11.01.2008

Teufel und Beelzebub in Chhattisgarh

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Teufel und Beelzebub in Chhattisgarh

Ungleicher Kampf zwischen Miliz und Guerilla in Indien von Cédric Gouverneur

Im Süden des indischen Bundesstaats Chhattisgarh trotzt das kleine Fort Rani Bodli dem Dschungel. Maschinenpistolen sind auf das unheimliche Dickicht gerichtet. In der Morgendämmerung des 15. März stürmten hunderte maoistische Rebellen aus dem Urwald. Sie griffen das Fort an und töteten 55 Polizeibeamte und Hilfspolizisten. Es gab nur 12 Überlebende, alle waren verletzt. Obwohl nur acht Kilometer entfernt, kam die Verstärkung für die Belagerten erst drei Stunden später.

Ein paar Wochen nach dem Gemetzel sitzt Essaryado, der Leiter des Polizeipostens, im Schatten unter einem Mangobaum. Er hat den Ellenbogen auf seine Kalaschnikow gestützt und scheint sich zu fragen, was er hier soll. Die meisten seiner Leute sind junge, unerfahrene Hilfspolizisten, sogenannte Special Police Officers (SPO). „Den Polizeiposten gibt es seit 2005“, berichtet der Unteroffizier. Mit solchen Maßnahmen versuchte die indische Regierung, in den Dschungelgebieten wieder Fuß zu fassen. Seit den 1980er-Jahren hat sich dort der kommunistische Widerstand eingenistet. Doch die Machtdemonstration der Polizisten ist nur Fassade: Sie wagen sich nicht aus ihrer Festung, aus Angst, in einen Hinterhalt zu geraten. „Wenn wir in die Stadt wollen, nehmen wir den Bus, wie die Zivilisten, das ist sicherer“, gibt Essaryado resigniert zu.

Der nächste Überfall würde für sie höchstwahrscheinlich genauso schrecklich enden wie das Blutbad vom Frühjahr. 2006 wurden in dem bewaffneten Konflikt zwischen kommunistischen Rebellen und indischer Regierung 749 Menschen getötet; zwischen Januar und September 2007 gab es 483 Tote.1 Die Großmacht Indien reagiert hilflos auf die Rebellion. Die naxalitische Guerilla entstand im März 1967, als Bauern aus dem Dorf Naxalbari (Westbengalen) den Reisvorrat eines Grundbesitzers beschlagnahmten. Seit diesem Bauernaufstand haben verschiedene bewaffnete maoistische Gruppen den Widerstand im Dschungel und in abgelegenen Landesteilen aufgebaut. Bis vor wenigen Jahren war es ihnen jedoch nie gelungen, sich weiter auszubreiten.

Erst im September 2004 bekam die Guerilla neuen Zulauf, als sich die beiden größten Bewegungen, die People’s War Group (PWG), die vor allem in Andra Pradesh aktiv ist, und das kommunistisch-maoistische Zentrum Indiens (MCCI) aus Bihar zur Kommunistischen Partei Indiens/Maoisten (CPI-Maoist) zusammenschlossen. In Orissa, Chhattisgarh, Andra Pradesh und anderen Bundesstaaten ist die Partei verboten.

Seitdem wurden die Naxaliten nach und nach in 16 der 28 indischen Bundesstaaten aktiv. Im August 2007 umfasste ihr Aktionsradius einen 92 000 km2 großen „roten Korridor“, der von der nepalesischen Grenze bis zur Südostküste des Bundesstaates Andra Pradesh reicht.2 In Neu-Delhi fürchtet man, dass sich die Guerilla auch im Westen und Norden Indiens festsetzen könnte, in Gujarat, Rajasthan, Himachal Pradesh sowie Jammu und Kaschmir. Man weiß, dass die Rebellen auch in Großstädten wie Kalkutta, Bombay und Ahmadabad aktiv werden wollen.3

„Der Naxalismus ist die größte Herausforderung für die innere Sicherheit, die sich unserem Land je gestellt hat“, erklärte Premierminister Manmohan Singh von der Kongresspartei im April 2006 vor den Regierungschefs der Bundesstaaten. Denn im Gegensatz zu den Separatisten in Kaschmir oder in den nordöstlichen Bundesstaaten wollen die Naxaliten das gesamte indische Staatsgebiet erobern. Eine Verhandlungslösung ist sehr unwahrscheinlich, da die Aufständischen eine Revolution anstreben.

