Griechenland im Schatten des Ukrainekriegs
von Niels Kadritzke | 13. Juli 2022
In Griechenland wird der Ukrainekrieg, der mit dem russischen Angriff vom 24. Februar begann, anders als hierzulande nur bedingt als „Zeitenwende“ wahrgenommen. Doch auch in Griechenland sind die Auswirkungen des Krieges und der Sanktionen gegen Russland so gravierend, dass sie außen- wie innenpolitisch neue Fakten schaffen und alte Gewissheiten ins Wanken bringen.
7. April: Ukrainerinnen vor dem griechischen Parlament während der Rede von Präsident Selenski
© Robert Geiss/picture alliance
Mein dreiteiliger Bericht über Griechenland im Sommer 2022 beginnt deshalb mit einem Text, der die Reaktionen auf den Krieg in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft untersucht. Dabei kommt am Ende dieses Beitrags bereits ein Thema in den Blick, das im zweiten Teil genauer analysiert wird: die erneute Zuspitzung des alten griechisch-türkischen Konflikts, in dessen Zentrum wieder einmal die Ägäis steht.
In einem dritten Teil werden die aktuellen innenpolitischen Auseinandersetzungen Thema sein, die sich vor dem Hintergrund einer – im EU-Vergleich – überdurchschnittlichen Inflationsrate noch einmal verschärft haben. Wie die Regierung Mitsotakis in dieser Krise agiert, und wie die linke Opposition auf die wachsende Unzufriedenheit mit der neoliberalen Krisenpolitik der ND reagiert, wird für den Ausgang der nächsten Wahlen entscheidend sein. Wann diese stattfinden werden, steht zwar noch nicht fest, aber angesichts der sozialen Krise ist das Land ohnehin schon seit Monaten im Wahlkampfmodus.
Orthodoxe Sympathien mit Russland
Der russische Angriff auf die Ukraine hat das gesamte „westliche“ Lager weitgehend unvorbereitet getroffen. Das gilt auch für die politische Klasse Griechenlands, die von Putins Invasionsbefehl ebenso überrascht wurde wie die breitere Öffentlichkeit.
In Athen fiel die Reaktion auf Regierungsebene zunächst ähnlich aus wie in anderen Mitgliedsländer der EU und der Nato. Auch ein Großteil der Bevölkerung – nach ersten Umfragen etwa 70 Prozent – verurteilte den von Putin befohlenen Angriff auf die Ukraine. Doch sehr bald traten – bei aller spontan „gefühlten“ Solidarität mit den Angegriffenen – einige Besonderheiten zutage, in denen sich spezifische innenpolitische wie außenpolitische Problemlagen abbilden.
Die beiden Faktoren, die den griechischen Blick auf den russisch-ukrainischen Konflikt am deutlichsten beeinflussen, sind erstens die traditionell wohlwollende Wahrnehmung Russlands, zweitens das historisch belastete und aktuell sehr gespannte Verhältnis zur Türkei.
Das besondere Verhältnis zu Russland hat eine lange Vorgeschichte, die bis zur Entstehung des modernen griechischen Staats im Jahr 1832 zurückreicht. Das Zarenreich gehörte – mit Frankreich und dem britischen Empire – zu den drei „Geburtshelfern“ des Königreichs Griechenland. Denn ihr militärisches Eingreifen hatte den Erfolg des griechischen Aufstands gegen die osmanische Herrschaft erst gesichert. Unter den drei Paten des neugriechischen Staatswesens genoss das orthodoxe russische Imperium insbesondere das Vertrauen der konservativen Eliten, die ihre griechische Identität eher von Byzanz als von der „klassischen Antike“ ableiteten, in Russland also eine christliche Schutzmacht und in den Russen ein orthodoxes Brudervolk sahen. In diesen Kreisen, und speziell im orthodoxen Klerus, war eine mystische Version panorthodoxer Russophilie verbreitet, die sich vom Zarenreich sogar die „Befreiung“ Konstantinopels von der osmanischen Herrschaft erhoffte.
Die Zählebigkeit dieser Identifikation, die von der Illusion einer integralen „orthodoxen Welt“ zehrt, zeigte sich noch in den Jugoslawienkriegen der 1990er Jahre. Damals herrschte in Griechenland eine pro-serbische Stimmung, weil die Gegner der orthodoxen Glaubensbrüder und -schwestern katholische Kroaten und muslimische Bosniaken waren. Beim Ukrainekrieg findet sich das kirchentreue Fußvolk jedoch in einem Dilemma, denn auch die ukrainische Bevölkerung ist vorwiegend orthodoxen Glaubens. Hinzu kommt, dass die 2018 ausgerufene ukrainische Nationalkirche, die sich vom Moskauer Patriarchat losgesagt hat, Anfang 2019 von Patriarch Bartholomäus (dem „Papst“ der orthodoxen Weltgemeinschaft mit Sitz in Istanbul) offiziell als autokephale Nationalkirche anerkannt wurde. Diese Anerkennung hat im Oktober 2019 auch die griechische Nationalkirche nachvollzogen, wenn auch gegen die Opposition einer kleinen Gruppe ultra-orthodoxer Bischöfe, denen Bartholomäus wegen seines ökumenischen Engagements ohnehin als Totengräber ihres „rechtmäßigen Glaubens“ gilt.(1)
Russophile von links
Der pan-orthodoxe Gefühlskosmos des konservativen Griechenlands wurde hundert Jahre nach der Staatsgründung durch einen kräftigen russophilen Schub von links erweitert. In der Zwischenkriegszeit war unter den verelendeten Kleinasienflüchtlingen die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) aufgeblüht, die der Stalin‘schen Komintern von Anfang an treu ergeben war. Mit ihrer strikten Moskautreue war die KKE bis zum Ende des Kalten Krieges der Modellfall einer orthodoxen Partei Moskauer Prägung. Diese Affinität zu Russland hat bei Teilen der griechischen Linken das Ende der Sowjetunion seltsamerweise überdauert. Während Gorbatschow in den Augen der KKE das Übel schlechthin verkörperte, konnte Putin bei vielen alten Genossen einen sentimentalen Rabatt erwerben. Die altkommunistischen Loyalitäten hinterließen eine Art Phantomschmerz über den Untergang der Sowjetunion, der in manchen Gemütern eine unkritische Sympathie für den neuen Kreml-Herrscher erzeugte.
