Vom Scheitern der Mitte
Ein Blick auf die französische und internationale Politik von Serge Halimi
Mehr als vier Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings und den weltweiten Protesten gegen die zunehmende Ungleichheit – von den „Empörten“ bis zur Occupy-Wall-Street-Bewegung – hat der Elan zur Veränderung der Gesellschaft und der Welt ersichtlich nachgelassen. Angesichts ausbleibender Erfolge und mangelnder Klarheit über die Ziele fragen sich viele enttäuscht: „War das alles?“
Alles fließt. Alte Parteien lösen sich auf oder geben sich andere Namen. Die Entstehung neuer überraschender Allianzen bringt die gewohnten politischen Kategorien ins Wanken. Russland prangert die „Faschisten in Kiew“ an und spielt zugleich Gastgeber für eine Versammlung rechtsextremer Parteien in Sankt Petersburg. Frankreich bekennt sich pompös zu demokratischen Werten und zum Laizismus und verstärkt zugleich seine Unterstützung der saudischen Monarchie. Und der Front National (FN) gibt sich begeistert über den Wahlsieg einer radikalen, internationalistischen Linkspartei in Athen.
Verstärkt wird diese Verwirrung von den Medien, die sich darin überbieten, Sensationsmeldungen zu produzieren, um Voyeurismus, dumpfes Mitgefühl und Angst zu bedienen. Von der allgemeinen Verunsicherung profitieren die extreme Rechte und der religiöse Fundamentalismus. Beide feindlichen Lager im „Kampf der Kulturen“ propagieren die nostalgische Rückkehr zu einer Welt der Traditionen, des Gehorsams und des Glaubens. Sie verteidigen eine Gesellschaftsordnung, die vom Kult der Identität, des Bodens, des Krieges und des Todes durchdrungen und versteinert ist.
Gelegentliche Versuche, dem schlimmsten Elend zu entkommen, werden wie im Fall Griechenland durch massive Feindseligkeit und Verbote vereitelt. Und da es um Macht und Interessen geht, ist die Auseinandersetzung notwendigerweise ungleich. Um aus der Sackgasse herauszukommen, braucht man ein klares Bild von den sozialen Kräften, die es zu mobilisieren gilt, von den möglichen Verbündeten und von den wichtigsten Zielen, auf die man hinarbeiten muss. Doch für die wichtigsten Leitbegriffe, an denen sich die emanzipatorischen Kämpfe früher orientieren konnten – rechts und links, Imperialismus und progressive Bewegungen, Rasse und Volk – gilt heute offenbar die Beobachtung von Jean Paulhan: „Alles ist gesagt. Zweifellos. Wenn nicht die Worte den Sinn geändert hätten, und der Sinn die Worte.“1
Solche Sinnverschiebung zeigt sich auf einzigartige Weise in Frankreich. Seit der Front National (FN) zu einer der wichtigsten Parteien des Landes geworden ist, wurde der Begriff „Tripartismus“ zu neuem Leben erweckt. Das Wort bezog sich ursprünglich (1944–1947) allerdings auf eine Koalition von zwei marxistischen Parteien und einer dritten Partei der linken Mitte.2
Die aktuelle Dreierkonstellation hat eine Art Fusionskonkurrenz ausgelöst: Jede der drei Parteien, PS (Parti Socialiste), UMP (Union pour un Mouvement Populaire) und FN (Front National), behauptet, die beiden anderen hätten sich zumindest stillschweigend gegen sie verbündet. Der Front National spricht von „UMPS“, Nicolas Sarkozy kontert mit „FNPS“, viele Politiker der Linken sehen dagegen eine „UMPFN“ am Werk.
Der Begriffsnebel scheint undurchdringlich, weil alle drei behaupteten Kombinationen nicht aus der Luft gegriffen sind. „Wirtschaftlich betreibt François Hollande die gleiche Politik wie Nicolas Sarkozy“, räumt zum Beispiel der ehemalige sozialistische Industrieminister Arnaud Montebourg ein, der seit seinem Ausscheiden aus der Regierung im August 2014 deutlich an politischem Scharfsinn gewonnen hat. Die UMP und die PS tun so, als seien sie innenpolitische Gegner, aber keine von beiden stellt die alles entscheidenden wirtschaftlichen und finanziellen Zielvorgaben der EU infrage.