Ein hochrangiger Funktionär der Naxaliten – nennen wir ihn Patel – empfängt uns in einer indischen Großstadt.4 Er interpretiert Singhs Worte als Eingeständnis der Führungsschicht, versagt zu haben, und als deutliches Zeichen von Panik. Das Ziel der Naxaliten sei, auf dem Land, da, wo der Staat schwach sei, die Kontrolle zu gewinnen, und dann die Volksmacht nach und nach bis in die Städte auszudehnen. Es sei eine langfristige Strategie. Doch die Globalisierung und ihre Folgen – Verarmung und Ungleichheit – würden diesen Prozess beschleunigen.

Ajaj Sahni, Direktor des Instituts für Konfliktmanagement (ICM) in Neu-Delhi, erklärt, wie die Rebellen in der Regel vorgehen: „Die Maoisten untersuchen die soziale Lage in einem bestimmten Gebiet. Über Sympathisantenorganisationen mobilisieren und politisieren sie mit ihren Forderungen die Massen. Und die am stärksten Motivierten werden zu Kämpfern ausgebildet. Wenn dann die Gewalt ausbricht, ist es für den Staat schon zu spät, um einzugreifen.“ Laut Sahni habe es der Geheimdienst lange Zeit versäumt, diese Deckorganisationen zu unterwandern. Immerhin wurden inzwischen sieben davon im Bundesstaat Orissa verboten.

Nach Schätzungen umfasst die Guerilla zwischen 10 000 und 20 000 Kämpfer, dazu 4 000 militante Anhänger, die die Logistik bereitstellen. Es heißt, dass die Naxaliten von den Tamil Tigers in Sri Lanka trainiert werden5 , zum Beispiel im Umgang mit Sprengstoff. Patel dementiert jede Unterstützung durch die tamilischen Separatisten, bestätigt jedoch einen anderen Verdacht der Regierung: Viele Waffen stammen von getöteten Polizisten, ein Teil wird aber auch von Handwerkern und Kleinunternehmen hergestellt.

„Überall im Land werden in der einen Werkstatt Abzugsstollen, in der nächsten Gewehrkolben und so weiter geschmiedet“, erzählt Patel. Er lächelt. „Und die komplette Waffe wird an einem sicheren Ort zusammengesetzt.“ Die Polizei von Andhra Pradesh hat im September ein Versteck mit 875 Raketen ausgehoben, die in Untergrundwerkstätten in Madras (Tamil Nadu) gebaut worden waren.

Von Unternehmern und Geschäftsleuten erpressen die Maoisten eine „Revolutionssteuer“. „Jeder muss eine Steuer zahlen, die zwölf Prozent seiner Einkünfte beträgt“, berichtet P. V. Ramana von der Observer Research Foundation (ORF) in Neu-Delhi. „Wer sich weigert, dessen Besitz wird angezündet, oder ihm geschieht Schlimmeres.“

Auch die großen Firmen zahlen Schutzgeld. „Manche haben sich mitten im Rebellengebiet niedergelassen und werden merkwürdigerweise nie angegriffen“, sagt ein Journalist aus Chhattisgarh. Ramana schätzt das jährliche Budget der CPI/Maoisten auf mindestens 2,5 Milliarden Rupien (46 Millionen Euro).

Glauben Patel und seine Leute an einen Sieg? „Früher hätte sich auch niemand vorstellen können, dass die Maoisten einmal in der nepalesischen Regierung sitzen würden.“ Das stimmt, aber Indien ist die größte Demokratie der Welt und nicht ein kleines Bergland, das von einem verhassten Despoten regiert wird. Die Naxaliten, die von der Rechtmäßigkeit ihres bewaffneten Kampfes überzeugt sind, sprechen den Institutionen in Neu-Delhi jegliche Legitimität ab.