Nikolas Voulelis, der Chefredakteur der linken unabhängigen Tageszeitung Efimerida ton Syntakton, hat diese „Pathogenie“ der griechischen Linken schonungslos seziert. Er beobachtet in der Ukraine-Debatte jene „bedingten Reflexe“, die einer überholten „Lagerlogik“ entspringen. Diese Logik gestatte es, stets die "richtigen Schuldigen“ zu benennen und zu wissen, „auf welcher Seite man zu stehen hat – unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen“. Da innerhalb der Linken – trotz radikal veränderter Verhältnisse – noch immer die alte Dichotomie kapitalistischer Westen vs. „sozialistischer“ Osten herumgeistert, können viele Genossinnen und Genossen reinen Gewissens „Putins eindeutig imperialistischen Krieg“ unterstützen, sprich: „das nackte Recht des Stärkeren, beansprucht von einem Regime, das sich ideologisch und politisch in keiner Weise von anderen autokratischen Regimen unterscheidet“. (EfSyn vom 18./19. Juni 2022)
Putin hat verspielt
Allerdings hat Putin mit seinem Krieg dieses zählebige Lagerdenken auch in Griechenland unterminiert, wie ein Blick auf die einschlägigen Umfragen zeigt. Noch im September 2017, dreieinhalb Jahre nach der russischen Annexion der Krim, hatte ein Soziologen-Team der Mazedonischen Universität Thessaloniki ermittelt, dass 57 Prozent der griechischen Bevölkerung ein positives Bild von Russland hatten; und sogar 67 Prozent ein positives Bild von Putin. Auch bei der Frage: „Welchem ausländischen Politiker kann Griechenland am meisten vertrauen?“ belegte der russische Präsident mit 40,5 Prozent den Spitzenplatz.(2)
Der 24. Februar 2022 markiert das Verfallsdatum für Putins frühere Sympathie-Werte. Noch Ende 2019 hatte der russische Staatschef bei 41 Prozent der Bevölkerung ein positives Image; nach der russischen Invasion der Ukraine stürzte dieser Wert auf 19 Prozent ab und die positive Wahrnehmung Russlands ging von 49 auf 34 Prozent zurück. Auch der Anteil derer, die in Putins Reich den wichtigsten Verbündeten Griechenlands sahen, halbierte sich von 15 auf 7,4 Prozent.(3)
Unterstützung für die Ukraine – aber keine Waffen
Der Hauptgrund für diesen Imageverlust trat bereits in den ersten Umfragen nach dem 24. Februar zutage, in denen 70 bis 75 Prozent der Bevölkerung im wahlfähigen Alter den russischen Angriffskrieg verurteilten. Unmittelbar nach Kriegsbeginn waren die Sympathien für die beiden feindlichen Lager entsprechend ungleich verteilt: nur 20 Prozent der Befragten fühlten sich Russland, 45 Prozent dagegen der Ukraine näher.(3) Auch die Eurobarometer-Umfrage von Mitte April verzeichnete in Griechenland ein ausgeprägtes Mitgefühl für die Angegriffenen: 83 Prozent der Befragten erklärten ihre Sympathie für die Ukraine, womit Griechenland zwar unter dem EU-Durchschnitt von 89 Prozent lag, aber deutlich über den Werten in Bulgarien, Ungarn und der Slowakei.
Allerdings zeigten sich in allen Umfragen von Anfang an große Vorbehalte, was die Mittel und die Reichweite der Unterstützung für die Ukraine betrifft. Zwar gab und gibt es in der griechischen Bevölkerung eine deutliche Mehrheit für Sanktionen gegen Russland(4) und eine 75-prozentige Mehrheit für die finanzielle Unterstützung der Ukraine. Dagegen werden Waffenlieferungen von zwei Dritteln der Befragten abgelehnt.(5)
Unentschieden in der Schuldfrage
Diese Vorbehalte entspringen einer historisch begründeten Skepsis gegenüber „dem Westen“, die eine distanzierte bis neutrale Position nahelegt: Gleich nach dem Beginn des mehrheitlich verurteilten Angriffskriegs sprachen sich nur 47 Prozent der Befragten für die Einbindung Griechenlands in die Strategie und die Entscheidungen auf EU- und Nato-Ebene aus, während 42 Prozent eine „absolute Neutralität“ ihres Landes befürworteten.
Mit dieser Haltung korrespondiert eine weitere Besonderheit der griechischen öffentlichen Meinung: Nach der allerersten Umfrage vom 26. Februar lauteten die Antworten auf die Frage, wo die größere Verantwortung für die „Ukraine-Krise“ liege, für 32 Prozent bei Russland; für 28 Prozent „beim Westen“; für 35 Prozent „bei beiden gleichermaßen“. Auch zwei Monate nach Kriegsbeginn unterschied sich die griechische Antwort auf die „Schuldfrage“ noch sehr deutlich vom EU-Durchschnitt: Der These, dass Russland „in erster Linie“ für den Krieg verantwortlich sei, stimmten 51 Prozent der Befragten zu, 44 Prozent verneinten sie. Im EU-Durchschnitt sahen 78 Prozent Russland als Hauptschuldigen.(6)
Vor diesem Hintergrund befand sich die Regierung Mitsotakis von Anfang an in einer verzwickten Situation. Der konservative „Atlantiker“ Mitsotakis betont unablässig, dass Griechenland seine unerschütterliche Zugehörigkeit zum „Westen“ demonstrieren müsse. „Wenn wir keine Waffen an die Ukraine liefern, wären wir das einzige Land der EU und der Nato, das nicht geholfen hätte“, erklärte Mitsotakis am 6. Juli vor dem Athener Parlament. Eine unsägliche Vorstellung für einen Politiker, der Griechenland als „äußersten Vorposten“ der freiheitlichen und liberalen Welt sieht, und zugleich als engsten europäischen Verbündeten der USA.
