07.07.2022

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Wie Erdoğan sich den Ukrainekrieg zunutze macht

von Günter Seufert

Den Haag, 17. Mai 2022, irakische Kurden protestieren vor dem Sitz der Organisa­tion für das Verbot von chemischen Waffen: „Während die Welt auf die Ukrai­ne blickt, begeht die zweitgrößte Nato-Armee Kriegs­verbrechen in Irakisch-­Kurdistan“ CHARLES M. VELLA/picture alliance/zumapress.com
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Der Krieg in der Ukraine hat die Türkei und ihren Präsidenten die Rückkehr auf die Bühne großer Politik ermöglicht. Die Türkei macht fast allein die Südostflanke der Nato aus. Ankara kontrolliert die Passage von Kriegsschiffen ins Schwarze Meer und hat zu Moskau und zu Kiew gute Beziehungen. Deshalb will keine Seite die Türkei verprellen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die regierende AKP nutzen das innen- und außenpolitisch weidlich aus.

„Seit 20 Jahren haben wir nun schon einen globalen Führer, unter dem die Türkei zu einer weltweit bedeutenden Macht geworden ist“, sagte am 25. Juni der stellvertretende Parteivorsitzende Vedat Demiröz in seinem ostanatolischen Wahlkreis Ahlat. Und klärte seine Landsleute auf: „Wir nehmen Einfluss auf die globale Politik, bringen kriegsführende Staaten an den Verhandlungstisch und zögern nicht, als Schutzmacht für ausgebeutete Länder aufzutreten.“

Tatsächlich ist der wachsende Einfluss der Türkei unübersehbar. Ankara blockierte wochenlang den Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato, den alle anderen Bündnisstaaten in Reaktion auf den russischen Krieg in der Ukraine unterstützen. Für die Aufhebung seines Vetos konnte Erdoğan dann unter anderem die Aufhebung von Waffenembargos und die Beschränkung der politischen Betätigung von politischen Flüchtlingen erreichen.

Wenn die Ukraine und Russland noch verhandeln, tun sie das in Antalya oder in Istanbul. Fast nach Belieben führt die türkische Armee im kurdisch besiedelten Nordirak schon seit Monaten militärische Operationen durch. Und die Vorbereitungen für eine fünfte Militärintervention im Norden Syriens laufen auf vollen Touren. Zudem stellt Ankara seit Februar ganz offiziell die Souveränität der vor der türkischen Küste gelegenen griechischen Ägäisinseln infrage.

Gemessen an den Tönen, die Staats­präsident Erdoğan seit dem fehlgeschlagenen Staatsstreich von 2016 angeschlagen hat, kann man fast froh sein, wenn sich das türkische Expansionsstreben auf die griechischen Ägäisinseln beschränkt. Zum Beispiel regte er 2016 die Neuverhandlung des Vertrags von Lausanne aus dem Jahr 1923 an,1 der die Grenzen der heutigen Türkei gezogen hat. Was 1923 festgeschrieben wurde, so Erdoğan, sei seinerzeit „das Mindeste“ gewesen, was der Türkei zustehe.

Um klarzumachen, was der Türkei eigentlich zusteht, verwies der türkische Präsident auf den sogenannten Nationalpakt (Misak-ı Millî) von 1920. Der legte die Kriegsziele fest, auf die sich die türkische Nationalbewegung in den frühen 1920er Jahren, noch vor Gründung der Republik, geeinigt hatte. Für die Regierungspresse gehören dazu: Westthrakien mit Thessaloniki, halb Bulgarien mit den Städten Warna und Plowdiw, im Süden das Gebiet um die Städte Aleppo, Mossul und Kirkuk sowie die nordwestliche Ecke Irans. Die griechischen Ägäisinseln stehen gar nicht auf dieser Liste. Doch wenn Erdoğan behauptet, die Türkei sei in ihren heutigen Grenzen „eingesperrt“, denken die meisten Türken heute nicht an Iran oder Syrien, sondern an die griechischen Inseln vor der Westküste der Türkei.

