Einmal Harki, immer Harki
Die Algerier, die im Unabhängigkeitskrieg auf der Seite Frankreichs standen, sind bis heute heimatlos im eigenen Land von Pierre Daum
Wir verlassen Tlemcen, eine Stadt im äußersten Nordwesten Algeriens, und fahren Richtung Süden. Die Straße steigt schnell an und windet sich in Serpentinen in die Höhe. Ringsherum erhebt sich eine beeindruckende Berglandschaft. Ab und zu kommen wir durch ein Dorf, das sich eng an den Felsen schmiegt. Die Familien leben von einem Stück Land und einigen Tieren; in einem halben Jahrhundert hat sich hier kaum etwas geändert. Die einzigen modernen Dinge in dieser trockenen Landschaft des Dschebel sind Mobiltelefone, Satellitenschüsseln und neuere Häuser aus Hohlbeton. Endlich erreichen wir Beni Bahdel. Das Dorf liegt etwa 40 Kilometer von Tlemcen entfernt und ist bekannt für seinen großen Staudamm, den noch die Franzosen errichtet haben.
Mit seinen 79 Jahren lebt Abderrahmane Snoussi immer noch von seinen paar Ziegen, die er jeden Morgen zum Weiden auf die Anhöhen treibt. Der alte Mann war zwischen 1959 und 1962 ein Harki – das heißt einer der Algerier, die im Unabhängigkeitskrieg 1954 bis 1962 mit der französischen Kolonialmacht kollaborierten und auf deren Seite kämpften (siehe Spalte). Zum ersten Mal erklärt sich Snoussi bereit, mit einem Journalisten über seine Vergangenheit zu sprechen. „Die Franzosen hatten hier einen sehr wichtigen Armeeposten errichtet, mit mindestens 800 Soldaten. Mein Vater, der im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatte, arbeitete für sie als Übersetzer. Die FLN (Front de Libération Nationale)1 hat ihn 1955 umgebracht, da war ich 19. Vier Jahre später sind die französischen Soldaten zu mir gekommen. Sie nahmen meine Frau und sagten mir, ich solle mit ihnen zusammenarbeiten. Wenn nicht, würden sie meine Frau anfassen. So bin ich ein Harki geworden.“
Unter den Soldaten befand sich auch der Unteroffizier Pierre Couette, ein Wehrpflichtiger aus der Region Paris. In den vielen Briefen, die dieser junge, fromme Katholik an seine Eltern schickte, beschrieb er all die „Erniedrigungen“ und „sinnlosen Unterdrückungen“, unter denen die lokale Bevölkerung zu leiden hatte. Und er beschrieb auch Folterpraktiken wie die „Badewanne“ oder die „Tortur“, mit der der Geheimdienstoffizier der zweiten Dienststelle in Beni Bahdel gefangene Mudschaheddin, deren Frauen und überhaupt alle Personen quälte, die im Verdacht standen, FLN-Kämpfern zu helfen.2 Hat Snoussi diesen Folterungen beigewohnt oder sogar mitgemacht? „Nein, niemals! Ich wurde mit meiner Gruppe auf Razzia geschickt, wir haben Hinterhalte gelegt, solche Sachen. Und wenn wir einen Gefangenen gemacht haben, brachten wir ihn in die zweite Dienststelle. Aber ich bin niemals dageblieben.“
Am Tag des Waffenstillstands, dem 19. März 1962, versammelte der französische Offizier seine Harkis und verkündete: „Wer nach Frankreich gehen will, kann gehen. Und wer hierbleiben will, bleibt hier!“ Snoussi entschied sich zu bleiben. „Meine ganze Familie war hier, meine Mutter, mein Bruder. Ich konnte sie nicht im Stich lassen.“ Sobald die Franzosen abgezogen waren, stiegen die FLN-Kämpfer von den Bergen hinunter. „Sie brachten uns in die Kaserne von Sidi Larbi, 30 Kilometer entfernt, auf der anderen Seite der Berge. Das war eine ehemalige französische Kaserne, die die ALN (Nationale Befreiungsarmee, der bewaffnete Arm der FLN) in Beschlag genommen hatte.“ Dort verbrachte er 15 Tage im April 1962, zusammen mit 400 weiteren Harkis, die aus der ganzen Region kamen. „Danach haben sie uns nach und nach wieder freigelassen, und ich bin ins Dorf zurückgekehrt. In Beni Bahdel waren wir sieben Harkis. Alle leben noch heute hier.“
Snoussi gehört zu der großen Mehrheit der Harkis – mehrere hunderttausend, wenn man den Begriff weit auslegt –, die in Algerien geblieben sind und nicht umgebracht wurden. „Seit 50 Jahren haben wir uns bei dem Thema auf zwei Varianten festgelegt: Die Harkis sind entweder nach Frankreich geflüchtet oder wurden in Algerien niedergemetzelt“, erklärt der Historiker Abderahmen Moumen.
