07.05.2015

Kuba konvertierbar

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Kuba konvertierbar

Nach 50 Jahren Embargo muss sich die sozialistische Republik neu erfinden von Janette Habel

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Raúl Castro, 83 Jahre alt, wird sich sich bei der Parlamentswahl 2018 nicht noch einmal um das kubanische Präsidentenamt bewerben. In drei Jahren wird die Generation der Sierra Maestra also endgültig abtreten. Drei Jahre – das ist wenig Zeit für Wirtschaftsreformen, eine neue Verfassung und jene Normalisierung der Beziehungen zu Washington, die sich seit dem Amerikagipfel im April in Panama abzeichnet.

Die Kommunistische Partei Kubas (PCC) hat bereits einen Nachfolger bestimmt: den ersten Vizepräsidenten Miguel Díaz-Canel. Um die enormen Herausforderungen zu bewältigen, stützt sich Präsident Castro auf die Streitkräfte (FAR), an deren Spitze er als Verteidigungsminister ein halbes Jahrhundert lang stand, auf die Kommunistische Partei und auf die katholische Kirche, die eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen mit Washington spielt.1

Die Wirtschaftsreformen haben die Ungleichheit verschärft2 , die Unsicherheit über die Zukunft des Landes ist groß. Die PCC reagiert darauf, indem sie vor ihren Parteikongressen Volksbefragungen durchführt. Raúl Castro hat angekündigt, dass solche Umfragen auch vor dem für April 2016 geplanten 7. Parteikongress stattfinden sollen. Die Intellektuellen im Lande, ob Parteimitglieder oder Unabhängige, debattieren jedoch schon längst auf eigene Faust, und zwar trotz des beschränkten Zugangs zum Internet vor allem im Netz.

Raúl Castro will den kubanischen Sozialismus „aktualisieren“ – ein Euphemismus für die 2011 in Gang gesetzte wirtschaftliche Liberalisierung. Obwohl die Reformen die Gesellschaft zersetzen, die man aufzubauen versucht hat, hat auch Raúls Bruder Fidel sie nie infrage gestellt. „Das kubanische Modell hat nicht mehr funktioniert, nicht einmal mehr aus unserer Perspektive“, gab der Expräsident zu (The Atlantic, September 2010). Die wirtschaftliche Lage ließ kaum eine andere Wahl. Dank der Hilfe aus Caracas erreichte die Insel zwischen 2005 und 2007 ein Wachstum von jährlich durchschnittlich 10 Prozent, aber die Finanzkrise und die Schwierigkeiten des bolivarischen Partners haben die Lage verändert. 2013 ging der Handel zwischen Kuba und Venezuela bereits um 1 Milliarde Dollar zurück, und er könnte noch weiter einbrechen. Manche Schätzungen gehen gegenüber früheren Jahren von einem um 20 Prozent geringeren Handelsvolumen aus.

Im März 2014 hat die Regierung ein Gesetz verabschiedet, das die ausländischen Investitionen neu regelt. Außer dem Gesundheits-, Bildungs- und Verteidigungssektor stehen dem ausländischen Kapital von nun an alle Bereiche offen. Investoren bleiben für acht Jahre, unter bestimmten Voraussetzungen sogar noch länger von Steuern befreit – besonders in den „Sonderzonen zur wirtschaftlichen Entwicklung“ wie dem mit brasilianischer Hilfe errichteten Hafen von Mariel.3 Allerdings müssen die Projekte von der Regierung abgesegnet werden.

„Es ist nicht das Kapital, das über die Investitionen entscheidet“, unterstreicht Deborah Rivas, die Leiterin der Abteilung Auslandsinvestitionen im Ministerium für Außenhandel.4 Der Ökonom Jesús Arboleya Cervera erklärt auf der jungen Plattform Cuba Posible, in der renommierte Intellektuelle ihre Meinung kundtun: „Die kubanischen Emigranten sind [über das Geld, das sie ihren Familien schicken] bereits indirekte Investoren kleiner Geschäfte. Ihre Beteiligung an größeren Unternehmen wird von nun an nicht mehr durch kubanische Gesetze, sondern nur noch durch das US-Embargo verhindert.“5

Manchen gehen die Veränderungen auf der Insel immer noch zu langsam. „Man kann nicht etwas aktualisieren, das nie funktioniert hat“, regt sich Pérez Villanueva auf. „Es gibt kein Wachstum. Dieses Jahr werden wir mit Gottes Hilfe vielleicht 1 Prozent erreichen.“6 Andere fragen nach dem eigentlichen Zweck dieses ökonomischen Modells – und nach seinen Gewinnern und Verlierern.