Kastenwesen und Korruption machen die Naxaliten stark

M. Muppala Laxman Rao, genannt Ganapathi, ist Generalsekretär der verbotenen Partei. Durch Vermittlung Patels konnten wir ihn schriftlich befragen. Er kritisiert den indischen Parlamentarismus: „Alle, die ins Parlament gelangen, sind doch nur Marionetten von Lobbyisten. Kann man von einer Demokratie sprechen, wenn die Wähler mit Geld oder Alkohol bestochen werden und die Gewählten bestimmte Volks-, Religions- oder Kastenzugehörigkeiten verherrlichen?“

In Indien werden häufig Stimmen gekauft, und Politiker schüren tatsächlich die Spannungen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften, um ihre Macht zu sichern. Als im Februar 2002 im Bundesstaat Gujarat antimuslimische Pogrome ausbrachen, sprach man von einer eindeutigen Mitschuld des dortigen Regierungschefs. Und Narendra Modi von den hinduistischen Nationalisten (Bharatiya-Janata-Partei, BJP) hat es ganz offensichtlich seiner islamophoben Einstellung zu verdanken, dass er kurz danach wiedergewählt wurde. Auch die Wahlen vom 23. Dezember 2007 gewann abermals Modis Partei.

Das Kastenproblem ist nach wie vor dramatisch: Im Dezember 2006 wurden 46 Menschen freigesprochen, die angeklagt waren, im Dorf Kambalapalli (Karnataka) 7 Dalits – „Unberührbare“ – bei lebendigem Leibe verbrannt zu haben. Die Naxaliten rufen die 125 Millionen Dalits auf, sich ihnen anzuschließen. Am 14. März 2007 gab es bei der Niederschlagung einer Bauerndemonstration in Nandigram (Westbengalen) 14 Tote; die Bauern hatten sich der Beschlagnahmung ihres Landes widersetzt, auf dem eine „Sonderwirtschaftszone“ entstehen sollte. Die Ordnungskräfte wurden dabei von bewaffneten Kämpfern der Kommunistischen Partei/Marxisten unterstützt. Seit drei Jahrzehnten regiert diese Partei Westbengalen. Ganapathi sagt, dass man an diesem Beispiel lernen könne, dass der Parlamentarismus den Revolutionär korrumpiert.

2007 wuchs Indiens Wirtschaft um 9,4 Prozent. Doch der Generalsekretär der Rebellenpartei verweist auf die Grenzen des Erfolgs: „Viele Luxusprodukte von gestern sind heute unverzichtbar geworden. Die Liste dieser Grundbedürfnisse wird immer länger, je mehr Konsumgüter es gibt und je mehr der Markt den Konsum anheizt! Und wer daran nicht teilnehmen kann, ist umso frustrierter. Auch das nimmt zu.“

Zwar entstehen in den Städten immer mehr Einkaufszentren, auf den Straßen fahren immer mehr Autos, und man hört überall Handys bimmeln. Doch Indien rangiert immer noch auf Platz 128 von 177 im Ländervergleich des Human Development Index 2007/2008. China hingegen hält sich auf Rang 81. 400 Millionen Inder leben von einem Dollar am Tag, und jedes zweite Kind hat nicht genug zu essen.6

Chhattisgarh liegt etwa in der Mitte des „roten Korridors“. Hier kontrollieren 3 000 Rebellen ein 25 000 km2 großes Gebiet. Im Süden des Staates gehören 80 Prozent der Bevölkerung zu den Adivasi, den Nachfahren der indischen Ureinwohner.7 Sie sind arm. Die meisten können weder lesen noch schreiben. Korrupte, willkürlich herrschende Funktionäre stehen hier für die staatliche Macht. Die Naxaliten stießen in ein Vakuum: „Die Verzweiflung der ausgebeuteten und enteigneten Adivasis bietet eine klassische Ausgangsposition für den Beginn einer kommunistischen Revolution“, heißt es in einem Bericht des Asiatischen Zentrums für Menschenrechte (ACHR) vom 17. März 2006 über die Situation in Chhattisgarh.