Eine derart vorbehaltlose Westbindung lehnt eine klare Mehrheit der griechischen Bevölkerung selbst im Fall Ukraine ab. Nach dem Euro-Barometer vom April, das die politische Wetterlage in den EU-Ländern misst und vergleicht, waren EU-weit 54 Prozent der Befragten mit ihrer Regierung zufrieden und 39 Prozent unzufrieden. In Griechenland waren dagegen nur 31 Prozent zufrieden, 66 Prozent aber unzufrieden. Ein ähnliches Bild ergab sich bei der Frage nach der Politik der EU insgesamt. Noch deutlicher zeigte sich die griechische Besonderheit bei der Frage der Nato: Mit deren Politik zeigten sich EU-weit 49 Prozent zufrieden und 41 Prozent unzufrieden; in Griechenland dagegen überwog die Unzufriedenheit mit 74 zu 24 Prozent.(7)
Die Bevölkerung hat Ängste
In solchen Zahlen spiegeln sich nicht nur historisch geprägte Weltbilder wider, sondern auch die Ängste, die Griechinnen und Griechen mit dem Ukrainekrieg verbinden. Nach der Kapa-Umfrage vom 26. Februar befürchtete die Bevölkerung vor allem „steigende Preise“ (95 Prozent der Befragten) und eine Weltwirtschaftskrise (87 Prozent). Dabei ist die Inflationsangst sehr berechtigt. Während die griechische Teuerungsrate noch im Februar 2022 mit 6,3 Prozent etwa dem Durchschnitt für den gesamten Euroraum (6,1 Prozent) entsprach, lag sie im Juni um 3,4 Prozentpunkte höher bei 12,1 Prozent (dem höchsten Wert aller Länder der Eurozone abgesehen von den baltischen Staaten).
Der wichtigste preistreibende Faktor ist eine unmittelbare Folge des Ukrainekriegs: Griechenland hat mit 60,6 Prozent die zweithöchste Energie-Teuerungsrate der Eurozone (nach Belgien). Das liegt an der starken Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die fast vollständig importiert werden, und speziell von russischem Erdgas, das 39 Prozent des griechischen Gasbedarfs deckt. Der Erdgaspreis hat sich seit Jahresbeginn um 118 Prozent und der Strompreis um 70 Prozent erhöht. Überdurchschnittlich verteuert haben sich infolgedessen auch die Transportkosten und selbst die Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot (16 Prozent) und Olivenöl (25 Prozent). Deshalb liegt die Teuerungsrate für den Warenkorb der einkommensschwachen Haushalte mit 18 Prozent noch um 50 Prozent höher als die allgemeine Inflationsrate, wie das Forschungsinstitut der griechischen Gewerkschaften INE/GSEE ermittelt hat (EfSyn vom 3. Juli 2022).
Mitsotakis hat Visionen
Die rapide steigenden Lebenshaltungskosten, die großenteils auf die Sanktionen gegen Russland bzw. die reduzierten russischen Gaslieferungen zurückgehen, kann die Regierung Mitsotakis nicht herunterspielen. Zum Trost verweist sie auf die tollen Chancen, die das Chaos auf dem internationalen Energiemarkt für Griechenland eröffne: Das Land werde sich zum regionalen „Energie-Knotenpunkt“ entwickeln, weil es rechtzeitig Kapazitäten für die Verarbeitung und den Weitertransport von Flüssiggas (LNG) aufgebaut habe. Im Juni wurde die LNG-Anlage von Revithoussa (bei Athen) erweitert, in der Flüssiggas aus den USA, Algerien und Katar regasifiziert wird. Von hier aus wird auch Bulgarien versorgt, dem Russland Ende April das Gas abdrehte, von dem das Land zu 90 Prozent abhängig war. Bulgarien ist auch zu 20 Prozent an einem Projekt beteiligt, dem die Athener Regierung „strategische Bedeutung“ zuschreibt. In der Nordägäis entsteht in der Nähe von Alexandroupolis eine Floating Storage Regasification Unit (FSGU), also eine schwimmende LNG-Anlage, die Anfang 2024 operationsfähig sein soll. Auf mittlere Sicht sollen in Griechenland vier weitere FSGU-Anlagen entstehen (Navtemporiki vom 11. Mai 2022). Und schon im Oktober 2022 soll die bulgarisch-griechische Pipeline (IGB) in Betrieb gehen, die Bulgarien mit Gas aus Aserbaidschan versorgen kann, das durch die Transadriatische Pipeline (TAP) über die Türkei nach Griechenland gelangt.
8. Juli: Zusammen mit seinem bulgarischen Amtskollegen Kiril Petkow eröffnet Mitsotakis symbolisch den Gas Interconnector Greece–Bulgaria (IGB)
© Dimtiris Papamitsos/picture alliance/AP
Dank dieser Projekte will Griechenland „in absehbarer Zukunft von einem Energieimporteur zu einem Energieexporteur werden“ – allerdings nur als Zwischenhändler für Lieferungen aus anderen Regionen. Deshalb muss Mitsotakis sich als LNG-Einkäufer betätigen. In den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) präsentierte er Griechenland vor zwei Monaten bereits als künftigen „zentralen Eingangspunkt der Europäischen Union für Erdgas aus dem Nahen Osten“. (zitiert nach Kathimerini vom 7. Mai und vom 10. Mai 2022).
Die Reeder haben Glück
Solche kühnen Zukunftsphantasien helfen den griechischen Bürgerinnen und Bürgern nicht, ihre Stromrechnungen von heute zu bezahlen. Es gibt jedoch eine auserwählte Schar „glücklicher Griechen“, die bereits in der Gegenwart vom Ukrainekrieg profitieren – und sich dabei auf die politischen Dienste der Regierung Mitsotakis verlassen können. Die Kaste der griechischen Reeder profitiert unmittelbar vom globalen LNG-Boom, der die Frachtraten explodieren ließ. Sie hat in den letzten Jahren gezielt in Flüssiggas-Tanker investiert und verfügte heute über 135 der weltweit 640 Schiffe, mit 22,35 Prozent der globalen LNG-Tonnage. Die größte Zahl von LNG-Tankern, nämlich 35 Schiffe, besitzt das Unternehmen GasLog des Reeders Peter Livanos, das auch zu 20 Prozent an der schwimmenden FSGU von Alexandroupolis beteiligt ist (Offshore Energy vom 5. Mai 2022; Kathimerini vom 18. April und 16. Mai 2022).