Glaubt man den offiziellen Verlautbarungen, dann wird die Einführung von einer ordentlichen Portion Marktwirtschaft der Insel ermöglichen, ihre Wirtschaftsleistung zu erhöhen, ohne dass die soziale Gerechtigkeit verloren geht. Doch inzwischen sind bereits 20 Prozent der städtischen Bevölkerung (im Vergleich zu 6,6 Prozent im Jahr 1986) von Armut betroffen. Die Abschaffung der seit über 50 Jahren existierenden Lebensmittelkarte namens Libreta wurde erst angekündigt, dann jedoch aufgeschoben, weil die Auswirkungen für die Ärmsten zu groß wären. In einer Gesellschaft, zu deren Grundpfeilern die Gleichheit zählt, tritt immer deutlicher zutage, wer Nutznießer und wer Opfer der Reformen ist.

Zu den Opfern gehören, wie Präsident Raúl Castro in einer Rede im Februar 20147 selbst festgestellt hat, die Staatsangestellten, die in Pesos bezahlt werden und deren Gehalt nicht zum Leben reicht, die Alten (das sind 1,7 Millionen Bürger), deren Rente für den Lebensunterhalt nicht reicht, alleinerziehende Mütter, die schwarze Bevölkerung – die nicht oder kaum von der Unterstützung durch die Exilkubaner profitiert – sowie die Menschen in den östlichen Provinzen.

Nutznießer hingegen sind die Angestellten der Joint-Venture-Unternehmen, die Beschäftigten im Tourismussektor, Bauern des privaten Agrarsektors und ein Teil der Kleinunternehmer (cuenta propistas), sprich alle, die Zugang zu Kubas harter Währung haben: dem CUC (Peso cubano convertible). Seit 2004 existierte diese Zweitwährung neben dem ursprünglichen Peso, wobei ein CUC 24 normalen Pesos entsprach und den 1993 zugelassenen Dollar ersetzen sollte. Somit existierten faktisch zwei Ökonomien nebeneinander: die des Peso und die des CUC, mit dem Touristen und alle Kubaner, die Kontakt zu diesen haben, ihre Geschäfte abwickeln.

Um die wirtschaftliche Liberalisierung vorantreiben und zugleich das Einparteiensystem aufrechterhalten zu können, setzt Präsident Castro auf die Loyalität der Revolutionären Streitkräfte. Tatsächlich übt die Armeeführung seit der Krise der frühen 1990er Jahre, als das BIP um 35 Prozent einbrach, die Kontrolle über strategisch wichtige Wirtschaftssektoren aus. Dafür hat sie seinerzeit die Unternehmensholding Grupo de Administracion Empresarial S. A. gegründet. Hier hat man mit Methoden der „Unternehmensoptimierung“ experimentiert, die auf westlichen Managementmethoden beruhen und Produktivitätsanreize schaffen sollen. Die Streitkräfte genießen nach wie vor Ansehen in der Bevölkerung. Doch ihre Privilegien wecken verständlicherweise auch Unmut. Sie haben keine Probleme, eine Wohnung zu finden, heißt es zum Beispiel, mit Verweis auf den modernen Immobilienkomplex in Havanna, der Militärs und ihren Familien vorbehalten ist.

Das Erzbistum Havanna zwischen Anpassung und Kritik

Die PCC hat inzwischen zwar an Einfluss verloren, aber Raúl Castro hat es geschafft, die Parteiführung zu verjüngen, hat Frauen und andere politische Richtungen eingebunden. Solange der Staat Geld und öffentliche Güter bereitstellen kann, die für viele Kubaner lebenswichtig sind, kann die Kommunistische Partei ihre Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung wohl erhalten. Im Februar 2015 verkündete die PCC, noch vor dem Ende von Castros Amtszeit ein neues Wahlgesetz verabschieden zu wollen. Zwei Jahre zuvor, im Februar 2013, war zudem die Einsetzung einer Kommission zur Verfassungsreform angekündigt worden.

Unklar ist, wie eine neue Führung gefunden werden soll, die nicht die Legitimität der alten besitzt und sich auch in der öffentlichen Debatte noch nicht bewährt hat. Bei der derzeitigen Auswahl der Staatsführung über interne Parteientscheidungen kann es nicht länger bleiben.