Könnte also eine Große Koalition der Gemäßigten wie in Deutschland oder Italien nicht endlich Klarheit schaffen? Das Modell hat Alain Juppé, ein Politiker der französischen Rechten, in die Diskussion gebracht: „Vielleicht muss man eines Tages daran denken, … die vernünftigen Leute in einer Regierung zusammenzubringen, und die Extreme aus dem Spiel zu nehmen, die einfach nichts verstanden haben.“4 Juppés zentristischer Verbündeter François Bayrou meinte ganz in diesem Sinne, er sehe zwischen „den Gemäßigten und den Reformern“ beider Lager keine großen Unterschiede.5
Es wurde tatsächlich schon mal alles gesagt. Bereits 1989 klagte Jean-Claude Cambadélis, der inzwischen Vorsitzender der Sozialistischen Partei ist: „Allmählich macht sich der Gedanke breit, dass wir, eingeklemmt zwischen wirtschaftlichen Zwängen und sozialem Desinteresse, das verlorene Terrain nicht mehr zurückerobern können. Man muss auf dem Gebiet des Gegners jagen, und weil das etwas Abstoßendes hat, handeln alle nach dem Motto: Rette sich, wer kann.“6
25 Jahre später sind die wirtschaftlichen Verhältnisse sehr viel schlechter als damals (die Wachstumsraten lagen damals bei 4 Prozent); und erneut rechtfertigen die regierenden Sozialisten ihre neoliberale Wende und die gähnende Inhaltsleere ihres politischen Programms mit dem Hinweis auf einen angeblichen Rechtsruck der französischen Gesellschaft. Im Oktober 2014 klagte derselbe Jean-Claude Cambadélis erneut: „Alle klassischen reaktionären Themen haben Oberwasser: Freiheit für alle echten Franzosen – und nicht für die mit Migrationshintergrund. Das ist ungeheuer schlimm.“7 Und zugleich ein erschütterndes Eingeständnis des Scheiterns.
Frankreichs Gesellschaft ist nicht rechts, sondern ratlos
Was Wunder? Die Politik der „Gemäßigten“ wirkt wie ein Blitzableiter, der den reaktionären Blitz umso stärker anzieht, als diese Politik jahrzehntelang versagt hat. Wobei sie dem Land keine andere Perspektive zu bieten hat als die Aussicht auf neue Belastungen, für die es mit 0,5 Prozent zusätzlichem Wachstum entschädigt wird.
Jim Naureckas, der eine progressive Zeitschrift in den USA herausgibt, konstatiert für sein Land ähnliche Auflösungserscheinungen im Zuge des Aufstiegs der Tea Party: „Die Ideologie der Mitte funktioniert nur dann, wenn die Menschen den Eindruck haben, dass die Gesamtsituation in Ordnung ist und nur kleinere Veränderungen nötig sind. Wenn sie dagegen glauben, dass große Veränderungen nötig sind, dann ist die Mitte nicht ‚pragmatisch‘, sondern zum Scheitern verurteilt.“8
Vom Scheitern der Mitte profitiert allerdings nicht immer die gemäßigte Linke. Das lässt sich derzeit in Griechenland beobachten: Der Wähleranteil der sozialliberalen Pasok stürzte binnen fünf Jahren (Oktober 2009 bis Januar 2015) von 43,9 auf 4,7 Prozent ab; für Syriza stieg der Rückhalt im selben Zeitraum von 4,6 auf 36,3 Prozent.
In eine ähnliche Richtung, wenn auch weniger krass, geht die Wählerbewegung in Spanien. Andere sozialdemokratischen Parteien halten sich besser. In Italien hat Matteo Renzi von der allgemeinen Konfusion profitiert und einen großen Wahlsieg errungen (40,8 Prozent bei der Europawahl im Mai 2014), indem er die Rolle des Rebellen übernahm, der aus dem Herzen des Systems kommt. Dabei will Renzi nicht das System verändern, denn seine Politik beschränkt sich darauf, die Erwartungen der transalpinen Wirtschaft zu bedienen. Er will vielmehr nur den Stil verändern: Er setzt auf jugendliches, lockeres, unprätentiöses Auftreten, eine populäre Rhetorik à la Tony Blair, wobei er die „Privilegien“ der Arbeitnehmer in sicheren Jobs anprangert und sich angeblich für die jungen Leute einsetzt, die zu prekären Arbeitsverhältnissen verdammt sind.
