Blogbeitrag: Brexit und Grexit

 

Demonstranten protestieren gegen den EU-Austritt Großbritanniens vor dem Parlament in Athen. © reuters/Alkis Konstantinidis 

Brexit und Grexit

Das Ergebnis des Brexit-Referendums, das ganz Europa bewegt, hat Athen am letzten Freitag in eine Schockstarre versetzt. Es dauerte Stunden, bevor sich Regierung und Opposition zu einer offiziellen Reaktion aufrappeln konnten. Die linke Athener Efimerida ton Syntaktion (Zeitung der Redakteure) fragte am 24. Juni um 12 Uhr mittags verwundert, ob die politische Klasse einen „historischen Augenblick der Europäischen Union“ verpasse. Man sei offenbar, meinte der Kommentator, „noch dabei, die Lage zu analysieren“.

Tatsächlich ist es so erstaunlich nicht, dass es den griechischen Politikern die Sprache verschlagen hat. In Athen war man von einer Niederlage des Brexit-Lagers ausgegangen. Und was sich die Regierung wünschte, hatte Alexis Tsipras noch zwei Tage vor dem britischen Referendum an der Seite von EU-Kommissionspräsident Juncker mit dem Satz verdeutlicht: „Es ist bekannt, dass wir beide für den Verbleib Großbritannien in der EU stimmen würden.“ (Ta Nea vom 25. Juni).

Unmittelbare und existentielle Gefahr

Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der von der Brexit-Mehrheit beschlossen wurde, stellt ganz Europa vor eine extreme Herausforderung, für Griechenland jedoch bedeutet diese Entwicklung eine unmittelbare und existentielle Gefahr. Darüber sind sich alle politischen Kräfte einig, die das Land in der EU und in der Eurozone halten wollen, also das ganze Parteienspektrum zwischen Syriza und Nea Dimokratia.

Im Vorfeld des britischen Referendums war sich die Regierung Tsipras voll bewusst, was bei einem Brexit-Votum speziell auf Griechenland zukommen könnte. Deshalb war die Regierung verzweifelt bemüht, die Vereinbarung mit den Gläubigern über die Evaluierung des laufenden „Memorandums“ noch vor dem 23. Juni unter Dach und Fach zu bringen. Das hat sie mit Müh und Not geschafft: Am letzten Dienstag, nur zwei Tage vor dem britischen Referendum, sind in Athen jene 7,5 Milliarden Euro eingetroffen, die der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) als erste „Prämie“ für den Abschluss des Sparprogramms überwiesen hat.(1)

Düstere Drohung und Ansporn

Der Tenor der Athener Presse lautete: Gott sei Dank haben wir die Gelder vor dem Brexit bekommen (2). Seit Beginn der Verhandlungen zwischen Athen und Brüssel stand das britische Referendums-Datum wie eine düstere Drohung im Raum. Die griechische Seite wollte unbedingt vermeiden, dass die Brexit-Kontroverse eine erneute Diskussion über ein Grexit-Szenario entfacht. Deshalb reagierte man in Athen auf jede Verzögerung mit nervösen Spekulationen über eine „heimliche Agenda“ der Verhandlungspartner. Wobei man besonders Berlin die Absicht unterstellte, die Griechenland-Entscheidung auf einen Zeitpunkt nach dem 23. Juni hinaus zu schieben.

Dieser Verdacht hat sich als falsch erwiesen. In der Schlussphase wirkte das Brexit-Datum im Gegenteil als ein Ansporn, die Vereinbarung mit Athen unter Dach und Fach zu bringen, berichteten die Beobachter aus Brüssel und aus Berlin. Es war offensichtlich, dass die Partner Griechenlands angesichts des ungewissen Ausgangs des britischen Referendums unbedingt den Eindruck vermeiden wollten, die Union sei ohnehin in Auflösung begriffen.