„Ohne die Gewalt und die soziale Ausgrenzung auszublenden, die viele Harkis nach der Unabhängigkeit erleben mussten, verpflichtet uns die historische Realität, eine dritte Möglichkeit in Betracht zu ziehen: in Algerien geblieben und nicht umgebracht worden zu sein.“ Diese Wahrheit wird in Frankreich nur widerwillig akzeptiert, wo die Diskussion über die „Massaker an den Harkis“ von den Nostalgikern des französischen Algerien zur Rechtfertigung alter Positionen („Man hätte Algerien nicht fallen lassen dürfen“) oder aktueller Vorurteile („Alle Araber sind Schlächter und Terroristen“) benutzt wird.
Für einen Harki, der in seinem Dorf monatelang in französischer Uniform herumstolziert ist, war die Rückkehr in seine Nachbarschaft 1962 tatsächlich mit einem hohen Risiko verbunden. Die rund 60 Aussagen von Betroffenen, die wir in ganz Algerien zusammengetragen haben, ergeben ein deutliches Bild: Sobald sich die französische Armee zurückgezogen hatte (teilweise gleich nach der Verkündung des Waffenstillstands, doch meist erst nach dem 5. Juli, dem Tag der algerischen Unabhängigkeit), verhafteten die Mudschaheddin zusammen mit Kämpfern, die sich erst kurz vor Kriegsende der FLN angeschlossen hatten (den marsiens, benannt nach dem Datum des Waffenstillstands), zahlreiche Harkis sowie profranzösische Militärs und Notabeln.
In vielen Dörfern wurden Volkstribunale errichtet und die Bevölkerung wurde aufgefordert, über die Übergriffe zu berichten, die dieser oder jener Gefangene begangen hatte. Die „Rechtsprechung“ fand in Schnellverfahren statt, die mit zahlreichen Hinrichtungen endeten.
„Ende September 1962 lief eine Gruppe aufgebrachter Männer, vor allem marsiens, mit Stöcken und Eisenstangen durchs Dorf, um Harkis zu fangen“, erzählt Hassen Derouiche, ein ehemaliger Harki aus Tifrit, einem Dorf in der Kleinen Kabylei im Nordosten Algeriens. „Sie erwischten sieben, darunter auch ein gewisser Bouzid, und wollten uns kaltmachen. Zum Glück ist ein Typ von der ALN gekommen und hat gesagt: ‚Wozu diese jungen Leute umbringen, die in der Blüte ihrer Jahre stehen? Wir werden sie der Bevölkerung vorführen. Wenn sie etwas Schlechtes getan haben, werden wir sie liquidieren. Aber wenn sie nichts Schlechtes getan haben, warum sie dann umbringen?“
Am nächsten Morgen wurden die sieben vier Stunden lang dem Dorf vorgeführt. „Das waren etwa 100 Leute“, erzählt Derouiche, „einige waren gar nicht gekommen. Sie wollten nicht noch mehr Nachbarn sehen, die vor ihren Augen hingerichtet wurden …“ Nur ein Dorfbewohner meldete sich damals zu Wort: „Ich will von niemandem etwas, außer von Bouzid! Wenn ihr ihn freilasst, bring ich ihn um.“ Der Dorfchef sagte: „Dann lassen wir eine Familie allein weinen. Das geht nicht. Wir übergeben alle dem Staat. Der soll entscheiden!“ Laut Derouiche war es „nur wegen dieses Bouzids, dass wir nicht sofort freigelassen wurden“.