Das Ausnutzen globaler Marktchancen ist in der herrschenden Weltwirtschaftsordnung keine strafbare Handlung. Die griechischen Reeder verletzen auch nicht die Embargo-Beschlüsse der westlichen Anti-Putin-Front, allerdings gibt es eine ethische Grauzone, in der die griechischen Reeder zu Gewinnlern des Ukrainekriegs werden. Als Antwort auf den Ölboykott des Westens ist Russland bemüht, sein Öl an den Rest der Welt zu verkaufen. Dabei konnte es dank der boomenden Exporte nach China und Indien seine Öleinnahmen – bei steigenden Weltmarktpreisen – um rund 45 Prozent (gegenüber 2021) erhöhen. Das ging nur mit entsprechenden Tanker-Kapazitäten. Diese Chance nutzten die griechischen Reeder, die in den letzten Monaten 51 Prozent des russischen Öls in Drittländer transportierten. Allein die Reederei TMS Tankers des Milliardärs George Economou hatte im Mai und Juni 25 Schiffe im Einsatz.
Auf der Seite des Profits
Dass diese und andere griechische Unternehmen sich im Handel mit russischem Rohöl eine goldene Nase verdienen, verdanken sie der Regierung Mitsotakis. Die hatte bei den Beratungen in Brüssel über das Ölembargo gegen Russland mit ihrem Veto verhindert, dass die EU ihren Mitgliedsstaaten auch den Transport von russischem Öl in Drittländer verbietet. Dank dieses Vetos, dem sich auch Zypern und Malta anschlossen, können die griechischen Reeder den Ausfall ihrer Tankerrouten zwischen Russland und den EU-Häfen mehr als kompensieren.(8) Ein Problem müssen sie allerdings noch lösen, denn die EU hat ersatzweise beschlossen, dass europäische Versicherungsunternehmen Transporte russischen Öls auch im Verkehr mit Drittländern nicht gegen Risiken (wie oil spills) versichern dürfen. Ob die griechischen Reeder sich auf die erwarteten russischen Staatsgarantien einlassen, bleibt abzuwarten.
„Greek Shipowners Kill EU’s Russian Oil Tanker Ban“ lautete der Titel eines Berichts über den erfolgreichen griechischen Lobbyismus in Brüssel, den der Wirtschaftsnachrichtendienst Bloomberg am 9. Mai 2022 veröffentlichte. Im Grunde müsste es jedoch heißen: Mitsotakis rettet das Geschäft für griechische Öltanker. Der griechische Regierungschef, der stets „auf der richtigen Seite der Geschichte“ stehen will (so deklamierte er am 1. März vor dem griechischen Parlament), hat sich mit seinem Einspruch auf die Seite des Profits geschlagen. Die Freiheit, für die er am leidenschaftlichsten kämpft, ist die Freiheit der mächtigsten Unternehmerkohorte, die laut griechischer Verfassung von jeder steuerlichen Belastung befreit ist – während die meisten ihrer Schiffe unter Billigflagge fahren.
Klare Mehrheit gegen Waffenlieferungen
Während sich die Reeder in ihrem Kampf gegen profitfeindliche EU-Sanktionen auf Mitsotakis verlassen können, müssen die weniger privilegierten Klassen für das Privileg, auf der richtigen Seite zu stehen, größere Opfer bringen. Angesichts dieser ungleichen Lastenverteilung ist es erstaunlich, dass es in der griechischen Gesellschaft (noch) eine Mehrheit für die Sanktionen gegen Russland gibt.
Das gilt jedoch nicht für Waffenlieferungen an die Ukraine, die von einem Großteil der Bevölkerung von Anfang an abgelehnt wurde. Dennoch hat Griechenland als einer der allerersten Nato-Staaten militärische Ausrüstung an die Ukraine geliefert. Die schon am 27. Februar beschlossenen Lieferungen umfassten zwei Flugzeug-Ladungen mit Kalaschnikows, Munition sowie Panzer- und Flugabwehrraketen. Die Entscheidung wurde von Mitsotakis nicht nur ohne Konsultation mit den Oppositionspartien getroffen, sondern auch ohne vorherige Beratung mit dem Generalstab, was in der militärischen Führung Unmut ausgelöst haben soll. Die Website armyvoice.gr berichtete von „Polarkälte“, die zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Generalstabschef Konstantinos Floros herrsche.(9) Verteidigungsminister Panayotopoulos musste klarstellen, dass die Waffen aus eingelagerten Beständen stammten, daher werde die Verteidigungsfähigkeit des Landes auf keinen Fall geschwächt. Mitte März ließ die Militärführung an die Presse durchsickern, man habe eine „informelle Forderung“ aus Kiew abgelehnt, Raketensysteme russischer Provenienz an die Ukraine zu liefern.(10) Und am 13. April beschwichtigte Panayotopoulos die öffentlichen Meinung mit der wahrheitswidrigen Versicherung, dass keine weiteren Lieferungen geplant seien. Er begründete dies explizit damit, dass die Verteidigung des eigenen Territoriums – und insbesondere der Inseln der Ostägäis – absoluten Vorrang habe (Euractiv vom 14. April 2022).
Der Mariupol-Faktor
Sowohl die frühe erste Militärhilfe als auch die Ankündigung, dass auf die beiden ersten Waffenlieferungen keine weiteren folgen würden, wurden von einem Faktor bestimmt, der im Verhältnis zwischen Griechenland und der Ukraine eine besondere Rolle spielt. Man könnte ihn den Mariupol-Faktor nennen.
Am 26. Februar, dem dritten Tag der Invasion, alarmierte die Regierung die griechische Öffentlichkeit mit der Meldung, dass russische Waffen bereits zehn Mitglieder der griechischen Gemeinde von Mariupol getötet hätten. Der Sprecher des Außenministeriums verstieg sich dabei zu der Formulierung: „Orthodoxe Bomben haben orthodoxe Landsleute getötet“ (EfSyn vom 27. Februar 2022). Auf Anordnung von Außenminister Dendias wurde der russische Botschafter einbestellt und daran erinnert, dass Dendias kurz zuvor den russischen Außenminister Lawrow persönlich um speziellen Schutz für die griechischstämmigen Ukrainer gebeten hatte (Greek Reporter vom 28. Februar 2022). Als Mariupol im Lauf des Krieges zum Symbol für die Leiden der ukrainischen Zivilbevölkerung wurde, forderte der griechische Außenminister sogar, Griechenland müsse wegen seines „besonderen Interesses an Mariupol“ an einem künftigen Prozess über die russischen Kriegsverbrechen beteiligt werden.