Die möglichen negativen Folgen eines Brexit wurden im Vorfeld des britischen Referendums in den griechischen Medien intensiv erörtert, mit Sicherheit natürlich auch in der Regierung. Im Folgenden will ich die wichtigsten Aspekte dieser Debatte darstellen, die seit dem 24. Juni nicht mehr hypothetisch ist. Über Nacht sind die Fragestellungen sehr real geworden. Das gilt für die politische und für die ökonomische Ebene, wie Nick Malkoutzis betont, dessen blog Macropolis einer der besten Informationsquellen über die griechische Wirtschaft ist: In der mit der Brexit-Entscheidung entstandenen Situation seien diejenigen Länder besonders gefährdet, „die politisch isoliert oder wirtschaftlich anfällig sind – und unglücklicherweise trifft auf Griechenland beides zu“.

Athener Börse mit den höchsten Verlusten

Betrachten wir zunächst die ökonomischen Folgen, die sich unmittelbar an der Athener Börse zeigten. Als die Aktienkurse am letzten Freitag europaweit einbrachen (zwischen 6 Prozent in Frankfurt und 11 Prozent in Madrid) wurden die höchsten Verluste von der Athener Börse gemeldet. Hier stürzten die Kurse um 13,5 Prozent ab, am Montag ging es weiter abwärts (um zunächst 2,8 Prozent). Dieser zweitgrößte Kursverlust nach dem 5. August 2015 (als die Verhandlungen über das dritte griechische Sparprogramm in ihrem kritischen Stadium waren) bedeutet einen „Wertverlust“ von rund 7 Milliarden Euro. Damit wurden binnen zwei Börsentagen die akkumulierten Kursgewinne der vergangenen drei Monate zunichte gemacht. Und das ist wahrscheinlich nur der Anfang einer anhaltenden Talfahrt der griechischen Aktienkurse.(3)

Die größten Verlierer waren die vier großen Banken, die durchschnittlich 29,7 Prozent ihres Börsenwerts verloren und damit fast aus dem Handel genommen worden wären.(4) Diese Verluste waren prozentual doppelt so hoch wie die des EU-Bankensektors insgesamt, der nach dem europaweiten Bloomberg-Index 15 Prozent einbüßte (die Deutsche Bank verlor 13,5 Prozent, die britischen Banken zwischen 15 und 20 Prozent). Diese horrenden Verluste der griechischen Banken ergeben sich aus der Akkumulation mehrerer Effekte: Da ist zunächst die allgemeine Angst vor einer neuerlichen Krise des gesamten Bankensystems, dessen Kreditvolumen zu etwa 45 Prozent aus NPLs (non performing loans), also aus notleidenden Krediten besteht. Zudem ist noch unklar, ob und wann die griechischen Banken sich neue Liquidität durch Beteiligung am QE (Quantitative Easing)-Programm der Europäischen Zentralbank verschaffen können. Wie diese Entscheidung der EZB ausfällt, ist nach dem Brexit-event schwer einzuschätzen. Daher haben viele Anleger – und zwar vor allem britische, aber auch us-amerikanische Hedgefonds, ihre griechischen Bankaktien impulsiv abgestoßen (Kathimerini vom 24. Juni).

Panikartige Flucht aus dem Risiko

Der wichtigere Faktor ist die allgemeine Tendenz internationaler Anleger, in einer unüberschaubaren Krise in sichere Werte – und in stabile Volkswirtschaften – zu flüchten. Deshalb mussten nicht nur die griechischen Banken, sondern auch die „Blue chips“ (also die vermeintlich krisensichersten Aktien) an der Athener Börse überdurchschnittliche Verluste von fast 20 Prozent hinnehmen. Die zitierte Analystin der griechischen Website capital.gr konstatiert eine panikartige Flucht aus dem Risiko: „einen Hochgeschwindigkeits-Ausverkauf aller Titel, die auch nur mit dem kleinsten Risiko behaftet sind“. An dieser Flucht seien alle Investoren beteiligt, egal ob sie sich kurzfristig oder langfristig in Griechenland engagiert haben.