Die Bauern, Jäger und Sammler der Adivasi, bislang von Polizisten, Waldaufsehern und Wucherern nur erpresst, freuten sich, dass die Guerilla diese Übeltäter vertrieb oder bestrafte. Die Naxaliten setzten auch durch, dass die Adivasi für die von Hand gepflückten Tendu-Blätter, aus denen Bidi-Zigaretten gerollt werden, einen guten Preis erhielten. „Der Staat hat nie etwas für uns getan“, heißt es im Dorf. „Bevor die Naxaliten kamen, haben uns die Polizisten ausgenommen.“

Die mobilen Grüppchen der Rebellen kommen und gehen, vor kurzem hat im Dorf eine Truppe haltgemacht und die Einwohner sogar zu einem Treffen „eingeladen“. Ein Lehrer berichtet, dass 20 bis 30 Prozent der Jugendlichen sich den Aufständischen anschließen, „freiwillig oder unter Zwang“.

Die Schule und die übrigen offiziellen Gebäude liegen in Trümmern. Die Guerilla hat sie in die Luft gesprengt, damit sie nicht als Kasernen dienen können. Die Naxaliten konzentrieren sich auf ihre militärischen Ziele und scheinen sich um die Bedürfnisse derer, die sie doch vertreten sollen, nicht weiter zu kümmern: „Sie haben ein junges Mädchen medizinisch ausgebildet, aber sie durfte nicht hier bleiben, um uns zu versorgen“, erzählen die Dorfbewohner. „Sie musste mit ihnen in den Dschungel ziehen.“ Die Adivasi müssen mit den Maoisten auskommen, ob sie wollen oder nicht: 1993 wurden 66 Adivasi von der Guerilla getötet, als Vergeltungsmaßnahme für einen Aufstand.

Die Regierung von Chhattisgarh erprobt seit zwei Jahren eine großflächige Strategie, die an die Methode des US-Geheimdienstes in Laos in den 1960er-Jahren erinnert: Man bildet Anti-Guerilla-Milizen aus und siedelt die Zivilisten in „strategische Siedlungen“ um. Die Aufständischen verlieren so ihre Versorgungsstützpunkte. Und die Räumkommandos können anrücken. In Anlehnung an Maos Diktum, die Guerilla solle sich im Volk bewegen wie ein Fisch im Wasser, erklärt ein hoher Polizeibeamter, man müsse „das Becken trockenlegen, um den Fisch zu ersticken“. Die Hälfte aller Opfer des Konflikts kommen aus Chhattisgarh. Zehntausende Menschen sind auf der Flucht. Auf beiden Seiten werden Menschenrechte verletzt.

Im Juni 2005 wurde die Miliz Salwa Judum gegründet. Auf Gondi, einer in Mittelindien verbreiteten Sprache, kann das sowohl „Friedensmission“ als auch „reinigende Jagd“ bedeuten. Die Regierung von Chhattisgarh behauptete, es sei eine „Spontanaktion“ der Landbevölkerung gewesen. Man habe keine Lust mehr gehabt, die Rebellen zu ernähren, und wolle sie mit Hilfe der Miliz vertreiben. Die Naxaliten sagen hingegen, Salwa Judum sei eine paramilitärische Miliz, gesteuert von der Hindu-Partei BJP und Oppositionsführer Mahendra Karma. Heute weiß man, dass Salwa Judum als Instrument des Staates Angst und Schrecken verbreitet.