Diese allgemeine Auffassung ist nicht primär das Werk der AKP-Regierung, sondern der türkischen Opposi­tion, allen voran der säkular-nationalen Republikanischen Volkspartei (CHP). Tatsächlich hat die Opposition seit Beginn der AKP-Ära 2002 in parlamentarischen Anfragen fast 100-mal den Status von bewohnten Inseln und unbewohnten „Felsen“ in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer thematisiert. Sie sprach dabei immer wieder von „18 türkischen Inseln unter griechischer Besatzung“ und beanspruchte zusätzlich noch fast 150 türkische Felsen.

Unterstützung erhielt die Opposition durchweg von nationalistischen Thinktanks und pensionierten Militärs, insbesondere aus der Kriegsmarine. Mit dieser Politik wollte die CHP die AKP-Regierungen rechts überholen und sich als wahrer Vertreter der nationalen Interessen profilieren. Und zwar auch deshalb, weil die AKP in der Innenpolitik lange Zeit unangefochten die Szene beherrschte: mit einer anfänglich erfolgreichen Wirtschaftspolitik, mit Maßnahmen im Sozial- und Gesundheitsbereich, aber auch mit einer auf ihre Klientel ausgerichteten muslimisch-konservativen Kultur- und Bildungspolitik.

Auf diese Weise gewann Erdoğans AKP seit 2002 alle sechs Parlaments- und alle drei Präsidentschaftswahlen. Zudem war sie in drei Referenden erfolgreich und ging aus allen vier Kommunalwahlen als stärkste Partei hervor.

Die CHP – und die Opposition insgesamt – hatte noch bis vor Kurzem keine Chance, die AKP landesweit herauszufordern. Heute jedoch stehen die AKP und Erdoğan unter großem Druck. Schon seit 2018 versinkt das Land in einer Finanz- und Währungskrise. Anfang 2014 war der US-Dollar noch für 2,7 Türkische Lira (TL) zu haben. 2018 war sein Preis auf 4,9 TL gestiegen, Anfang August 2021 lag er bei 8,3 TL und Ende Juni 2022 bei fast 17 TL.

Das Statistikamt gab im Mai 2022 die Inflationsrate für die letzten zwölf Monate mit 73,5 Prozent an. Unabhängige Forscher errechnen fast das Doppelte, nämlich 160 Prozent. Um nahezu 100 Prozent stiegen in den letzten zwölf Monaten auch die Immobilienpreise und die Mieten. Die Mittelschichten leben in Existenzangst. Sehr viele gut ausgebildete Fachkräfte wie Ärzte, Ingenieure und IT-Spezialisten wandern in westliche Länder aus. Allein 2020 und 2021 verließen 3000 Ärzte die Türkei, 8000 bereiten sich auf die Ausreise vor. Drei von vier Jugendlichen wollen ins Ausland emigrieren.2

Die schlechte Wirtschaftslage ist zweifellos der wichtigste Grund dafür, dass sich die Wähler von der AKP abwenden. In den neuesten Umfragen liegt die Partei nur noch bei knapp 30 Prozent3 , die letzten Parlamentswahlen im Juni 2018 hatte sie noch mit 42,6 Prozent der Stimmen gewonnen. Ihr Bündnispartner, die extrem rechte Nationalistische Bewegung (MHP), rutschte von 11,1 Prozent auf Umfragewerte zwischen 7 und 8 Prozent ab.

Die CHP, die 2018 mit 22,7 Prozent weit hinter der Regierungspartei zurücklag, trennen heute nur noch zwischen 2 und 5 Prozentpunkte von der AKP. Die zweitgrößte Kraft der Opposition ist die Gute Partei (İyi Parti, İYİ). Sie ist mit der CHP und kleineren Parteien in einem Wahlbündnis vereint und konnte ihre Wählerbasis von 10 Prozent 2018 auf circa 13 Prozent erweitern. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) konnte ihren Stimmenanteil von über 11 Prozent halten – trotz massiver Unterdrückung etwa durch Amtsenthebung ihrer Bürgermeister, einer Welle von Verhaftungen ihrer Funktionäre und Androhung eines Parteiverbots.

Opposition in der Zwickmühle

Selbst die beiden neuen Parteien Deva (Problemlösung) und Gelecek (Zukunft), beide unter Führung ehemaliger AKP-Politiker entstanden, ziehen erstmals eigene Wähler an, wenn auch im bescheidenen Umfang (zusammen rund 6 Prozent). Deva ist eine Gründung von Ali Babacan, ehemals Außen- und langjähriger Finanzminister. An der Spitze von Gelecek steht Ahmet Davutoğlu, der Erdoğan viele Jahre lang erst als außenpolitischer Chefberater, dann als Außenminister und kurzzeitig als Ministerpräsident gedient hat.