Eine erneute und akute Bankenkrise hätte gravierende Folgen für die griechische Realwirtschaft. Schon seit Jahren haben selbst stabile und überlebensfähige Unternehmen große Probleme, von den extrem risikoscheuen Banken Kredite zu annehmbaren Bedingungen zu bekommen. Das gilt vor allem für Klein- und Mittelunternehmen (KMU), von denen nach einer Umfrage 31 Prozent den mangelnden Zugang zu Krediten als ihr größtes Problem nennen. Und wenn sie von einer Bank Geld bekommen, dann zu durchschnittlich 5,9 Prozent Zinsen - eine um etwa 3 Prozentpunkte höhere Belastung als ihre Konkurrenten in anderen Eurozonenländern. Angesichts dessen verzeichnete Malkoutzis schon vor dem 24. Juni die „absurde Situation, dass diejenige Volkswirtschaft der Eurozone, die am stärksten auf mehr Liquidität und niedrige Zinsraten angewiesen wäre, weder das eine noch das andere hat.“(5)

Schwächeres Pfund verteuert griechische Ferien

Eine der unmittelbaren ökonomischen Folgen resultiert aus der prognostizierte Abwertung des britischen Pfundes. Die wird sich vor allem auf die „griechische Schwerindustrie“, also den Tourismus auswirken: Ein schwächeres Pfund verteuert die griechische Ferien für britische Urlauber, die in den letzten Jahren die zweitgrößte Kohorte ausländischer Touristen nach den Deutschen stellten. Letztes Jahr ist die Zahl der britischen Urlauber um fast 15 Prozent gestiegen, wobei die 2,4 Millionen Briten fast 2 Milliarden Euro in Griechenland ausgegeben haben.(6) Wenn der Brexit, wovon viele Ökonomen ausgehen, die Konjunktur in der gesamten EU beeinträchtigen wird, dürfte auch die Zahl der Touristen aus anderen EU-Ländern zurückgehen. Die griechischen Tourismusbranche befürchtet aber nicht nur Einbußen in der laufenden Saison, sondern auch für 2017. Mit Sicherheit wird sie bei der Aushandlung der Verträge für die „package tours“ des nächsten Jahres den britischen Reiseunternehmen weitere Preisabschläge zugestehen müssen.

Eine anhaltende Pfundabwertung erschwert auch die Warenexporte nach Großbritannien, was die Krise der griechischen Exportwirtschaft verschärfen würde, die seit Monaten sinkende Umsätze verzeichnet. Großbritannien liegt in der Tabelle der griechischen Exporte immerhin an 6. Stelle und absorbierte 2015 Waren im Wert von über 1 Milliarde Euro (4,2 Prozent des gesamten griechischen Exportvolumens). Ein Rückgang dieser Ausfuhren wäre für eine exportschwache Volkswirtschaft wie die griechische ein erheblicher Verlust. Der IWF hat in einem durchgerechneten Brexit-Szenario geschätzt, dass Griechenland bei den Exporten wie im eigenen Tourismussektor knapp 0,5 Prozent des BIP einbüßen könnte, womit das Land zu den am stärksten betroffenen EU-Ländern gehören würde (noch stärker betroffen wären demnach Malta, Irland und Zypern).

Weniger Geld aus den EU-Kassen

Der IWF verweist auf ein weiteres Problem. Da Großbritannien bislang innerhalb der EU zu den Netto-Geberländern gehörte, wird sein Ausscheiden dazu führen, dass für die Netto-Empfängerländer weniger Geld zur Verfügung steht. Der IWF geht von einer Reduzierung um etwa ein Zehntel aus, in ungefähr dieser Höhe würden sich auch die Bezüge Griechenlands aus den EU-Kassen vermindern.(7)

Der IWF geht ebenfalls davon aus, dass sich der Brexit auf die Preise staatlicher Anleihen, also auf dem Bondsmarkt auswirken wird, weil „der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ganz allgemein eine Neubewertung des Risikos bewirken könnte, also auch in den peripheren Volkswirtschaften der Eurozone.“ Damit sind Länder wie Spanien und Italien, aber vor allem auch Griechenland gemeint. Ob diese Prognose sich bewahrheitet, bleibt abzuwarten. Die ersten Kursbewegungen nach der Brexit-Entscheidung bestätigen allerdings die Gefahren-Analyse des IWF: bis zum 27. Juni stieg der Zinssatz für griechische 10-Jahres-Anleihen um ein fast einen Prozentpunkt auf 8,7 Prozent.(8)