Die sieben Männer wurden im Gefängnis von Akbou inhaftiert. Einen Monat später wurden sie in das Zentralgefängnis von El-Harrach in Algier verlegt. Derouiche war dort fünf Jahre eingesperrt, zusammen mit 500 anderen Gefangenen. „Wir sind normal behandelt worden, nur kam es nie zu einer Verurteilung. Und wir wussten auch nicht, wie lange unsere Haft dauern würde.“ 1966 wurde er zum Straßenbau in der Nähe der Wüstenstadt Ouargla abkommandiert, wo eine extreme Hitze herrscht.3 1969 wurde er schließlich freigelassen und kehrte zurück nach Hause, nach Tifrit.
Wenn sie nicht direkt den „Volkstribunalen“ vorgeführt wurden, mussten viele Harkis scharfe Verhöre über sich ergehen lassen. Die FLN stellte immer die gleichen Fragen: Warum hast du bei den Franzosen mitgemacht? Hast du dich an Zivilisten vergriffen? Hast du Mudschaheddin gefoltert?
Ghani Saroub war 1962 19 Jahre alt. Der Sohn eines Feldhüters aus Baudens (heute Belarbi) im Nordwesten Algeriens diente die letzten sechs Kriegsmonate der französischen Gendarmerie in seinem Dorf als Gehilfe. Um den 10. Juli 1962 herum kam es zu Massenverhaftungen ehemaliger Harkis in der Gegend um Baudens. Der junge Mann wurde mit Waffengewalt verschleppt und auf den Lefort-Hof4 gebracht.
„Wir waren 60 Harkis auf diesem Bauernhof, einige waren bereits vor mir angekommen. Vier Tage lang haben sie uns geschlagen und gefoltert. Sie haben uns mit Wasser und mit Strom gequält, genau so, wie es vorher die Franzosen gemacht haben. Von mir wollten sie unbedingt, dass ich gestehe, den Widerstandskämpfer Untel umgebracht zu haben. Der Mann war von der Gendarmerie festgenommen worden, und ich war tatsächlich dabei gewesen, aber ich habe ihm nie etwas angetan. Es war ein anderer Gendarm, der ihn in den Unterleib geschlagen hat. Er ist an inneren Blutungen gestorben. Aber weil ich es nicht mehr ausgehalten habe, hab ich gesagt, ich hätte ihn getötet. Doch nachdem sie noch andere Leute verhört hatten, wurde ihnen klar, dass das nicht stimmte. Nach vier Tagen haben sie uns alle wieder freigelassen. Niemand ist gestorben.“
Für alle diese ehemaligen Harkis war die schwerste Zeit der Sommer und Herbst des Jahres 1962, als in Algerien ein Machtkampf tobte, bei dem sich die Helden der Unabhängigkeit gegenseitig zerfleischten. Die chaotischen Zustände im Land begünstigten Gewaltausbrüche und Vergeltungsmaßnahmen, die zum Teil gar nichts mit dem gerade zu Ende gegangenen Krieg zu tun hatten.
Am 29. September 1962 bildete Achmed Ben Bella, unterstützt durch Oberst Houari Boumedienne und dessen „Armée des frontières“,5 eine Regierung. Doch Ben Bella brauchte noch mehrere Monate, um eine durchsetzungsfähige Polizei aufzubauen und die Verbrechen im Allgemeinen und gegen die Harkis im Besonderen zu beenden – wenn er sie überhaupt alle verhindern wollte.