Das Erzbistum Havanna gibt die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Espacio Laícal sowie deren wöchentliche „digitale Beilage“ heraus. Über lange Jahre war der Espacio Laícal ein wichtiger Ort politischer Debatten; es wurden Kolloquien organisiert und Artikel veröffentlicht, in denen über eine Verfassungsreform, die Rolle der PCC und die Neugründung der Räteorganisationen (der sogenannten Órganos de Poder Popular, OPP) diskutiert wurde.

Die Verantwortlichen von Espacio Laícal, die katholischen Laien Roberto Veiga und Lenier González, haben dabei immer auf dem Widerspruch „zwischen dem Pluralismus der Gesellschaft und den fehlenden Möglichkeiten, diesen Pluralismus auszudrücken“8 bestanden. Doch im Juni 2014 erklärten die beiden wegen scharfer Kritik an ihnen selbst und an Kardinal Jaime Ortega y Alamino ihren Rücktritt. Offensichtlich wünschte sich das Erzbistum eine „pastoralere“, sprich unpolitischere Haltung der Zeitschrift. Vier Monate später übernahm das zivilgesellschaftlich orientierte „Christliche Zentrum für Reflexion und Dialog, Kuba“ die Schirmherrschaft über ein ähnliches von Veiga und González betreutes Projekt, das in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift Cuba posible entstand. Die erste Nummer war einem Kolloquium über Kubas staatliche Souveränität und die Zukunft seiner Institutionen gewidmet.

Anlass für heftige Kritik bietet immer wieder Artikel 5 der Verfassung. Dieser bezeichnet die PCC als „Schülerin der Ideen von José Martí [dem Vordenker der kubanischen Unabhängigkeit] und der Unabhängigkeit“ sowie als „organisierte, marxistisch-leninistische Avantgarde der kubanischen Nation und als höchste Führungskraft der Gesellschaft und des Staates“. Eine Definition, die sowohl Kirche als auch Sozialwissenschaftler infrage stellen. „Die Vorstellung von der PCC als Avantgardepartei trifft nicht mehr zu, seit die Partei an der Macht ist“, sagt uns der Soziologe Aurelio Alonso. Eine der wichtigsten Aufgaben ist jetzt, in Kuba einen inkludierenden Staat aufzubauen, in dem ideologischer und politischer Pluralismus Platz haben. Aber bedeutet Pluralismus auch Mehrparteiensystem? Veiga meint, man müsse darüber nachdenken, „auch andere, in den Fundamenten der Nation verwurzelte politische Kräfte zuzulassen“,9 selbst wenn das kurzfristig nicht besonders realistisch erscheine. Bisher weiß niemand, ob durch die angekündigte Wahlrechtsreform die Kandidatur von Abgeordneten aus dem Umfeld der Kirche oder von unabhängigen Einzelpersonen zulässig wird.

Es geht auch um die Wahl des Staatspräsidenten, dessen Amtszeit künftig auf zweimal fünf Jahre beschränkt sein wird. Viele Kubaner sind der Ansicht, dass der neue Präsident aus allgemeinen und direkten Wahlen hervorgehen sollte, um ihm Legitimität zu verschaffen. Der Politologe Julio César Guanche hingegen verweist vor allem auf eine Neugründung der „Volksmacht“ in Gestalt der Gemeinde-, Provinz- und Nationalversammlungen.10 Der Aufbau einer „demokratischen und sozialistischen Bürgerkultur“ sei nötig, findet der Soziologe Ovidio d’Angelo. Da die PCC nach wie vor eine starke Kontrolle über die Massenorganisationen ausübe, seien diese kein Ausdruck der politischen Öffentlichkeit. Zumal „der offizielle Diskurs die Grundlage unterminiert, auf dem seine eigene historische Legitimität beruht“, merkt Guanche an und fügt hinzu: „Dadurch dass der Egalitarismus infrage gestellt wird, verliert auch das stärkste Ideal des Sozialismus seine Grundlage: nämlich die Gleichheit.“ Eine offene Kritik der Position von Präsident Castro, der beim Kongress des kubanischen Gewerkschaftsverbands CTC „Paternalismus, Gleichmacherei, übertriebene Gratisleistungen, unangemessene Subventionen und die mit den Jahren entstandene alte Mentalität“ angegriffen hatte.