Dass sich die Athener Regierung als Schutzmacht der „griechischen Gemeinschaft“ in Mariupol und Umgebung inszeniert, hat mit der sentimentalen Beziehung der Griechinnen und Griechen zu ihrer Diaspora zu tun. Wobei in diesem Fall die Wahrnehmung als „Diaspora“ von einem fragwürdigen Identitätsgefühl herrührt. Die Athener Medien waren schon vor dem 24. Februar voll von Berichten über die angeblich 150.000 „Griechen“ von Mariupol. Allerdings ist bereits diese Zahl zweifelhaft: Der offizielle ukrainische Zensus von 2002 ermittelte für die Stadt nur knapp 22.000 „Griechen“, was 4,5 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht; nimmt man die umliegenden Bezirke hinzu, sind es – nach neutralen Quellen – maximal 80 000 Seelen.
Das „offizielle“ Griechenland hat sich auf die Schätzzahl von „gut 100.000“ Landsleuten festgelegt. Für diese Schutzbefohlenen gab es in Mariupol einen griechischen Konsul, dessen Schicksal in den ersten Kriegswochen das beherrschende Medienthema war. Die Odyssee des Manois Androulakis, der eine gute Woche brauchte, um es mit seiner Reisegruppe in die Republik Moldau zu schaffen, war in den Printmedien wie in den TV-Nachrichten die tägliche Topmeldung aus dem Ukrainekrieg.
Wolodimir Selenski präsentiert zwei russophone Griechen
Dieselben Medien haben ihr Publikum nie darüber unterrichtet, dass innerhalb der griechischstämmigen Community von Mariupol fast ausschließlich russisch gesprochen wird. Nur noch eine winzige Minderheit der „griechischen“ Ukrainer ist des Griechischen mächtig. Dieser Verlust der sprachlichen Identität wurde der griechischen Öffentlichkeit erst sechs Wochen nach Kriegsbeginn durch ein Ereignis bewusst, das eine deutliche Abkühlung der pro-ukrainischen Gefühle zur Folge hatte.
Wolodomir Selenski spricht zum griechischen Parlament
© Thanassis Stavrakis/picture alliance/AP
Am 7. April wandte sich Präsident Wolodimir Selenski mit einer Video-Ansprache an das Athener Parlament. Wie bei allen Auftritten vor den Volksvertretungen befreundeter oder umworbener Länder hatte Selenskis PR-Abteilung die Rede auf das nationale Sensorium des adressierten Publikums zugeschnitten. In den USA wurde der Überfall auf Pearl Harbor und natürlich 9/11 thematisiert, in Spanien die Zerstörung von Guernica, in Portugal die Nelken-Revolution und so weiter. In zwei Ländern griffen Selenkis PR-Berater allerdings daneben: in Israel mit der maßlosen „Endlösungs“-Parallele und in Griechenland.(11)
Seine Athener Rede begann der Präsident mit dem naheliegenden Verweis auf den heldenhaften Kampf der 300 Spartaner, die vor 2600 Jahren unter Leonidas den persischen Invasoren widerstanden. Wenig überraschend war auch der historische Bezug zum griechischen Freiheitskampf gegen die osmanische Herrschaft, dessen Keimzelle die „Filiki Etairia“ war. Dieser Geheimbund wurde, wie Selenski in Erinnerung rief, im heute ukrainischen Odessa gegründet. Die Parole des Aufstands von 1821 – „Freiheit oder Tod“ – sei auch das Motto für die heutige Ukraine.
All das war zu erwarten. Dann aber hatte man in Kiew einen speziellen PR-Coup vorbereitet. Selenski übergab das Wort an zwei „Griechen“ aus Mariupol, die er als Verteidiger der Stadt vorstellte. Bei der aufgezeichneten Video-Botschaft an das griechische Parlament trat der eine vermummt auf, der andere (namens „Michalis“ oder Mikhail) erklärte gleich zu Beginn – in russischer Sprache –, dass er Mitglied des Asow-Regiments sei und „gegen die russischen Nazis“ kämpfe.
Reizwort Asow – eine PR-Katastrophe
Die Wirkung des A-Wortes war katastrophal. Mehrere linke Abgeordnete verließen die Sitzung, der die KKE-Fraktion ohnehin ferngeblieben war. Oppositionsführer Tsipras blieb im Saal, erklärte aber später: „Die Rede eines Mitglieds des neonazistischen Asow-Regiments im griechischen Parlament ist eine Provokation.“ Mitsotakis habe einen „historischen Tag“ angekündigt, stattdessen habe man „eine historische Schande“ erlebt. Zwar stehe „die Solidarität mit dem ukrainischen Volk außer Zweifel, aber Nazis dürfen im Parlament nicht zu Wort kommen“ (zitiert nach der griechischen Nachrichtenagentur ANMA vom 7. April 2022). Auch unter den ND-Abgeordneten war die Unruhe so groß, dass Regierungssprecher Oikonomou nachträglich einräumte, der Video-Auftritt der Asow-Kämpfer sei „unglücklich und ein Fehler“ gewesen. Und Parlamentspräsident Tasoulas (ND) musste klarstellen, dass man über die Präsentation der beiden „Griechen“ informiert war, nicht aber über ihre Zugehörigkeit zum Asow-Regiment.(12)
Wie das Asow-Regiment politisch einzuordnen ist, soll hier nicht erörtert werden.(13) Entscheidend für die Wirkung der Rede war die in Griechenland herrschende Wahrnehmung, von der Selenskis PR-Berater offenbar keine Ahnung hatten. Die „Asowis“ waren schon vor der russischen Invasion zum Reizthema geworden. Am 14. Februar hatten die griechischen Medien gemeldet, dass in Mariupol zwei ethnische Griechen erschossen und zwei weitere verwundet worden waren – angeblich von Asow-Kämpfern, die ihnen verbieten wollten, russisch zu sprechen. Damals hatte Außenminister Dendias bei seinem ukrainischen Kollegen angerufen und einen besseren Schutz für „die griechische Gemeinschaft in der Ukraine“ gefordert.(14)
Worüber Selenski nicht sprach
Was man sich in Kiew vom Auftritt der beiden russophonen, aber russophoben „Griechen“ versprochen hat, mag ein Rätsel bleiben. Wahrscheinlich wollte man unbedingt zwei Griechen präsentieren, ohne die Wirkung ihrer Asow-Identität zu bedenken. Aber das war nicht die einzige PR-Fehlleistung der ukrainischen Seite. Noch katastrophaler war die Wirkung dessen, was Selenski in seiner Athener Rede nicht sagte. Die Mitsotakis-Regierung – und die allgemeine Öffentlichkeit – hatten erwartet, der ukrainische Präsident werde auf eine historische Parallele verweisen, die zeitlich näher liegt als die Schlacht bei den Thermopylen oder der griechische Aufstand gegen die Osmanen: auf die Invasion der Türkei in Zypern vom Juli 1974. Die endete bekanntlich mit der Eroberung von 37 Prozent eines unabhängigen Staates durch türkische Truppen, die bis heute im Norden der Insel stationiert sind.