Auch Erdoğan selbst, bisher in allen Wahlkämpfen das Zugpferd seiner Partei, scheint allmählich zu lahmen. Umfragen legen nahe, dass potenzielle Kandidaten der Opposition erstmals eine Chance haben, Erdoğan als Staatspräsidenten abzulösen. Das gilt für die zwei CHP-Bürgermeister Mansur Yavaş (Ankara) und Ekrem Imamoğlu (Istanbul) und auch für den CHP-Chef Kemal Kı­lıç­dar­oğlu.

Für Erdoğan und seine AKP läuten die Alarmglocken zum ersten Mal in bedrohlicher Lautstärke. Im Juni 2023 stehen die nächsten Parlaments- und Staatspräsidentenwahlen an. Wirtschaftlich ist nicht einmal ein Silberstreif am Horizont in Sicht, der private Schuldenstand ist hoch, die Staatsfinanzen sind zerrüttet.

Und lang ist es her, seit die AKP eine Vision entwickelt und glaubwürdig vertreten hat. Die Partei, die als eine muslimisch-konservative Volksbewegung mit demokratischer Rhetorik begonnen hat, ist mit der Zeit zu einem Wahlverein für Erdoğan verkommen, heute gilt sie vielen als durch und durch korrupt.

Sieht Erdoğan in dieser Lage den Ausweg in einer aggressiven Außenpolitik mit dem Ziel, die eigenen Reihen zu schließen und das große nationalistische Segment der türkischen Gesellschaft zu mobilisieren? Waren solche wahltaktischen Überlegungen auch der Hauptgrund für die Blockade des Nato-Beitritts von Schweden und Finnland, für die Vorbereitung einer neuen Invasion in Syrien und für das Säbelrasseln im Streit mit Athen um den Status der ostägäischen Inseln?

Es spricht vieles dafür. Außenpolitische Fehden, Feldzüge und Militäreinsätze haben sich für die Regierung bisher fast immer ausgezahlt. Zum Beispiel im Sommer 2015, als Erdoğan nach der Parlamentswahl vom Juni, die der AKP die absolute Mehrheit im Parlament kostete, die Verhandlungen mit der kurdischen PKK abbrach. Als die Kämpfe wie erwartet wieder aufflammten, setzte Erdoğan Neuwahlen für November an, die er haushoch gewann.

Auch die vier Militärinterventionen im Norden Syriens haben sich für die Regierung ausgezahlt. Die Feldzüge wurden wochen- und manchmal monatelange angekündigt, die Opposition wurde gedrängt, sich zur notwendigen „Vorwärtsverteidigung“ des Vaterlands zu bekennen, nach vollendeter Aktion wurde der „Sieg“ mit bombastischer Rhetorik gefeiert – bis zur Ankündigung des nächsten Feldzugs.

Dieser Kreislauf schuf ein Klima ständiger Bedrohung und erzwungener nationaler Einheit, das es der Regierung erlaubte, selbst die gewaltfreie politische Betätigung der kurdischen Bevölkerung zu kriminalisieren und jede Kritik der Opposition als Unterstützung von Terroristen zu brandmarken.

Die letzten Zweifel daran, dass Er­do­ğan bis zur Wahl die konfrontative Außenpolitik fortsetzen wird, zerstreute der Kolumnist Burhanettin Duran, einer der außenpolitischen Vordenker der Regierung.4 Erdoğan, so Duran, werde sich in den nächsten Monaten ganz auf die Invasion türkischer Truppen in Syrien, den Streit mit Athen über den Status griechischer Inseln in der Ägäis und die Blockade der Nato-Erweiterung konzentrieren. Beim letzten Punkt lag Duran allerdings da­neben.