Der Vorwurf der „alten Mentalität“ richtet sich nicht zuletzt gegen die PCC, die nach wie vor Einstimmigkeit zelebriert und abweichende Positionen zensiert – und damit inzwischen Widerspruch provoziert. Zum ersten Mal hat eine Abgeordnete in der Nationalversammlung die Hand gehoben, um gegen ein Gesetz, nämlich das neue Arbeitsgesetz, zu stimmen: Mariela Castro, die Tochter Raúls, protestierte damit gegen die Weigerung, ein Verbot sexueller Diskriminierung in den Gesetzesentwurf aufzunehmen. Und immerhin haben auch mehrere Filmemacher öffentlich gegen die Absetzung des von Laurent Cantet gedrehten Films „Retour à Ithaque“ protestiert, der die Desillusionierung in Kuba thematisiert.

Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit den USA ist für die kubanische Regierung auch ein Risiko, denn sie weiß, dass Washington weiterhin das Ziel verfolgt, die sozialistische Regierung zu stürzen. Die erste Runde hat diese insofern gewonnen, als sie keine Zugeständnisse gemacht hat, doch für großen Optimismus besteht trotzdem kein Anlass. „Am Ende werden sie es hier genauso machen wie überall sonst auf der Welt. Und was bleibt dann für uns Kubaner übrig?“, fragt ein Rentner. „Sie haben gerade einen unserer Baseballspieler für 63 Millionen Dollar gekauft“, fügt ein anderer hinzu. „Viele wissen wirklich nicht mehr, wie ihre Zukunft aussehen wird“, stellt der Soziologe Rafael Acosta fest. Was kommt nach dem Ende des Embargos? Wer kontrolliert den Zustrom von Dollars und Touristen?

Keine Einigkeit besteht bislang auch in der Frage, wem das nach der Revolution verstaatlichte Eigentum gehört. Die Regierung sieht nicht ein, warum sie die ehemaligen Eigentümer, die das Land verlassen haben, entschädigen sollte. Sie wird auf die schätzungsweise 100 Milliarden Dollar verweisen, die das seit einem halben Jahrhundert geltende Embargo gekostet hat, und die Rückgabe der Militärbasis von Guantánamo fordern.

Einer vollständigen Aufhebung des Embargos muss erst noch der US-Kongress zustimmen, in dem Republikaner und Demokraten gespalten sind. Am 14. April hat US-Präsident Obama Kuba – endlich – von der Liste der „den Terror unterstützenden Staaten“ gestrichen, aber der Kongress hat 45 Tage Zeit, um sich diesem Beschluss zu widersetzen. Dann sollten die diplomatischen Beziehungen wiederaufgenommen und die Botschafter ernannt werden. Der Normalisierungsprozess wird viel Zeit erfordern, die Havanna nutzen wird, um eine Destabilisierung des Landes zu verhindern und die Beziehungen mit Lateinamerika, China und der Europäischen Union auszubauen. Wenn es keinen historischen Führer mehr gibt, der den Kampf gegen das „Imperium“ symbolisiert, wird es künftig wohl schwieriger werden, die kubanische Bevölkerung zu einen und zu mobilisieren.

Fußnoten: 1 Vgl. „Kommunisten, Katholiken, Dissidenten“, Le Monde diplomatique, Juni 2012. 2 Der Gini-Koeffizient, der die Verteilung von Einkommen und Vermögen bemisst (eine Gesellschaft ist umso egalitärer, je niedriger der Wert liegt), lag 1986 bei 0,24, 2002 bei 0,38 und 2013 bei 0,40. Mayra Espina, Espacio Laícal, Nr. 2, Havanna, 2014. 3 Der als größter Containerterminal der Karibik angelegte Hafen liegt strategisch günstig zwischen Panamakanal und Atlantik. 4 Granma, Havanna, 17. April 2014. 5 Jesús Arboleya Cervera, „Integracion y soberanía“, Cuba posible, Nr. 1, 20. Januar 2015. 6 Cuba posible, siehe Anmerkung 5. 7 Rede auf dem 20. Kongress der Central de Trabajadores Cubanos (CTC), 22. Februar 2014. 8 Vgl. „Cuba y Estados Unidos: Los dilemas del cambio“, Cuba posible, Nr. 2, Februar 2015. 9 Cuba posible, siehe Anmerkung 8. 10 Cuba posible, siehe Anmerkung 5 . Aus dem Französischen von Raul Zelik Janette Habel ist Politikwissenschaftlerin.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2015, von Janette Habel