M. K. R. Pisda, der Verwaltungschef des Distrikts Dantewada im Süden von Chhattisgarh, fasst zusammen: „In unserem Distrikt leben 700 000 Menschen in 1 153 Dörfern. Im Augenblick sind 644 Dörfer geräumt, die 53 000 Einwohner wurden in 27 Lagern versammelt. Heute sind sie für die Regierung. Die Rebellen, die nicht mehr auf die Unterstützung der Bevölkerung rechnen können, sind jetzt leichter zu bekämpfen.“

Ein Special Police Officer hat keine Chance gegen Rebellen

Die „strategischen Siedlungen“ sind von Stacheldraht und MG-Ständen umgeben. Eine notwendige Maßnahme, denn die Naxaliten nehmen sie ins Visier, um die Bevölkerung zu zwingen, in ihren Dörfern zu bleiben. Im Juli 2006 griffen sie das Lager von Errabore an und töteten 31 Menschen, davon viele Zivilisten. Die Lager wirken nicht so, als würde es sich nur um ein Provisorium handeln. Die Häuser sind solide gebaut. Offensichtlich will die Regierung die Bevölkerung hier festhalten, und zwar für immer. Es herrscht ein Verdachtsklima. Gespräche und Blicke verraten tiefes Misstrauen. Und die Freundlichkeit wirkt aufgesetzt. Wenn bestimmte Leute dazukommen, schweigen die Flüchtlinge oder sagen plötzlich etwas ganz anderes als zuvor.

Die ehemaligen Dorfbewohner von Korapad, die unter einem Baum im Lager Dornapal sitzen, haben den traurigen Blick von Entwurzelten. Und wenn man das Kind mit dem geblähten Hungerbauch sieht, zweifelt man an den liebenswürdigen Worten von Verwaltungschef Pisda, der versichert, man kümmere sich um die „Verbesserung der Lebensbedingungen“ in den Lagern. Sowohl lokale als auch internationale Hilfsorganisationen kritisieren schon lange die erbärmlichen Verhältnisse.

„Manche Familien aus dem Dorf waren bei Salwa Judum“, erzählt einer, der aus Korapad kommt. Die Naxaliten gingen seit den 1980er-Jahren im Dorf ein und aus und erwarben sich Sympathien. Doch als die Miliz auftauchte, veränderte sich das Verhalten der Rebellen: „Sie warfen uns vor, wir würden alle Salwa Judum unterstützen. Wir mussten fliehen und alles zurücklassen. Hier haben wir nichts. Andere Flüchtlinge haben 12 000 Rupien [220 Euro] von der Regierung bekommen, um sich ein Haus zu bauen. Aber als wir ankamen, hieß es, wir seien zu spät, jetzt gebe es kein Geld mehr.“ Fern ihrer Felder und Wälder befestigen die Männer jetzt Straßen für umgerechnet 1,10 Euro pro Tag.

Die Landschaft zwischen zwei Flüchtlingslagern sieht traurig aus: Verlassene, manchmal niedergebrannte Dörfer, brachliegendes Land, verwesende Viehkadaver. Der Bewuchs an den Straßenrändern wurde gerodet, um mögliche Hinterhalte zu zerstören. In einem ausgebrannten Weiler wurde eine bettlägerige alte Frau zum Sterben allein zurückgelassen. Ein Mann kommt vorbei, packt ein paar Sachen ein und zeigt auf die verbrannten Häuser: „Wir wollten nicht ins Lager, da haben uns die Leute von Salwa Judum beschuldigt, Maoisten zu sein, und Feuer gelegt.“

Weiter im Süden, im Lager von Errabore, erklärt Soyam Bhima, den man zum örtlichen Leiter der Salwa Judum gemacht hat, warum die Dorfbewohner nicht nach Hause zurückkehren können: „Die Rebellen würden sie umbringen.“ Hinter ihm steht ein furchteinflößender Leibwächter mit dunkler Brille. Er trägt ein riesiges Gewehr. Eine Straßenecke weiter begegnet uns ein junges Mädchen in Uniform, das sofort strammsteht, als sie angesprochen wird. Java behauptet, sie sei 20 Jahre alt. Sie sieht aber aus wie 15. Java ist Special Police Officer und verdient 1 500 Rupien (28 Euro) im Monat.

4 000 Hilfspolizisten haben die Behörden in den letzten zwei Jahren rekrutiert. Die jungen Leute werden jedoch kaum geschult und sind nur mangelhaft ausgerüstet: Ein Special Police Officer hat keine Chance gegen einen kampferprobten Rebellen, wie die Tragödie von Rani Bodli zeigt.