Appell für ein „besseres Europa“

Gravierender als die ökonomischen Folgen des Brexit sind die politischen Implikationen – die allerdings auch schwerer zu kalkulieren sind. Denn die Frage, ob die Position Griechenland innerhalb der EU und der Eurozone geschwächt oder gestärkt wird, hängt ganz von den weiteren Entwicklungen im Gefolge der Brexit-Krise ab. Das heißt von Fragen wie: Wird es am Ende „mehr Europa“ oder „weniger Europa“ geben? Oder vielleicht mehr europäische Integration für den harten ökonomischen Kern der Eurozone, aber weniger Solidarität für die Peripherie? Fest steht nur eines: Die Griechen haben auf die Entwicklung der Dinge so gut wie keinen Einfluss. Sie können nur appellieren. So wie es Regierungschef in seiner ersten Reaktion am 24. Juni getan hat, als er zu der Alternative von „mehr oder weniger Europa“ meinte: „Was wir brauchen, ist ein besseres und demokratischeres Europa.“

Die aktuellen Sorgen in Athen sind konkreter als solche frommen Wünsche. Sie beziehen sich auf die möglichen Reaktionen der maßgeblichen Gläubiger, die den Griechen die „Überlebensbedingungen“ innerhalb der Eurozone diktieren können. Wenn in Berlin, Paris und Brüssel das Interesse dominiert, alle weiteren Auflösungstendenzen im Keim zu ersticken, könnten sie ihrem Land, das mit der ökonomischen und der Flüchtlingskrise mit zwei Problemen gleichzeitig konfrontiert ist, endlich stärker entgegen kommen. Sollte jedoch das Konzept eines „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ Auftrieb bekommen, droht Griechenland noch weiter an den Rand gedrängt zu werden.(9)

Keine Bereitschaft zur Integration

Der oben zitierte Malkoutzis hält es für wahrscheinlicher, dass die Position Griechenlands geschwächt wird, weil er bei den maßgeblichen Kräften keine Bereitschaft zu einem „höheren Grad von Integration“ sieht. In seiner Einschätzung beruft er sich auf Wolfgang Piccoli (Direktor des Think Tank Teneo Intelligence), wonach die EU und die Eurozone auf die „populistische Herausforderung“ keinesfalls mit mehr Integration etwa in Richtung einer Fiskalunion reagieren werden. Und das wäre schlecht für Griechenland, das auf „eine größere Lastenverteilung und eine stärker integrierte Eurozone angewiesen ist“.

Die Bereitschaft zu einem „besseren Europa“ im Sinne von Tsipras ist in den ersten Reaktionen des EU-Establishments nicht zu erkennen. Vielmehr scheint die wachsende Euroskepsis auch in anderen Mitgliedsstaaten in die entgegengesetzte Richtung zu drängen. Das würde auf eine härtere Haltung gegenüber Griechenland in der elementaren Frage einer substantiellen Schuldenentlastung hinauslaufen. Auch deshalb befürchtet Malkoutzis, dass sich Frau Merkel ein Jahr vor den Bundestagswahlen nicht für ein Entgegenkommen an Athen einsetzen wird. „In dieser Atmosphäre wird man die Schuldenfrage wegschieben und nur darauf bestehen, dass die Griechen ihre Sparziele einhalten, ohne größere Flexibilität zu zeigen.“

Noch pessimistischer ist Piccoli. Er verweist auf ein worst-case-Szenario, das für die die Regierung in Athen ein Alptraum wäre: Die Beziehungen zwischen einem „ökonomisch wackligen Griechenland“ und einer „zunehmend volatilen Eurozone“ könnten so schwierig werden, dass erneut Spekulationen darüber beginnen, „ob das Land die Härten aushalten kann, die mit dem Verbleib in der Gemeinschaftswährung verbunden sind“.