Auf diesen Hinweis wartete man in Athen vergebens. Die Regierung Mitsotakis hatte wohl noch gehofft, dass sich Selenski diese Parallele für seine Ansprache an das Parlament der Republik Zypern aufheben würde, die nur wenige Stunden später stattfand. Aber auch in Nikosia schwieg der ukrainische Präsident über die türkische Invasion, die von Ankara bis heute als „Friedensoperation“ deklariert wird, so wie man in Moskau von einer „Spezialoperation“ in der Ukraine spricht. Und nicht nur das: Als nach Selenskis Ansprache die zyprische Parlamentspräsidentin an die Invasion von 1974 und die Teilung der Insel erinnerte, beendete ein Knopfdruck in Kiew die digitale Präsenz des ukrainischen Präsidenten.(15)
Das Beschweigen der Zypern-Invasion und die Kampfdrohne Bayraktar TB2
Ein griechischer Kommentator nannte die in Athen und Nikosia gehegte Erwartung, Selenski werde die russische Invasion von 2022 mit der türkischen Invasion von 1974 vergleichen, eine Illusion von „Romantikern“. Denn natürlich könne der ukrainische Präsident „seinen Freund Erdoğan nicht vor den Kopf stoßen“. Schließlich beliefert die Türkei die Ukraine mit sehr effektiver militärischer Hardware wie der Aufklärungs- und Kampfdrohne Bayraktar TB2, deren propagandistische Bedeutung fast noch größer ist als ihr militärischer Nutzen. Aber auch den schätzen Experten als bedeutsam ein, zumal die TB2 von allen Drohnen die meisten „echten“ Einsätze vorweisen kann, etwa in Syrien, in Libyen und zuletzt im Kaukasus beim zweiten Karabach-Krieg.(16) Bei der Versenkung des russischen Raketenkreuzers „Moskwa“ am 14. April soll die Drohne einen Angriff vorgetäuscht haben, bevor zwei Neptun-Raketen das Schiff trafen (Bericht in Business Insider vom 18. Juni 2022).
Auch langfristig ist die Türkei für die Ukraine ein wichtiger strategischer Partner. In den letzten Jahren hat sich eine umfassende militärtechnische Kooperation entwickelt, wobei die ukrainische Seite nicht nur die Antriebe für die türkischen Bayraktar-Drohnen liefert, sondern auch Helikopter-Motoren oder militärische Radar- und Kommunikations-Technologie.(17)
Allerdings könnte Selenskis Beschweigen der Zypern-Invasion noch einen weiteren Grund haben. Das Resultat der Operation war die Teilung Zyperns, die samt einer massiven türkischen Militärpräsenz bereits 48 Jahre andauert. Die endgültige Teilung ist nur eine Frage der Zeit und es ist durchaus denkbar, dass die Türkei eines Tages die von ihr etablierte „Türkische Republik Nordzypern“ (TRNC) formell annektiert.
Auf diesen Präzedenzfall einer „erfolgreichen“ Invasion hinzuweisen, musste dem ukrainischen Präsidenten unzumutbar erscheinen. Schließlich versichert er seinem eigenen Volk tagtäglich, dass der Krieg mit der kompletten Niederlage der Invasoren und der Wiedererlangung aller verlorenen Territorien enden werde. Das geteilte Zypern ist für die Ukraine also ein Menetekel, vor dem man lieber die Augen verschließt.
Realpolitisches Kalkül gegen moralische Prinzipien
Dass Selenski bei seinen Auftritten in Athen und Nikosia die Zypern-Invasion von 1974 ebenso „vergaß“ wie die türkische Casus-Belli-Drohung gegenüber Griechenland, zeigt vor allem eins: Hinter seinen hoch emotionalen Reden, die sich auf die höchsten Prinzipien des Völkerrechts und die edelsten moralischen Werte berufen, steht das nackte realpolitische Kalkül, das auf den maximalen militärischen Nutzen zielt. Amoralisch formuliert: Türkische Waffen sind für die Ukraine wichtiger als griechische Sympathien. Letztere hat Selenski mit der Inszenierung vom 7. April ohnehin verspielt. Eine Umfrage unmittelbar nach seiner Rede ergab, das der ukrainische Präsident nur bei 11 Prozent der Befragten einen „guten“, bei 65 Prozent dagegen einen „schlechten“ Eindruck hinterlassen hat, bei 50 Prozent sogar einen „sehr schlechten“.(18)
Dieser negative Eindruck schlug sich in zwei weiteren Bewertungen nieder. In der Frage, welche Haltung zum Krieg im griechischen Interesse liege, wollten im April nur noch 20 Prozent der Befragten für die Ukraine Partei ergreifen, im Vormonat waren es noch 26 Prozent gewesen. Dagegen stieg die Zustimmung zu einer „neutralen Haltung“ Griechenlands von 65 auf 71 Prozent. Und auch das Image der Regierung Mitsotakis wurde durch den Auftritt der Asow-Griechen beschädigt: Der Anteil derer, die mit der „Position der Regierung in der Ukraine-Frage“ unzufrieden sind, stieg von 68 Prozent (im März) auf 74 Prozent (im April).
Der Krieg in der Ukraine und das Problem Türkei
Wie erklärt sich dieses „Misstrauensvotum“ einer Dreiviertel-Mehrheit der Bevölkerung gegen die Ukraine-Politik der Mitsotakis-Regierung? Wie gezeigt, gibt es dafür „innenpolitische“ Gründe wie die Inflation, die als Kriegsfolge wahrgenommen wird. Aber ein zentrales Motiv, das die Public-Issue-Umfrage zum Vorschein bringt, ist ein „außenpolitischer“ Faktor: das Verhältnis Griechenland-Türkei. Auf die Frage: „Welche der beiden Länder wird durch die Position, die es zum Krieg in der Ukraine bezieht, mehr gestärkt?“ antworteten 67 Prozent, dass die Türkei stärker profitiere; nur 7 Prozent sahen den Vorteil bei Griechenland. Auf die politischen Lager aufgefächert, zeigt sich ein klares Rechts-Links-Gefälle: Auf der Linken sehen 82 Prozent die Türkei mehr gestärkt, in der politischen Mitte 66 Prozent, im rechten Lager 50 Prozent.