Nichtregierungsorganisationen ha-ben nachgewiesen, dass viele dieser Hilfspolizisten Minderjährige sind, die sich unter einer falschen Altersangabe bewerben. Indien beschäftigt also Kindersoldaten. Thakur Praful, Polizeichef des Distrikts, geht einfach darüber hinweg: „Die Geburtsurkunden beweisen, dass sie mindestens 18 sind.“ Der Polizist gibt vor, nicht zu wissen, dass man eine gefälschte Urkunde für eine Handvoll Rupien kaufen kann.

Da die Naxaliten ebenfalls Kämpfer rekrutieren, die „mindestens 16 Jahre“ alt sind, hat das Asiatische Menschenrechtszentrum (ACHR) dramatische Fälle „doppelter Zwangsrekrutierung“ entdeckt: In derselben Familie ist ein Kind Guerillakämpfer, das andere Special Police Officer. Im Dorf Bijalpur geben junge Hilfspolizisten ohne Umschweife zu, dass sie „Leute getötet“ haben. „Die Guerilla hat Komplizen im Dorf.“ Und wie erkennt man die? „Sie verhalten sich merkwürdig. Dann verhaften und verhören wir sie.“

Bauern stören die geplante Industrialisierung

In Santoshpur, ganz in der Nähe, wurden im Mai die Leichen von sieben Männern exhumiert – umgebracht von Ordnungskräften und Salwa-Judum-Milizionären. Man hatte sie beschuldigt, Naxaliten zu sein. Zeugen des Massakers berichten: „Wir wollten nicht in die Lager ziehen. Dann haben sie diese Männer genommen und mit Spitzhacken auf sie eingeschlagen. Salwa Judum entscheidet, wer ins Lager geht: Sie verdächtigen uns, für die Naxaliten zu sein, deshalb bekommen wir keinerlei Unterstützung.“

Amnesty international kritisiert, dass Menschenrechtler belästigt wurden, weil man behauptet hat, sie seien Komplizen der Naxaliten. Eine ziemlich grobe Anschuldigung, zumal bekannt ist, dass die NGOs auch die Vergehen der Guerilla anprangern. Ein im Jahre 2005 verabschiedetes Gesetz, die „Chhattisgarh Special Public Security Bill“, zielt darauf ab, alle Kritiker zum Schweigen zu bringen, in offener Missachtung des Artikel 19 der indischen Verfassung, der die Meinungsfreiheit garantiert. Trotz des erwiesenen Machtmissbrauchs findet die paramilitärische Lösung immer neue Anhänger: Die Nachbarstaaten Jharkhand und Andhra Pradesh haben bereits angekündigt, Milizen nach dem Vorbild der Salwa Judum aufzustellen.

Mehrere lokale Beobachter glauben, die Regierung von Chhattisgarh verfolge mit ihrer Landvertreibungspolitik noch ein ganz anderes Ziel: Die Region soll industrialisiert werden. Die Bevölkerung von Chhattisgarh ist arm, doch das Land verfügt über Bodenschätze: Ein Fünftel der Eisenerzreserven Indiens lagern hier. Die Adivasis haben allerdings die Erfahrung gemacht, dass ihnen die industrielle Ausbeute nichts bringt. In der Mine von Bailadilla (1,2 Milliarden Tonnen Erz) werden sie nicht eingestellt, weil sie angeblich nicht genügend qualifiziert sind. Seit der Unabhängigkeit wurden Millionen von „Stammesangehörigen“ im Namen des wirtschaftlichen Fortschritts umgesiedelt, aus dem sie keinerlei Profit ziehen konnten.

In Kalinga Nagar im Nachbarstaat Orissa haben Adivasis ein Jahr lang eine Straße blockiert, um den Verkauf ihres Landes an den indischen Großkonzern Tata zu verhindern. Am 2. Januar 2006 wurden 13 Blockierer bei einem Zusammenstoß mit der Polizei getötet. „Wir haben dieses unfruchtbare Land fruchtbar gemacht“, erzählt Ravinda Jarekar, der Sprecher der Protestbewegung. „Keine Entschädigung kann es uns zurückgeben, und wir wissen, dass Tata uns nicht einstellen wird.“ Die Industrievorhaben in Chhattisgarh, Orissa und Jharkhand sollen Investitionen von insgesamt 30 Milliarden Dollar8 anlocken, aber überall weigern sich die Bauern, ihre Parzellen zu räumen.