Das Gegenteil dieses worst-case-Szenarios wäre eine Entwicklung, die aus griechischer Sicht nicht mehr als eine vage Hoffnung ist: „Wenn sich der Brexit als eine schlechte Entscheidung erweist, die für Großbritannien zu ökonomischen, sozialen und politischen Problemen führt, wird die Tendenz zur Euroskepsis weitgehend verschwinden.“ (Kathimerini vom 25. Juni).

Wachsende Euroskepsis

Das führt uns zu der Frage, wie es um die Euroskepsis in Griechenland selbst bestellt ist. Ein Blick auf die Meinungsumfragen der letzten Monate zeigt, dass sich die Einstellung zu der Frage „Euro oder Drachme“ völlig unabhängig von der Brexit-Debatte erheblich verändert hat. Nach den periodischen Umfragen von Public Issue ist der Anteil der Befragten mit „positiver Meinung“ zum Euro zwischen Oktober 2015 und Mai 2016 von 66 auf 55 Prozent zurückgegangen. Umgekehrt ist der Anteil der „negative Meinung“ von 32 auf 44 Prozent angestiegen.

Ein Element der Erklärung für die verstärkte Euroskepsis ist die Einschätzung der Zukunft Europas insgesamt. Die Frage, ob die Europäische Union „eine Zukunft oder eine Perspektive“ habe, wurde im Mai 2016 von 56 Prozent der Befragten mit Nein, und nur von 40 Prozent mit Ja beantwortet. Wenn man der EU keine Zukunft gibt, wird man die Mitgliedschaft Griechenlands umso skeptischer sehen. Das schlägt natürlich auf die Meinung zur Drachmenfrage durch.

Erhöhte Akzeptanz der „Drachmen“-Option

Am aufschlussreichsten an der zitierten Umfrage (10) sind deshalb die Antworten auf die Frage: „Wenn Griechenland heute den Euro aufgibt und zur Drachme zurückkehrt, was wird dann Ihrer Meinung nach geschehen? Wird es dem Land nach einer gewissen Zeit von ein bis zwei Jahren eher besser gehen, oder eher schlechter, oder wird sich eher nicht viel ändern?“

Auf diese Fragen antworteten 47 Prozent der Befragten, es werde Griechenland schlechter gehen, 15 Prozent meinten, es werde sich nicht viel ändern, aber 32 Prozent gingen davon aus, dass es einem Drachmen-Griechenland besser gehen würde (6 Prozent ohne Meinung). Ein Drittel der Bevölkerung glaubt also, dass die Rückkehr zur Drachme nicht nur kein Risiko, sondern sogar eine Chance wäre. Noch im letzten Oktober waren nur 18 Prozent dieser Meinung, während 70 Prozent glaubten, dass die Rückkehr zur Drachme für das Land schlecht sei.

Dieser Trend zu einer erhöhten Akzeptanz der „Drachmen“-Option ist die Kehrseite der ständig sinkenden Akzeptanz der ökonomischen und politischen Entwicklungen seit Beginn der zweiten Syriza-Regierung, die ich in meinem letzten Beitrag beschrieben habe. Allerdings fragt sich, ob dieser Trend auch den Wunsch nach einer Abstimmung über die Mitgliedschaft in der Eurozone oder der EU verstärkt hat.

Mein Eindruck ist, dass den Griechen der Sinn nicht unbedingt nach einem neuen Referendum steht, nachdem das berühmte „Ochi“ vom 5. Juli 2015 ein drittes hartes Sparprogramm nicht verhindern konnte. An dieser Stelle sei auf das Resultat einer Umfrage von Ende August 2015 verwiesen. Demnach befanden über 70 Prozent der Befragten der Meinung, dass das Referendum, bei dem nur wenige Wochen zuvor 63 Prozent mit „Nein“ gestimmt hatten, ein Fehler und „schädlich“ für das Land gewesen sei. Der Appetit auf Referenden ist bei den Griechen seitdem eher vergangen. Zumal, wenn es sich um eine Abstimmung handeln würde die nicht nur – wie am 5. Juli letzten Jahres - eine Meinungsäußerung wäre, sondern eine verbindliche Entscheidung in einer existentiellen Frage.