Die herrschenden Eliten sind stets darauf aus, die breite Bevölkerung in Gruppen aufzuspalten – nach nationaler, religiöser und Generationenzugehörigkeit, nach Lebensstil, kulturellen Präferenzen und Wohngebieten. Die öffentlichen Debatten werden mit polarisierenden Themen gefüttert, damit immer neue politische Identitäten entstehen, die die bestehende Gesellschaftsordnung nicht gefährden.
Der Erfolg des FN resultiert aus dieser Verwirrung, die er zugleich verstärkt. Die Rhetorik des FN besteht aus einer Mischung von ethnischem Nationalismus, der mit Parolen wie „Franzosen zuerst“ rechte Wähler anlockt, und sozialen Versprechungen, wie sie normalerweise die Linke macht.
Die ehemalige grüne Ministerin Cécile Duflot behauptet, bei den Themen Identität, Islam und Immigration, die in der öffentlichen Debatte dominieren, „passt zwischen Nicolas Sarkozy und Marine Le Pen kein Blatt Papier“.9 Sarkozy selbst weist das zurück und betont einen wichtigen Punk, der dieser Analyse widerspreche: „Wenn man Madame Le Pen als rechtsextrem bezeichnet wird, ist das eine Lüge. Ihr ökonomisches Programm ist extrem links.“ Bei Themen wie Mindestlohn und Rente schlage Le Pen exakt dieselben Maßnahmen vor wie Jean-Luc Mélenchon, der Chef der Linkspartei (Parti de Gauche).10 Sarkozy sieht aber auch ein objektives Bündnis zwischen Le Pen und den Sozialisten: „Wer im ersten Wahlgang für den FN stimmt, sorgt dafür, dass im zweiten Wahlgang die Linke gewinnt. Das ist die FNPS.“11
Was genau wollen nun aber die FN-Wähler, die von so vielen Seiten beäugt werden? Sie stammen häufig aus der Mitte der Gesellschaft; fast zwei Drittel von ihnen sind für die Rückkehr zum Franc; nur 29 Prozent von ihnen sind für die Abschaffung der solidarischen Vermögenssteuer (gegenüber 52 Prozent der UMP-Wähler); 84 Prozent sind für die Rückkehr zur Rente mit sechzig (dagegen nur 49 Prozent der UMP-Wähler). Einig sind sich die Wähler beider Parteien darin, dass die Zahl der Immigranten drastisch verringert und das Kopftuch aus der Universität verbannt werden müsse.12
Kann man also sagen, dass die französische Gesellschaft nach rechts gerückt ist? Treffender könnte man sie als „ratlos“ bezeichnen – angesichts der Tatsache, dass die Anhänger der Linken nicht zur Wahl gehen wollen, weil sie sich von einer rechten Politik verraten fühlen. Und dass jeder zweite FN-Anhänger dafür ist, das kapitalistische System „von Grund auf zu reformieren“ und „für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, indem man den Reichen etwas wegnimmt und es den Armen gibt“.13 Die Geschichte kennt viele Beispiele, wie berechtigtes Aufbegehren mangels angemessener politischer Alternativen in die Irre geleitet werden kann.
Auch der Blick auf die internationale Politik gibt uns nicht viel Aufschluss über das Weltgeschehen. Vor allem dann nicht, wenn man immer noch glaubt, auf dieser Ebene seien die großen Leitideen maßgeblich, also Demokratie, Solidarität, Menschenrechte, Antiimperialismus und so weiter. In Wahrheit sind heute mehr denn je die Interessen der Staaten entscheidend. Aber selbst zur Zeit des Kalten Kriegs trug zum Beispiel das sozialistische Polen durch Kohlelieferungen an Spanien dazu bei, dass die rechtsextremistische Franco-Diktatur den Streik der Bergarbeiter in Asturien brechen konnte. Und das China Mao Tse-tungs pflegte exzellente Beziehungen zu allen möglichen Diktatorenfreunden der USA. Umgekehrt war es in Afghanistan: Hier wurden die Dschihadisten nach der Besetzung durch die Sowjetunion von Washington mit Waffenlieferungen und Geld unterstützt.