Im Juni 2005, als Salwa Judum gegründet wurde und die Zwangsumsiedlungskampagne begann, unterschrieb die Regierung von Chhattisgarh Verträge mit den Industriegiganten Tata und Essar, die Minen und Stahlwerke errichten wollten, und verpflichtete sich, das entsprechende Gebiet „verfügbar“ zu machen. Der Vertrag enthält eine Geheimklausel, und die Regierung weigerte sich, sie den Abgeordneten der Opposition vorzulegen, obwohl das indische Gesetz dies verlangt.

Unheimlich ist auch die folgende Begebenheit: Im September 2006 zwang die Polizei die Dorfbewohner von Dhurli, ihr Land gegen eine geringe Entschädigung an den Konzern Essar abzutreten – in Anwesenheit von Mahendra Karma, dem Anführer von Salwa Judum.

Das Interesse der Industrie könnte auch die Eilfertigkeit der Regierung erklären, große Summen für Flüchtlingscamps auszugeben, die inzwischen zu richtigen Kleinstädten expandieren. Am Ende wäre es eine erzwungene Massenauswanderung der Adivasis von Chhattisgarh. Und wenn sie sich erst einmal in ihrem Provisorium auf Dauer eingerichtet, neue Arbeitsmöglichkeiten gefunden haben und soziale Bindungen eingegangen sind, dann werden sie sich zweifellos gern bereit erklären, ihre von „Terroristen“ heimgesuchten, brachliegenden Felder abzutreten.

Das indische Wirtschaftswachstum, das auf dem Dienstleistungssektor basiert und von einer schrumpfenden Landwirtschaft gebremst wird, braucht nichts dringender als industriellen Fortschritt. Da dieser jedoch zu oft mit Willkürmaßnahmen einhergeht, schreckt die Bevölkerung davor zurück. Es ist die Ungerechtigkeit, von der die naxalitische Bewegung profitiert. Das hat der Premierminister in seiner Rede an die Regierungschefs der Bundesstaaten selbst gesagt. Also müsste die beste Antwort auf die Rebellion ein funktionierender Rechtsstaat sein und nicht eine zweifelhafte Aufstandsbekämpfung, die die Menschen ihrer Freiheit beraubt.

Fußnoten: 1 Institute for conflict management, Neu-Delhi, 27. August 2007. 2 Institute for conflict management, Neu-Delhi, August 2007. 3 Institute for conflict management, „Left wing extremism in India“, Neu-Delhi, Oktober 2007. 4 Der Besuch eines lokalen Stützpunkts wurde uns nicht gestattet, da die Guerilla fürchtete, die Sicherheitskräfte könnten unseren Spuren folgen und eine Offensive starten. 5 Siehe Eric Paul Meyer, „Sri Lanka – der hoffnungslose Konflikt“, Le Monde diplomatique, April 2007. 6 Laut Unicef leiden 47 Prozent der indischen Kinder unter fünf Jahren unter mittlerer oder schwerer Unterernährung (1996–2005). Unicef, „Situation des enfants dans le monde 2006“, www.unicef.org/ french/sowc06/ (auch auf Englisch und Spanisch erhältlich). 7 In Indien leben 60 bis 70 Millionen Adivasi, sie bilden die größte Ureinwohnerbevölkerung der Erde. Die Adivasi, die häufig von den Erzeugnissen des Waldes leben, gehören zu den ärmsten Indern. Wie alle Minderheiten profitieren auch sie von den Quoten für „rückständige“ Kasten (siehe Dossier „Positive Diskriminierung“, Le Monde diplomatique, Mai 2007). 8 Schätzung des Finanzanalysten CLSA, Bombay, August 2006.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski Cédric Gouverneur ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 11.01.2008, von Cédric Gouverneur