Am 28. Juni hat die Türkei dem Beitritt Schwedens und Finnlands doch noch zugestimmt. Das bedeutet allerdings keine Abkehr von der Konfrontationspolitik. Ankara hat vielmehr einen Etappensieg errungen: Schweden und Finnland heben ihre Waffenembargos auf; US-Präsident Joe Biden verspricht, der Türkei modernisierte F-16-Kampfjets zu liefern; Schweden wird ein verschärftes Antiterrorgesetz erlassen. Und da der Beitrittsvertrag von allen Nato-Mitgliedstaaten ratifiziert werden muss, kann Erdoğan vor der Zustimmung des türkischen Parlaments weitere Zugeständnisse aushandeln.

In dieser Großen Nationalversammlung wird die kemalistische CHP wohl erneut versuchen, die AKP in Sachen Nationalismus und Ägäis-­Kon­fron­ta­tion zu überholen. So hat CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu am 26. Juni drohend in Richtung Athen vermerkt, dass es der ehemalige CHP-Chef Bülent Ecevit war, der 1974 den Befehl zur türkischen Invasion auf Zypern gab. Deshalb wirkt es fast grotesk, wenn Kılıçdaroğlu der AKP vorwirft, die Außenpolitik für den Stimmenfang im Innern auszunutzen. Genau das tut er selbst immer wieder; zum Beispiel Ende Mai, als er die Regierung aufforderte, „als Zeichen ihrer Ernsthaftigkeit“ im Streit über den Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands alle US-Stützpunkte in der Türkei zu schließen.5

So fällt die CHP jetzt in die Grube, die sie der AKP-Regierung in den letzten Jahren gegraben hat. Nur hinsichtlich eines weiteren Feldzugs gegen die Kurden Syriens hält sich Kılıçdaroğlu zurück, weiß er doch, dass kein Präsidentschaftskandidat die Wahl im nächsten Jahr ohne kurdische Stimmen gewinnen kann. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) hat dies bereits unmissverständlich klargestellt. Ihr ehemaliger Vorsitzender Selahattin Demirtaş, der seit 2016 im Gefängnis sitzt, hatte die Partei auf einen linken, sozialdemokratischen Kurs eingeschworen.

Die zweitgrößte Kraft der türkischen Opposition, die Gute Partei (­İYİ), gilt als rechtslastig, doch anders als die CHP gießt sie nicht ständig Öl ins Feuer. Zwar sieht auch ihre Vorsitzende Meral Akşener die Türkei im Streit um die Ägäisinseln voll im Recht. Aber sie hält Erdoğan vor, er habe die gerechte Sache mit seiner unüberlegten Politik verbockt. Was die Kriminalisierung der HDP betrifft, liegt Akşener allerdings voll auf AKP-Linie.

Die türkische Opposition steckt offensichtlich in einem Dilemma. Sie will die Abschaffung des absolutistischen Präsidialsystems von Recep Tay­yip Erdoğan. Sie will zurück zum Parlamentarismus und für mehr Demokratie kämpfen. Doch zu Demokratie gehört auch, die ethnische und re­li­giö­se Vielfalt der Türkei anzuerkennen, statt die Bevölkerung in ein ethnisches Korsett, das Türkentum, zu zwängen.

Solange die Opposition ein Selbstverständnis des „Türkentums“ propagiert, das Feindbilder wie Griechen und Armenier braucht, und solange sie Minderheiten verwehrt, ihre eigene Identität zu leben, wird sie wie Erdoğan nur immer neue Konflikt produzieren. Die demokratische politische Kultur der Türkei leidet nicht nur unter dem Er­do­ğan-Regime. Sie leidet auch unter einer Opposition, die nicht begreift, dass die ewigen Tabus des türkischen Nationalismus die politischen Frei­räume verschließen, die nötig sind, um sich gegen ein autoritäres Regime zu wehren.

1 Stavros Drakoularakos, „Turkey and Edogan’s rising ‚Lausanne Syndrome‘ “, Digest of Middle East Studies, 18. Dezember 2020.

2 „Türkiye’den Almanya’ya beyin göçü“, Podcast WDR-Cosmo, 24. April 2022.

3 Umfragen vom April, Mai und Juni 2022 der Firmen Panorama, Polimetre, Aksoy und MetroPoll.

4 Siehe „The 10 questions debate in Turkish politics“, Daily Sabah, 6. Juni 2022.

5 Siehe „Main opposition urges gov’t to close Incirlik base over Nato row“, Ahval, 27. Mai 2022.

Günter Seufert leitet das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.07.2022, von Günter Seufert