Diese Zahlen waren für die ND-Regierung alarmierend. Wenn selbst die Hälfte ihrer rechten Wählerschaft die Türkei gestärkt sah, musste sie dem Eindruck entgegenwirken, dass die griechischen Waffenlieferungen an die Ukraine die eigene Verteidigungsfähigkeit gegenüber der Türkei schwächen könnten. Auch deshalb musste Verteidigungsminister Panayotopoulos kurz nach Selenskis misslungenem Auftritt erklären, Griechenland werde kein weiteres militärisches Material an die Ukraine abgeben.
Verheimlichte Waffenlieferungen
Mit seiner ehernen Bündnistreue zum Westen stand Mitsotakis vor einem Dilemma, das er nach der klassischen Mitsotakis-Methode auflöste: Die Waffenlieferungen gingen weiter, mussten aber verheimlicht werden. Die griechische Öffentlichkeit erfuhr von ihnen erst aus ausländischen Quellen. Am 23. Mai verkündete US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, Griechenland habe sich wie andere Nato-Länder zur Lieferung von weiteren und schwereren Waffen verpflichtet. Die Oppositionsparteien waren empört, dass die Bevölkerung und das Parlament über diese schwerwiegende Entscheidung „durch den Minister eines dritten Landes“ informiert würden. Am 31. Mai erzählte Bundeskanzler Scholz, dass Berlin mit Athen einen „Ringtausch“ vereinbart habe: Griechenland werde Schützenpanzer des Typs BMP-1 (ein sowjetisches Modell aus DDR-Beständen) an die Ukraine abgeben und dafür deutsche Marder-Panzer beziehen. Auch dieser im Ausland verkündete Deal wurde von der Opposition kritisiert, die darauf verwies, dass man solches Kriegsgerät angesichts der Spannungen mit der Türkei nicht entbehren könne.
Tatsächlich hat Griechenland weit mehr geliefert als die zwei ersten Flugzeugladungen, von denen der Verteidigungsminister behauptet hatte, sie seien die letzten gewesen. Anfang Juni offenbarte Panayotopoulos, Griechenland habe in „beispiellosem“ Umfang militärisches Gerät in die Ukraine geschickt, dafür habe man nicht weniger als 21 Militärfrachtflugzeuge eingesetzt.(19)
Wie begründet die Regierung ihre unpopuläre Entscheidung für direkte Waffenlieferungen an die Ukraine? In allen ihren Erklärungen spielt der Konflikt mit der Türkei eine zentrale Rolle. Das gilt schon für die Rede von Mitsotakis am 1. März im Athener Parlament. Nachdem er Griechenland "auf der richtigen Seite der Geschichte" platziert hatte, folgte der realpolitische Schlüsselsatz: “Wenn wir nicht heute unsere praktische Solidarität mit einem Land beweisen, das einem bewaffneten Angriff durch einen Feind der Demokratie und der Freiheit ausgesetzt ist, mit welchem moralischen Anspruch können wir dann morgen die Solidarität der westlichen Welt einfordern, falls wir sie benötigen...” (Kathimerini vom 2. März 2022)
Athener Illusionen
Zugleich äußerte Mitsotakis in einem Interview die Hoffnung, die Reaktion des Westens auf die russische Aggression könnte Erdoğan veranlassen, seine Drohpolitik gegenüber Griechenland zu überdenken: „Die Rhetorik des Revisionismus ist ‚out‘ angesichts des internationalen Klimas“ (Kathimerini vom 3. März 2022). Auch Außenminister Dendias ging davon aus, dass Ankara seine revisionistischen Ambitionen aufgeben würde, „nachdem Putin erfahren hat, dass er nicht ungestraft versuchen kann, seinen Willen willkürlich mit Waffengewalt durchzusetzen“.(20)
Auch die ehemalige Regierungspartei Syriza fährt ihre Argumentation auf einer idealistischen und einer realpolitischen Schiene. Zum einen lehnt sie weitere Waffenlieferungen an die Ukraine prinzipiell ab. Indem sich die Regierung Mitsotakis „dem Westen“ als „Vorposten“ anbietet, argumentiert Alexis Tsipras in einem Interview, gebe sie die Rolle auf, die Griechenland auf Grund seiner geopolitischen Lage und Bedeutung zustehe: sich als Hort der Stabilität und Bastion des Friedens zu bewähren. Die „leichtfertige“ Entscheidung für Waffenlieferungen schwäche die Rolle Athens als potentieller Vermittler „bei einem diplomatischen Ausweg aus dem Krieg“.(21) Der außenpolitische Sprecher der Partei, Ex-Außenminister Katrougalos, spitzte diese Kritik noch weiter zu: Mitsotakis mache Griechenland zu „einem Teil der Ukraine-Krise statt zum Teil einer Lösung – wie es die Türkei tut“. (zitiert nach der griechischen Nachrichtenagentur AMNA vom 16. April 2022)
Der fast neidische Seitenblick auf die Türkei verweist auf den zweiten, den realpolitischen Argumentationsstrang. In dem zitierten Interview behauptete Tsipras, das an die Ukraine gelieferte Kriegsgerät wäre angesichts der aktuellen Spannungen mit der Türkei „besonders nützlich“ gewesen. Griechenland habe nun mal nicht Luxemburg und Belgien zum Nachbarn. Und der Ukrainekrieg habe „die internationale Rolle der Türkei aufgewertet“ und Ankara zu weiteren Provokationen angestachelt. Angesichts dessen sei die militärische Hilfe für die Ukraine besonders gefährlich: „Sie führt uns nicht nur in Abenteuer, sie schafft auch Bedingungen, die künftig für uns schädlich sein können.“
Der idealistische Strang der Syriza-Linie leidet unter derselben Schwäche wie „pazifistische“ Positionen insgesamt: Für moralisch ehrenwerte Appelle gibt es in Moskau keinen Empfänger, für den Wunsch nach einem raschen Ende des Krieges keine reale Grundlage. Nicht nur deshalb ist die Vorstellung der Syriza, Athen solle eine „Vermittlerrolle“ zwischen Kiew und Moskau übernehmen, reines Wunschdenken. Für eine solche Rolle fehlen Griechenland auf der internationalen Bühne alle Voraussetzungen. Ganz anders die Türkei: Als „regionale Großmacht“, die trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft weitgehend autonom agiert, hat es das Erdoğan-Regime geschafft, aus dem Ukrainekrieg einen erheblichen strategischen Mehrwert zu ziehen.(22) Was das für die aktuellen griechisch-türkischen Beziehungen bedeutet, soll im zweiten Teil dieser Analyse untersucht werden.
