Netzwerken in Nigeria
Das Netz in Nigeria – 170 Millionen Einwohner, 65 Millionen regelmäßige User – wird oft von Shitstorms heimgesucht. Wie etwa an jenem Samstag, den 7. Februar 2015, als die Nachrichtenagentur Reuters meldete, dass die für den 22. Februar geplanten nigerianischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den 28. März verschoben werden sollen. Und das war noch nicht alles. Außerdem ließ die unabhängige nationale Wahlkommission damals verkünden, sie gehe davon aus, dass die Armee nicht in der Lage sein werde, während der Wahlen für Ordnung und Sicherheit zu sorgen. Die Kämpfe gegen die islamistische Terrormiliz Boko Ha-ram im Norden des Landes würden sie viel zu sehr in Beschlag nehmen.1
„Seit dieser Meldung“, erzählt die Sängerin und Aktivistin Aduke Ayobamidele Aladekomo, „bekam ich’s mit der Angst zu tun. Immer öfter geht es in den Nachrichten, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten, um Gewalt.“
Bei den letzten Wahlen vor vier Jahren, erzählt die Tochter eines Zahnarztes und einer Juristin, habe sie sich noch nicht sonderlich für Politik interessiert – obwohl sie Geschichte und Internationale Beziehungen an der staatlichen Universität von Lagos studierte: „Wie die meisten aus meiner Generation, die in den 1990er Jahren am Ende der Diktatur geboren sind, war ich eher unbedarft und still. Ich wollte vor allem vom Wirtschaftsboom profitieren.“
Die Wende kam 2012. Damals erlebte Nigeria die größte Protestwelle seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1960. Auslöser war eine Verdopplung der Benzinpreise, nachdem die Regierung die Subventionen für Kraftstoffe gestrichen hatte.
Anfang Januar 2012 nahm Aduke „Hear the Voice“ auf. Sie widmete dieses Lied allen, „die sich nicht äußern können, den Unsichtbaren, die in erbärmlicher Armut leben“. Adukes Song wurde zur Hymne der jungen Demonstranten, den dazugehörigen Videoclip drehte sie während der Demos.2 Eine Woche lang gingen damals Hunderttausende Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft gemeinsam auf die Straße: Studentinnen, Beamte und Arbeiter, Arbeitslose und Angestellte, Pfingstkirchler und Muslime, Nollywood-Schauspieler3 und Popstars.
Im Jahr 2014 verschärfte sich die Krise, als durch die massive Abwertung der nigerianischen Währung Naira lebensnotwendige Importartikel noch teurer wurden. Heute sind zwei Drittel der jungen Leute arbeitslos4 – in einem Land, wo die Hälfte der 170 Millionen Einwohner zwischen 18 und 35 Jahre alt sind.
Wenn Aduke gerade nicht mit ihrer Band Sticks, Strings and Voices unterwegs ist, sitzt sie in ihrer eigenen kleinen Firma, die T-Shirts produziert. Zuletzt trat sie am 25. Februar im Freedom Park von Lagos bei einem Benefizkonzert für die nigerianische Organisation Enough is Enough (EiE) auf.
EiE wurde 2010 mit dem Ziel gegründet, alle Jugendbewegungen des Landes, die für eine Verbesserung der Lebensbedingungen und gegen Korruption in Nigeria kämpfen, unter einem Dach zu versammeln. Leiterin ist die charismatische Aktivistin und Wirtschaftswissenschaftlerin Yemi Adamolekun, die unter anderem an der London School of Economics und der Oxforder Saïd Business School studiert hat. Ihre Organisation will junge Leute dazu animieren, wählen zu gehen, und nutzt dafür gezielt soziale Netzwerke – 2014 waren 11 Millionen Nigerianer auf Facebook aktiv und fast 6 Millionen auf Twitter.5 Enough is Enough bekommt viel Unterstützung aus dem Ausland, insbesondere durch die Open Society Foundation des US-amerikanischen Milliardärs George Soros.
Nachdem der damalige Präsident Goodluck Jonathan 2012 den Benzinpreis wieder gesenkt hatte, riefen die beiden größten Gewerkschaften des Landes dazu auf, die Proteste zu beenden. Schüler und Studenten versuchten noch eine Zeit lang, die Bewegung aufrechtzuerhalten, gaben aber schließlich auf. Durch Polizeigewalt wurden bei den Protesten vierzehn Menschen getötet, darunter der 23-jährige Mustapha Muyideen, der zum Symbol der misshandelten Jugend wurde. Was auch immer in Zukunft in Nigeria geschehen mag – die „stille Generation“ wird nicht mehr schweigen. Alain Vicky