, unterstellen, dass illegale Migranten, die in Chios gelandet waren, auf eine türkische Felseninsel zurückgebracht wurden.“ (Kathimerini vom 6. Mai 2020)
Erneut stellt sich allerdings auch die Frage, warum die EU-Partner und die Kommission in Brüssel, die noch die griechische Verletzung das Asylrecht im Fall der März-Flüchtlinge gerügt hat, zu der noch krasseren Völkerrechtsverletzung durch die griechische Küstenwache schweigen. Im Aegean Boat Report vom 5. Mai heißt es am Schluss: „Die griechische Regierung zahlt darauf, dass jetzt alle Aufmerksamkeit dem Kampf gegen das Coronavirus git, und dass sie straflos tun kann, was immer sie will, weil Europa wegschaut.“ (zitiert nach: https://www.facebook.com/AegeanBoatReport/posts/826083517914754?__tn__=-R) Aber wahrscheinlich ist es mehr als Wegschauen. Und es gilt immer noch was die Präsidentin der EU-Kommission Anfang März ausgesprochen hat: dass Griechenland als „Schutzschild“ für Europa gesehen wird.
Anmerkungen
1) Siehe die Berichte in der EfSyn vom 7. und vom 8. April 2020.
2) Für den ganzen Monat April meldete das Ministerium für Migration und Asyl nur 39 angekommene Flüchtlinge (TornosNews.gr vom 8. Mai 2020). Der Bericht im Standard unter: https://www.derstandard.at/story/2000117226324/oesterreichische-container-fuer-fluechtlingscamps-in-griechenland. Der Plan ist nach der ersten Ärztin im alten Athen benannt, die im 3. Jahrhundert v. Chr. als Geburtshelferin praktiziert haben soll.
3) Siehe meinen Bericht “Der Virus und die Flüchtlinge” (Corona, Teil II) vom 21. April 2020 auf diesem Blog.
4) Die Küstenwache heißt im internationalen Sprachgebrauch Hellenic Coast Guard (HCG), ihr offizieller griechischer Name ist: Limeniko Soma – Elliniki Aktofylaki, also „Hafen-Corps – Hellenische Küstenwache“.zwischen dem 2. und dem 10. April 2020.
5) Das Video unter: https://www.facebook.com/AegeanBoatReport/posts/822384428284663
6) Auf diese Informationen bezieht sich auch die Berichterstattung der EfSyn vom 7., 10. und 30. April 2020.
7) Das Fotomaterial ist über die EfSyn vom 7. April zugänglich: https://www.efsyn.gr/ellada/koinonia/238226_epanaproothoyn-prosfyges-sta-nisia-me-eidikes-thalassies-skines
8) ABR-Report vom 5. Mai: https://www.facebook.com/AegeanBoatReport/posts/826083517914754
9) Das Video ist aufzurufen in dem EfSyn-Bericht vom 6. Mai 2020: https://www.efsyn.gr/ellada/dikaiomata/242069_pos-brethikan-oi-prosfyges-apo-ti-hio-xana-stin-toyrkia