Seit 50 Jahren schlägt sich Athmane als Tagelöhner durch
Am 4. Juni erklärte Ben Bella in Oran, wo kurz zuvor mehrere Harkis ermordet worden waren: „Wir haben in Algerien ein neues Kapitel aufgeschlagen. Unter uns leben 130 000 Harkis, und wir haben ihnen vergeben. Die Leute, die sich als Rächer aufspielen, begehen ihre Morde – mit der Entschuldigung, es handele sich um Harkis –, nur um dem Opfer die Armbanduhr zu stehlen. Alle Verbrecher sind festgenommen worden. Die Justiz wird diese kriminellen Akte schonungslos mit dem Tode bestrafen.“6
Danach kam es zwar nicht mehr zu gewaltsamen Übergriffen, aber fast alle Betroffenen berichten, dass sie und ihre Familien seit über einem halben Jahrhundert unter einer mehr oder weniger starken Diskriminierung leiden, der sie sich ohnmächtig ausgeliefert fühlen. So auch Athmane Boudjaja, ein Bauer aus dem Aurès-Gebirge im Nordosten Algeriens, der immer noch in seinem Heimatdorf M’Chounèche lebt. 1957 wurden er und seine Familie mit Hunderten anderen von den Franzosen in einem riesigen Militärlager interniert. Ziel war es, kein einziges Bergdorf bewohnt zu lassen, in dem die Widerstandskämpfer Unterschlupf hätten finden können. Im Lager litten die Leute Hunger, und der junge Athmane begann schließlich als Harki für die Franzosen zu arbeiten, „um meiner Mutter und meinem Bruder ein bisschen Essen zu besorgen“. Sein Vater war bereits vor 1954 gestorben.
Nach Kriegsende traf er seine Mutter in M’Chounèche wieder, bekam ein winziges Stück Land am Rande des Dorfs und versuchte Arbeit zu finden. „Aber damals hat die FLN die Arbeit verteilt! Einen Posten beim Staat hab ich natürlich nie bekommen.“ Seit 50 Jahren lebt er in Armut und schlägt sich als Tagelöhner durch. Immer besteht das Risiko, dass er seinen Lohn nicht bekommt und vom Chef mit den Worten „Dreckiger Harki!“ davongejagt wird. Seine fünf Kinder, vier Mädchen und ein Junge, haben alle keinen festen Job. Die Mädchen besitzen zwar alle einen Abschluss. Aber das reicht nicht, erklärt die 40-jährige Khadidja, die ihren Master in Soziologie gemacht hat: „Um in Algerien Arbeit zu finden, braucht man neben dem Diplom auch noch maarifa, Vitamin B. Und mein Vater hat keinerlei Beziehungen. Außerdem ist er ein ehemaliger Harki. Der Tochter eines Harkis gibt eben keiner Arbeit!“
Am anderen Ende des Landes hat Fatiha Lamri die gleiche Erfahrung gemacht. Sie wurde 1993 in Tabia, hundert Kilometer südlich von Oran im Westen Algeriens geboren. Ihr Vater, der Sergeant in der französischen Armee war, kehrte nach dem Krieg zur Familie seiner Schwiegermutter nach Tabia zurück. Seinen Schwiegervater, der in der Kolonialzeit Gemeinderat gewesen war, hatte die ALN 1958 ermordet. Nach einigen Wochen Zwangsarbeit im Herbst 1962, bei der er Schläge und Schikanen erdulden musste, ging das Leben wieder seinen Gang. Fatihas Vater starb 2012 hochbetagt.
„In der Schule“, erzählt die junge Frau, „hat man mich immer als Tochter eines Harkis gehänselt – ‚bent harki‘! Ich hab furchtbar darunter gelitten. Auf der Oberschule hatte ich einige Freundinnen, richtige Freundinnen. Sie wussten, dass mein Vater ein Harki gewesen war. Aber das waren enge Freundinnen, mit denen es keine Probleme gab. Die anderen haben mich weiter als Harkimädchen beleidigt. Ich hielt das nicht aus, ich wurde aggressiv.“ In ihrer Klasse gab es drei Harkikinder. Keines davon bekam die 3 000 Dinar (etwa 30 Euro) Beihilfe im Monat, die normalerweise allen Oberschülern in Algerien zusteht. „In meiner Klasse bekamen alle diese Beihilfe, selbst die Reichen. Alle außer uns!“
Dabei gibt es in Algerien kein Gesetz, das den ehemaligen Harkis oder ihren Kindern staatliche Beihilfen verwehren würde. Das Wort „Harki“ taucht in keinem algerischen Gesetz auf. Dieses Schweigen, das wie eine Errungenschaft erscheinen könnte (als hätte man den Harkis „verziehen“), erweist sich als schwerwiegendes Problem. Denn es erlaubt jedem kleinen Beamten mit irgendwelchen Machtbefugnissen, seine eigenen, oft diskriminierenden Regeln gegenüber all jenen anzuwenden, die er selbst für „Verräter“ hält – ohne dass sich die Betroffenen zur Wehr setzen und auf ein Gesetz verweisen könnten, in dem klar geregelt wäre, wer ein Harki ist und wer nicht oder worauf er als Harki Anspruch hat.