Ist die Welt heute besonders verwirrend, weil die USA im Irak den Iran stärken, ihn im Jemen bekämpfen und in der Schweiz mit ihm verhandeln? (Siehe den Artikel auf Seite 10) Oder weil die sozialistische Republik Vietnam auf die Hilfe der US-Flotte setzt, um die hegemonialen Gelüste der Volksrepublik China im Zaum zu halten? Tatsächlich haben die Staaten fast zu allen Zeiten versucht, sich durch Rückversicherungsallianzen aus der Umklammerung eines allzu mächtigen Beschützers zu befreien oder einen Gegner von einem Angriff abzuhalten.
Es wäre also reine moralische Heuchelei, wenn man mit Hinweis auf die nicht unbedingt fortschrittliche Politik Russlands oder Chinas dem griechischen Regierungschef vorwerfen würde, dass er in Moskau und Peking sondiert, wie die finanziellen Daumenschrauben der EU zu lockern wären. Damit würde man alle Staaten zur Ohnmacht verdammen, die es sich nicht leisten können, ihr Wohl von der Solidarität einer politischen Weltgemeinschaft abhängig zu machen, die gegenwärtig nicht besonders handlungsfähig erscheint.
Jahrzehntelang haben die linken Aktivisten diejenigen Staaten, die gegen den westlichen Imperialismus kämpften, mit größter Nachsicht beurteilt. Zumal auch die Gesellschaftsordnung dieser aufsässigen Staaten den USA nicht passte und den Interessen der multinationalen Konzerne entgegenstand. Eine solche Konstellation ist heute jedoch – sieht man von einigen lateinamerikanischen Staaten ab – äußerst selten geworden, weil kaum noch eine Weltregion dem Zugriff des Kapitalismus entzogen ist.
Deshalb ist es besser, auf zwei Beinen zu laufen, wobei man allerdings einen Fuß nach dem anderen aufsetzen muss. Will sagen: Man muss den Widerstand gegen die westliche Hegemonie unterstützen, wenn dies neue internationale Bündnisse ermöglicht und neue Optionen für die Dissidentenstaaten eröffnet. Aber zugleich muss klar sein, dass die Unterstützung für Staaten, die von großen Mächten bedrängt werde, keineswegs dazu verpflichtet, auch die anderen politischen und sozialen Entscheidungen dieser Staaten zu unterstützen oder zu entschuldigen. Die Zeit der automatischen Solidarität und prinzipiellen Opposition ist vorbei. Diese bequeme Haltung hat sich überlebt.
„Ihr wollt keine Klassen mehr und auch keinen Klassenkampf? Dann werdet ihr Plebejer und anonyme Massen bekommen. Ihr wollt keine Völker mehr? Dann werdet ihr Horden und Stämme bekommen“, hat der marxistische Philosoph Daniel Bensaïd schon vor der großen Finanzkrise gewarnt.14
In den Ländern, in denen die Politik mit ihren Ritualen und Mysterien lange eine Art weltliche Religion darstellt, wird die Erosion der politischen Sphäre – die sich in Wahlmüdigkeit, Marketing und PR-Techniken, Korruption und dem „Drehtüreneffekt“ zwischen Politik und Wirtschaft zeigt – zum Ergebnis haben, dass sich die Gefühle und Leidenschaften andere Ziele suchen. Also zum Beispiel die Religion und eine ethnische Vision der Nation stärken, die eines gemeinsam haben: Sie bieten eine ziemlich schlichte Welterklärung mittels eines ideologischen Rasters, der ohne Weiteres alle sechs Monate umgemodelt werden kann.
Wenn aber die religiöse oder kulturelle Zugehörigkeit die Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft bestimmt, die keinen anderen Orientierungspunkt mehr besitzt, werden politische Allianzen und soziale Integrationsprozesse – als Voraussetzung eines radikalen Wandels – schwierig oder gar unmöglich.