Positionen der Grexit-Befürworter

Dennoch gibt es politische Gruppen, die aktiv auf einen „Grexit“ hinarbeiten und zu diesem Ziel womöglich eine Volksabstimmung anstreben werden. Diese politischen Kräfte sind jedoch außerordentlich heterogen. Um dies zu verdeutlichen, will ich hier dokumentieren, wie beiden entschiedensten Euro-Gegner auf die Brexit-Entscheidung reagiert haben: die Neonazi-Partei Chrysi Avgi (ChA) und die linksradikale Partei LAE (Volkseinheit).

1. Der Führer der Neonazis, ChA- Generalsekretär Nikos Michaloliakos, gab am 24. Juni folgende Presserklärung heraus:

Chrysi Avgi begrüßt den Sieg der nationalen und patriotischen Kräfte in Großbritannien gegen die Europäische Union, die sich in ein erbarmungsloses Werkzeug der Internationale der Zinswucherer verwandelt hat.
Es ist kein Zufall, dass alle diejenigen gegen den BREXIT waren, die von einer harten und zerstörerischen Politik gegen die nationalen Volkswirtschaften profitiert haben.
Der Sieg von BREXIT in Großbritannien ist ein Sieg des Nationalstaats über das räuberische Finanzkapital, dem die Europäische Union von Brüssel geflissentlich zu Diensten ist.
Es ist an der Zeit, dass Europa zu den Nationalstaaten und zum Wohlstand zurückkehrt. Ich hoffe, dass es irgendwann eine Volksabstimmung auch in Griechenland geben wird, das wirtschaftlich in die Knie gezwungen und versklavt wurde, indem es seine nationale Souveränität dem Europa der Zinswucherer ausgeliefert hat.(11)

Noch euphorischer äußerte sich der Pressesprecher der „Goldenen Morgenröte“, Ilias Kasidiaris:

Chrysi Avgi begrüßt die großartige Entscheidung der britische Bürger zu ihrem Ochi („Nein“) gegen die Brüsseler Besserwisser, gegen die deutsche ökonomischen Oligarchie, die mittels ihrer Austeritätspolitik die Völker niedermacht, die unsere nationale Unabhängigkeit niedergetrampelt hat, die den Zustrom illegaler Migranten (wörtlich: Schmuggelmigranten) fördert, die Quoten sogar für die von uns erzeugten Agrarprodukte verfügt, und die uns verwehrt, unsere Bindungen zum Russland unserer Glaubensbrüder zu verstärken (gemeint ist die gemeinsame orthodoxe Religion).
Die unmittelbare politische Folge des BREXIT ist ein gewaltiges Anwachsen der patriotischen und nationalistischen Kräfte in Europa, unter Führung der Bewegung Chrysi Avgi, die in einem verratenen Griechenland -  in einen Griechenland, dessen Reichtum ausländischen Zinswucherer überlassen wird -, die einzige Kraft des Widerstands ist, die einzige Kraft, die für die nationale Unabhängigkeit kämpft.

2. Der Vorsitzende der Linkspartei „Volkseinheit“ (Laiki Enotita) gab vor dem Parteikongress der LAE am 25. Juni folgende Erklärung ab (12):