In Algerien, wo sehr viele Menschen auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, muss man oft zum Rathaus, um Bescheinigungen, Sozialleistungen oder eine Krankenversicherung zu beantragen oder ein Praktikum für die Kinder zu organisieren. Weil in den Städten und Dörfern jeder weiß, wer was während der Revolution gemacht hat, laufen die Harkis und ihre Kinder ständig Gefahr, von den Behörden eine Abfuhr zu bekommen.
In den algerischen Gesetzbüchern gibt es eine einzige Anspielung auf die Harkis, und zwar im Gesetz vom 5. April 1999 „bezüglich der Mudschaheddin und der Schahid [Märtyrer]“. In Artikel 68 heißt es: „Gemäß dem geltenden Recht verlieren Personen, deren Positionen während der Revolution zur nationalen Befreiung gegen die Interessen des Vaterlands verstießen und deren Verhalten würdelos war, ihre zivilen und politischen Rechte.“7 Bis heute gibt es jedoch keine Durchführungsverordnung, die eine Umsetzung dieses sehr allgemein formulierten Gesetztes ermöglichen würde. Insofern hat es nur auf dem Papier Gültigkeit. Doch es hat auf diffuse Weise zur Legitimation des Verhaltens der kleinen Beamten beigetragen, wenn diese willkürlich Harkis und ihre Kinder abstrafen, sobald sie in ihrer Behörde vorstellig werden.
Ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit ist die Harki-Frage in Algerien immer noch ein großes Tabu. „Das Regime besitzt keine demokratische Legitimation“, erklärt die Historikerin Sylvie Thénault. „Es bezieht seine Legitimation aus der Instrumentalisierung der Heldengeschichten des Befreiungskriegs, mitsamt einer Überhöhung der Mudschaheddin und des Mythos vom unter dem FLN-Banner vereinten Volk. In diesen Erzählungen kommen natürlich – was historisch falsch ist – nur sehr wenige Harkis vor, und zwar immer in der Rolle der Verräter.“
Lydia Aït Saadi-Bouras hat eine Doktorarbeit darüber geschrieben, wie algerische Schulbücher die Geschichte des Befreiungskriegs behandeln. Sie hat festgestellt, dass die Harkis dort systematisch als diejenigen beschrieben werden, die „für die französische Armee die Drecksarbeit gegenüber den Zivilisten erledigt haben“, und zitiert aus einem Schulbuch für die 9. Klasse: Die Harkis „umzingelten die Dörfer und brannten sie nieder, sie stahlen das Eigentum der Bewohner, nachdem sie diese gefoltert und ermordet hatten. Sie haben Junge wie Alte in Militärlager verschleppt und sie unter den Augen der französischen Offiziere gefoltert.“8
Auf den Schulhöfen sind Ausdrücke wie „Hark!“, „Ya Harki“ und „Ould Harki“ (Sohn eines Harkis) geläufige Schimpfwörter, wobei den Jugendlichen der Zusammenhang mit dem Krieg oft nicht präsent ist. Die Erwachsenen hingegen benutzen den Begriff bewusst, um Beamte oder Regierungsvertreter zu schmähen, die ihren Einfluss für eigene Zwecke missbrauchen oder angeblich den „Interessen des Auslands“ dienen.
Vor zwei Jahren hat der Parteivorsitzende des Rassemblement pour la culture et la démocratie (RCD), Saïd Sadi, den Bürgermeister von Tazmalt, Smaïl Mira, angezeigt, weil dieser in einer Fernsehsendung unterstellt hatte, der Vater Sadis sei ein Harki gewesen.9 Der Karriere eines algerischen Journalisten hilft es nicht gerade, wenn er die alten Harkis aufsucht, um ihre Geschichten aufzuschreiben. Und in der Uni würde es kein Student wagen, dieses Thema für eine Abschlussarbeit zu wählen.
Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass es die Kinder von Harkis noch mehr als ihre Altersgenossen ins Ausland zieht. Im Dorf Tazmalt in der Kleinen Kabylei lebt der 80-jährige Smaïl Badji mit seinen Söhnen Djamel und Zahir. Er war zwischen 1956 und 1962 Harki. Seit 2004 haben die beiden Brüder immer wieder beim französischen Konsulat in Algier versucht, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Sie hoffen darauf, dass sie als Söhne eines Harkis bevorzugt behandelt werden. „In Frankreich gilt doch das Geburtsortprinzip“, sagt Djamel. „Ich bin 1960 auf französischem Boden geboren! Warum habe ich keinen Anspruch auf die französische Staatsangehörigkeit?10 Außerdem sind wir die Söhne eines Veteranen, der für die Franzosen gekämpft hat, sogar die Enkel eines Veteranen. Unser Großvater ist von der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet worden! Das hat uns überhaupt nichts eingebracht, weder von der algerischen noch von der französischen Seite. Für uns sind alle Türen verschlossen, in Frankreich und in Algerien!“
Bitterer Lohn
Ursprünglich bezeichnete das Wort „Harki“ (vom Arabischen „haraka“: „Bewegung“) lediglich die Mitglieder einer der fünf Kategorien von Aushilfskräften der französischen Armee, die sich während des Algerienkriegs aus der „muslimischen“ Bevölkerung rekrutierten. Die vier anderen Kategorien waren die „mokhaznis“, Mitglieder der Mobilen Sicherheitsgruppen (Groupes mobiles de sécurité, GMS), die Selbstverteidigungsgruppen und die „aâssès“ („Wächter“).
Im Laufe des algerischen Unabhängigkeitskriegs (1954–1962) wurden nach und nach alle Mitglieder der fünf Kategorien als Harkis bezeichnet, da deren Funktion und Status sehr ähnlich waren. Sie trugen zwar Uniformen und Waffen und nahmen teilweise auch an Bodenoperationen teil, aber allen war gemein, dass sie nicht als französische Militärs galten, von einem auf den anderen Tag entlassen werden konnten und ein vergleichsweise gutes Gehalt von monatlich 25 000 Franc bekamen (ein algerischer Landarbeiter auf der Farm eines französischen Kolonialisten verdiente etwa 3 000).
Während des Kriegs dienten Algerier den Franzosen als Aushilfskräfte (insgesamt etwa 250 000), Wehrpflichtige (die Hälfte der jungen Algerier, etwa 120 000, folgten der Einberufung in die französische Armee) und Offiziere (50 000). Wenn man die 30 000 Zivilisten hinzurechnet, die offen Partei für Frankreich ergriffen (Abgeordnete, Bürgermeister, Polizisten, Beamte und so weiter), liegt die Zahl der erwachsenen männlichen Algerier, die während des Kriegs für die Franzosen „arbeiteten“ und nach der Unabhängigkeit dafür Rechenschaft ablegen mussten, bei etwa 450 000. Das gegnerische Lager der FLN zählte ähnlich viele Anhänger, aktive Kämpfer und Unterstützer.
Im Sommer und Herbst 1962 wurden sowohl Aushilfskräfte als auch Wehrpflichtige, Militärs und Zivilisten ermordet. Im heutigen Algerien bezeichnet der sehr beleidigende Begriff „Harki“ unterschiedslos alle Personen, die während der Revolution für die Franzosen „gearbeitet“ haben. Die Gesamtzahl der ermordeten Harkis bleibt die große Unbekannte in der Bilanz dieses Kriegs. Der Historiker François-Xavier Hautreux, dessen Arbeiten die neuesten zum Thema sind, meint, man müsse akzeptieren, dass sich die Zahlen nicht genau bestimmen lassen, und könne nur von „Massakern an mehreren tausend Algeriern“ sprechen.1
Die Zahl der Harkis, die nach Frankreich emigrierten, ist indes bekannt: Es waren 25 000. Der Historiker Gilles Manceron zieht folgenden Schluss: „Die große Mehrheit der Männer, die irgendwann im Laufe des Kriegs als Harkis oder Mitglieder anderer Hilfstrupps gedient haben, lebten nach der Unabhängigkeit mit ihren Familien weiter in Algerien. Diese Tatsache, mag sie auch von vielen Missverständnissen und einem großen Schweigen umhüllt sein, ist ein integraler Teil der algerischen Geschichte.“ P. D.