Am Ende könnten die reaktionärsten Teile der Gesellschaft die Oberhand behalten: eine westliche Rechte, die im Namen der christlichen Werte des Alten Kontinents – oder einer Laizität, die sie fast immer verurteilt hat – einen Kulturkrieg gegen eine islamische Minderheit führt; und muslimische Fundamentalisten, die die Nachwirkungen des Kolonialismus verdrängen und gleichzeitig das progressive Erbe aus dem Zeitalter der Aufklärung verdammen. Wie eine solche Konfrontation in Europa ausgehen wird, steht außer Frage. Und man muss ein verwirrter Geist wie Michel Houellebecq sein, um am Ende einen Sieg der Islamisten vorauszusehen.
Liegt es also an der selbstmörderischen Verzweiflung eines Teils der radikalen Linken oder an der sozialen und politischen Isolierung ihrer akademischen Randgruppen, wenn diese Kreise auf einmal Bruchstücke dieses identitären Diskurses aufgreifen? In einem Interview hat Houria Bouteldja, Sprecherin der Parti des Indigènes de la République (PIR), mit Blick auf gemischte Ehen angeregt, das Problem durch Konversion zu regeln. Aus ihrer „dekolonialen Perspektive“ plädiert sie dafür, „dass wir zuerst uns selbst lieben und akzeptieren müssen, dass der Muslim eine Muslimin heiraten soll und der Schwarze eine Schwarze. Ich weiß, dass das als Rückschritt erscheint, aber ich versichere Ihnen, dass es nicht so ist, es ist vielmehr ein Riesenschritt.“ Das stimmt – ein Riesenschritt in Richtung dauerhafter Aufspaltung in Bevölkerungsgruppen, eines rassischen und religiösen Separatismus und eines „Kampfs der Kulturen“.15
Auf die Frage des Figaro, „was man einem jungen Menschen von 20 Jahren sagen soll“, meinte der Essayist Michel Onfray: „Das Boot geht unter. Bewahrt Haltung, sterbt aufrecht.“ Es gibt allerdings andere, weniger zynische und weniger resignierte Optionen. Zum Beispiel den Kampf für die untrennbar miteinander verbundenen Ziele der wirtschaftlichen Demokratie und der politischen Souveränität. Dessen Ausgang erscheint heute sehr ungewiss, weil wir durch so viele Themen abgelenkt werden, die jenseits unseres Einflusses liegen. Aber das Schicksal Griechenlands verweist uns erneut auf den Kampf für diese beiden Ziele.
Beim Kampf für wirtschaftliche Demokratie geht es vor allem darum, das Erpressungspotenzial des Kapitals gegenüber der Gesellschaft zuerst einzudämmen und dann zu brechen. Das ist seit jeher ein klassisches Projekt der Linken, obwohl nach der Befreiung 1945 auch eine Partei der Mitte wie das Mouvement républicain populaire (MRP) gegen einen Kapitalismus war, „der die wirtschaftliche Entscheidungsgewalt allein den Eigentümern des Kapitals vorbehält und die menschlichen Beziehungen nach dem Grundsatz der Überlegenheit des Kapitals ordnet“.16
Bei dem Kampf um politische Souveränität geht es um das kostbare Gut, das die Europäische Union im Fall Griechenland abzuschaffen gewillt ist. Noch vor Kurzem freute sich Nicolas Sarkozy, dass Alexis Tsipras gleich nach seinem Regierungsantritt „von seinen Wahlversprechen abgerückt“ sei und „klein beigegeben“ habe.17 Mit ähnlichem Feingefühl äußern sich Beamte aus der Eurozone, die sich nur anonym zitieren lassen. „Diese Regierung kann nicht überleben“, erklärte einer gegenüber der Financial Times.18 Andere fordern, Tsipras müsse seinen Koalitionspartner und seine Politik wechseln, um sein Land vor dem finanziellen Erstickungstod zu retten.
Doch die Wahl der Regierung ist immer noch die souveräne Entscheidung des griechischen Volks. Wer sich angesichts einer Welt mit unklaren Bezugspunkten ohnmächtig fühlt, findet hier einen einfachen, gerechten, universellen und brüderlichen Kampf, der geführt werden muss. Und der schon deshalb nicht von vornherein verloren ist, weil jeder versteht, dass er fast alle anderen Kämpfe einschließt.