Der Brexit war die größte politische Bombe für Europa und die Welt in der Epoche seit dem Ende des Kalten Kriegs.
Schon am Vortag des britischen Referendums habe ich den Brexit vorausgesehen – als massenhafte Reaktion des britischen Volkes gegenüber einer totalitären EU, aber auch als Reaktion auf den Terror der Massenmedien, den die Zentren der „Globalisierung“ in der Brexit-Frage ausgeübt haben.
Aber diese (meine) Äußerungen wurden totgeschwiegen – inmitten des allgemeinen, geradezu terroristischen Getöses zugunsten eines britischen Remain.
Nach diesem politischen Erdbeben der Brexit-Entscheidung kann Europa, kann die Welt nicht dieselbe bleiben. Eine neue Seite ist aufgeschlagen, ein neuer Anlauf  zur Zerstörung der Eurozone und der EU hat begonnen und ist nicht mehr rückgängig zu machen.
Die Eurozone wie  die EU sind  weder zu verbessern noch im positiven Sinne zu reformieren, sie können nur radikal beseitigt werden. Das große Thema und die Herausforderung besteht heute darin, den Sturz (anatropi) der Eurozone und der EU unter Beteiligung der Linken herbeizuführen und eine neue, zutiefst fortschrittliche, demokratische Orientierung zu begründen.
Selbst heute noch versuchen die herrschenden Kreise des europäischen Establishments und der „Globalisierung“, auf die Folgen des zu verweisen - nachdem sie diesen schon nicht verhindert konnten -, um die Leute zu verängstigen und zu terrorisieren.
Aber auch dieser neue Terror wird keinen Erfolg haben. Die politische Elite, die ökonomische Elite und die Elite der Massenmedien haben – zusammen mit ihren Demoskopen – jede Glaubwürdigkeit verloren, das Räderwerk ihrer Propaganda greift nicht mehr, und die Völker lassen sich von ihrer „Gehirnwäsche“ nicht mehr beeinflussen. Diese Eliten werden sehr schnell auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.
Nach dem Brexit gebietet die Notwendigkeit noch dringlicher den sofortigen Austritts unseres Landes aus der Eurozone, das heißt einen Kollisionskurs mit der EU, um deren neoliberale Fesseln abzuwerfen. Der notwendige Austritt aus der Eurozone ist zu vollziehen auf der Basis eines radikalen Programms gegen die Spardiktate und die Austeritätspolitik und für den Wiederaufbau des Landes.
In dieser Stunde wird die nationale Währung (sprich Drachme) im Verein mit der Infragestellung der neoliberalen deutschen EU zur Bedingung für das Abschütteln der Besatzungsmacht und die Rückgewinnung unserer nationalen Unabhängigkeit; die Bedingung für die Beendigung der Memorandums-Diktatur und die Errichtung eines neuen demokratischen Griechenland; und auch die Bedingung für die Umsetzung eines radikalen Programms des Wiederaufbaus, der Neubegründung und der produktiven Transformation, für die Stützung und Förderung der Löhne und der Renten und für den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
Es ist geradezu tragisch, dass das Land in diesen entscheidenden Stunden als Ministerpräsidenten einen „archikolotoumba“ hat (wörtlich: „Meister im Purzelbaum schlagen“), der das „ochi“ des griechischen Volks in ein unterwürfiges und erniedrigendes „NAI“ (Ja) verwandelt hat – im Gegensatz zum britischen „OCHI“, das ein „OCHI“ bleibt.
Es ist eine Schande für unser Land, dass es einen „am Euro klebenden“ Ministerpräsidenten hat und eine Regierung aus unterwürfigen Euro-Sklaven, die selbst noch in dieser Stunde die Memoranden anbeten, den Brüsselern in den Hintern kriechen und eine neue Front gegen die „Euroskeptiker“ errichten – statt von einer subversiven Position aus die deutsche neoliberale und die absolutistische europäische Ordnung in Zweifel zu ziehen. Das Land braucht dringend einen großen demokratischen Aufstand gegen die Memoranden, um den Augiasstall auszumisten  und mit dem Kot zugleich den Gestank der Unterwerfung zu beseitigen. Erforderlich ist dazu eine breite Front aller linken, progressiven, patriotischen und demokratischen Kräfte, die diese Rebellion in die Hand nehmen.

Ich habe die Positionen der Grexit-Befürworter ausführlich zitiert, um Sprache und Weltsicht der beiden unterschiedlichen Gruppen zu dokumentieren, aber auch den Realitätsgehalt ihrer „Analysen“ und Strategien.