Anmerkungen
1) Siehe: The Ukrainian Weekly vom 18. Oktober 2019
2) Die traditionelle Skepsis gegenüber dem Westen spiegelt sich auch in den schwachen Sympathie-Werten für Angela Merkel (27,5 Prozent der Befragten) oder Donald Trump (5 Prozent) wider.
3) Die Zahlen basieren auf: Marc-Umfrage vom April (siehe Kathimerini vom 19. April 2022); Umfrage von Public Issue vom März 2022; Blitzumfrage von Kapa Research vom 26. Februar 2022.
4) Für Sanktionen war anfangs etwa zwei Drittel, dagegen ein Drittel: Nach der Eurostat-Umfrage vom April waren nur noch 54 Prozent dafür und 44 Prozent dagegen.
5) Nach einer Umfrage für MEGA TV waren Mitte März 66 Prozent gegen und nur 29 Prozent für Waffenlieferungen; siehe den Bericht auf dem Blog Euractiv vom 25. März 2022.
6) Eine russlandfreundlichere Einschätzung (46 zu 45 Prozent) war nur in Bulgarien zu verzeichnen.
7) Siehe: Flash Eurobarometer FL506: EU‘s Response to the War in Ukraine
8) Bevor die EU-Häfen Anfang Juni für russisches Öl geschlossen wurden, war ein Großteil der russischen Exporte über Ship-to-Ship-Operationen (StS) gelaufen. Dabei brachten kleine russische Öltanker ihre Fracht nach Griechenland (und Malta), um sie dort auf griechische Großtanker umzupumpen und in alle Welt zu transportieren. Auch solche StS-Operationen werden von der EU weiter zugelassen; diese Informationen zur Strategie der griechischen Reeder stützen sich auf Analysen in: FAZ vom 9. Juli 2022; Business Insider vom 5. Juni 2022; Lloyds List vom 27. Mai 2022; Bloomberg vom 9. Mai 2022.
9) armyvoice.gr, 20. März 2022; auf einigen TV-Kanälen argumentierten pensionierte Militärs vehement gegen die Waffenlieferungen, die einer von ihnen als „schädlich, unnötig und dumm“ qualifizierte (Politico vom 23. März 2022).
10) Siehe Kathimerini vom 17. März 2022. Die ukrainische Anfrage bezog sich auf die Flugabwehrraketen TOR-M1 und Osa-AK, interessanterweise aber nicht auf das modernere S-300-System, dessen Weitergabe von russischer Seite genehmigt werden müsste.
11) Siehe die Analyse der Selenski-Ansprachen durch ein Autorenteam der Süddeutschen Zeitung: „Mit der Macht der Worte“, 13. Mai 2022.
12) Siehe Georgia-Evangelia Karagianni und Marianthi Pelekanaki, "Zelenskyy speech at Greek parliament overshadowed by Azov video", Euractiv vom 7. April 2022. In deutschen Medien wurde diese Episode kaum registriert, mit Ausnahme des Berichts von Wassilis Aswestopoulos auf der Website Telepolis: "Selenskyj schleust Rechtsextremisten ins griechische Parlament", 8. April 2022.
13) Eine differenzierte Einschätzung wurde im Deutschlandfunk geboten: "Rechtsextremisten in der Ukraine und ihr Einfluss im Land", 1. Juli 2022.
14) Mitteilung auf der Website des griechischen Außenministeriums vom 14. Februar 2022.
15) Der ukrainische Botschafter in Zypern erklärte dessen Verschwinden von dem Monitor mit einem „technischen Fehler“, siehe Financial Mirror (Nikosia) vom 8. April 2022; die Rede Selenskis in Englisch auf www.president.gov.ua
16) Siehe die Darstellung auf der türkischen Website DefenseHere vom 7. Mai 2022: "How Turkey’s Bayraktar Went From Killer Drones to Weapons of Hope"
17) Eine Liste aller militärtechnischen Joint Ventures dokumentiert DefenseHere vom 26. Februar 2022: "Turkish defense industry companies' business ties with Ukraine"
18) Der schlechte Eindruck war bei „linken“ Befragten noch ausgeprägter: 82 Prozent gegenüber 58 Prozent bei der politischen „Mitte“ und 41 Prozent bei der „Rechten“. Ergebnisse im Detail unter www.publicissue.gr; auch die persönlichen Sympathiewerte für Selenski wurden stark beschädigt. Nach seiner Rede hatte er bei 68 Prozent der Befragten ein „negatives“ Image, 12 Prozentpunkt mehr als im Vormonat März.
19) Die genaue Liste der griechischen Lieferungen dokumentiert eine ukrainischen Website: "Greece disclosed the amount and types of weapons handed over to Ukraine", mil.in.ua, 5. Juni 2022. Wichtiger als die militärische Hardware ist jedoch die Bedeutung, die Griechenland für die gesamte Logistik der Waffenlieferungen an die Ukraine hat. Eine zentrale Rolle spielt der Hafen von Alexandroupolis, über den die USA (gemäß einem am 12. Mai vom Athener Parlament verabschiedeten Verteidigungsabkommen) militärisches Material über Bulgarien und Rumänien in Richtung Moldawien und Ukraine schaffen können. Siehe: John Psaropoulos, "Ukraine war boosts Europeanism in border-wary Greece", Al-Jazeera vom 20. Mai 2022.
20) Interview mit Skai-TV am 1. April, zitiert nach: "Dendias: The worst thing Greece could have done was differentiate itself from the EU over Ukraine", Greek City Times vom 1. April 2022.
21) Tsipras-Interview mit dem Newsblog Euractiv vom 27. Juni 2022.
22) Siehe dazu: Günter Seufert, „Profiteuer der Stunde. Wie Erdoğan sich den Ukrainekrieg zunutze macht“, LMd, Juli 2022.