Dass die griechischen Rechtsextremisten nur Schlagwörter zu bieten haben, ist nicht verwunderlich. Erstaunlicher ist, dass die linke LAE nur nebelhafte Aussagen über die möglichen Bündnispartner macht, mit denen sie das Ziel einer Liquidierung der EU erreichen will. Man würde schon gerne genauer wissen, wo sie die „progressiven, patriotischen und demokratischen Kräfte“ sieht, die sie auf europäischer und griechischer Ebene zur Rebellion mobilisieren will.

Noch erstaunlicher ist, dass die LAE immer noch so tut, als hätte das „Ochi“ von 63 Prozent der Wähler beim Referendum vom Juli 2015 die Zustimmung zu einem Grexit bedeutet (ein Mythos, den auch viele linke Grexit-Fürsprecher außerhalb Griechenlands verbreiten). Der größte Teil dieser Ochi-Wähler wird sich von den Parolen der LAE kaum überzeugen lassen. Zumal dann nicht, wenn sie sich daran erinnern, wie der LAE-Vorsitzende Lafazanis den Grexit bewerkstelligen wollte, als er noch Energieminister in der ersten Regierung Tsipras war.(13)

Keine Sponsoren für die Drachmen-Lösung

Damals wollte sich Lafazanis die Kredite in harter Währung, die den Geldbedarf beim Übergang zu einer weichen Drachme decken sollten, vor allem in Moskau besorgen. Aber die Erdgasleitung über die Türkei nach Griechenland, für die Putin angeblich 5 Milliarden Euro vorschießen wollte, kam nie zustande, weil sich die Türkei inzwischen mit Russland überworfen hat. Als weiterer Sponsor der Drachmen-Lösung stand angeblich China bereit, aber in Peking erfuhren die Athener Sendboten, dass für China nur einem Euro-Griechenland als „logistischer Brückenkopf“ in Europa interessant ist. Auch die Hoffnung auf Öllieferungen aus Venezuela, die den drohenden Energieengpass überbrücken und Devisen sparen sollten, hat sich nie realisiert. Und der von dem damaligen Energieminister Lafazanis phantasierte „strategische Partner“ in Caracas, die Regierung Maduro, ist inzwischen bankrott.

Fazit: Ob die Grexit-Frage in einem Jahr wieder auf die europäische Tagesordnung kommt  - wie es im Sommer Herr Schäuble betrieben hat – können wir heute nicht wissen. Sicher ist allerdings, dass es in Griechenland - trotz wachsender Euro-Skepsis - auf keinen Fall zu einem Grexit-Referendum kommen wird.

28. Juni 2016

Anmerkungen

1) Siehe meinen letzten Bericht auf dieser Seite vom 14. Juni: http://monde-diplomatique.de/shop_content.php?coID=100075
2) So die Formulierung von Kostas Kallitsis in der Kathimerini vom 26. Juni 2016.
3) So die Einschätzung von Alexandra Tobra für die griechische Website capital.gr.
4) Die „limit down“-Grenze, bei deren Überschreiten der Handel ausgesetzt wird, liegt bei 30 Prozent; die von der Eurobank knapp verfehlt wurde; die drei anderen großen Banken erlitten folgende Verluste: Ethniki 29,4, Piräus-Bank 29,6, Alpha Bank 29,7 Prozent.
5) Kathimerini, engl. Ausgabe vom 5. Juni 2016.
6) In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat sich diese Zahl erneut um 9 Prozent erhöht, Angaben nach Kathimerini vom 23. und 24. Juni 2016.
7) IWF-Gutachten zitiert nach Kathimerini (engl. Ausgabe) vom 22. Juni 2016
8) Die Entwicklung der Anleihenkurse sind täglich abzulesen bei: www.bloomberg.com/quote/GGGB10YR:IND
9) So die Befürchtung im Leitartikel der Ta Nea vom 25. Juni 2016.
10) Umfragezahlen bei: www.publicissue.gr/13056/varometro-may-2016-eu/
11) www.xryshaygh.com/deltiatypou/view/dhlwsh
12) http://laiki-enotita.gr/?p=5380
13) Siehe dazu: www.nachdenkseiten.de/?p=26946.