Brief aus Buenos Aires
von Carlos Gabetta
Diese Stadt, die ich für meine Vergangenheit hielt, ist meine Zukunft, meine Gegenwart; die Jahre, die ich in Europa lebte, sind illusorisch immer war ich in Buenos Aires (und werde dort sein). Jorge Luis Borges
Trotz dieser Jugendliebe (das Gedicht „Vorstadt“ entstand 1923), die ihn zweifellos das ganze Leben hindurch begleitete, zog Borges es vor, in Genf zu sterben und beerdigt zu werden – in der Stadt, in der er in seiner Jugend gelebt und studiert hatte. Dies ist bloß ein scheinbarer Widerspruch. Im Prolog, den er 1969 für eine Neuausgabe von „Buenos Aires mit Inbrunst“1 schrieb, für das Buch, das dieses Gedicht enthält, erklärt Borges: „In jener Zeit suchte ich die Abendstunden, die Vorstädte und das Elend, jetzt die Morgenstunden, das Zentrum und die Heiterkeit.“
Tatsächlich war Buenos Aires, ja ganz Argentinien, 1969 alles andere als heiter. Drei Jahre zuvor hatte General Juan Carlos Onganía die demokratisch gewählte Regierung des friedlichen und fortschrittlichen Präsidenten Arturo Illía gestürzt. Seit 1930 hatten die Militärs immer wieder geputscht und wurden dabei von reaktionären Intellektuellen wie Borges unterstützt, für den Demokratie „eine Willkürherrschaft der Statistik“ war.
Von damals bis zum Militärputsch von 1976 konnte hier keine einzige demokratisch gewählte Regierung ihre reguläre Amtszeit zu Ende bringen. Erst mit der Niederlage der letzten und blutigsten Militärdiktatur (1976–1983) begann eine ununterbrochene demokratische Periode, die im Dezember in der Wahl von Cristina Fernández gipfelte. Sie ist nun die erste demokratisch gewählte Präsidentin Argentiniens.
Deshalb – wegen der vielfach enttäuschten Hoffnungen auf eine stabile Demokratie – war dieses Jahr 1969 das Jahr des Aufstands der argentinischen Gesellschaft, ihrer Arbeiter, ihrer Mittelschicht, ihrer politischen Parteien und Gewerkschaften und ihrer Jugend, die sich unisono erhoben und der Heiterkeit ein Ende setzten, die sich die Oberschicht wünschte, dieselbe Oberschicht, die Militärputsche unterstützte und der auch Borges angehörte.
In jenen Jahren des breiten Widerstands gegen die Diktatur entstanden zwei große argentinische Guerillagruppen: die linksperonistischen „Montoneros“ und das marxistisch-leninistische „Revolutionäre Volksheer“ (ERP). Beide strebten eine sozialistische Revolution an – mit unterschiedlichen Nuancen.
Too much für den großen Schriftsteller (er war, das ganz ohne Ironie, ein sehr großer Schriftsteller), der Englisch von seiner Mutter und Französisch in Genf gelernt hatte. Es war auch zu viel für die argentinische Oligarchie, die 1976 den Militärputsch und die sich anschließende blutige Diktatur von General Videla unverhohlen unterstützte.
Wobei ich mit Oligarchie den Teil der argentinischen Oberschicht meine, dessen Vermögen im Besitz riesiger Ländereien besteht. In der Regel wurden diese Ländereien im 19. Jahrhundert in Besitz genommen und im selben Zuge die Indianer und die einheimische Bevölkerung vertrieben oder massakriert. So kam die innige Beziehung zwischen Militärs und Oligarchie zustande: Die Militärs vertrieben die Indianer, besetzten ihr Land und behielten es. Wirtschaftlich und kulturell orientierte sich diese soziale Gruppe immer an Europa. Wenn man unter sich ist, spricht man gern Englisch oder Französisch …
Was würde der Feingeist Jorge Luis Borges über das heutige Buenos Aires, über das heutige Argentinien sagen? Die Demokratie scheint gefestigt, gewiss. Aber die zivile politische Führung, die auf die letzte Militärherrschaft folgte, war – von Ausnahmen abgesehen – nicht auf der Höhe der Zeit.
Der erste demokratisch gewählte Präsident, Raúl Alfonsín (1983–1989), brachte den Mut auf, General Videla und seine Lakaien Emilio Massera und Basilio Lami Dozo auf die Anklagebank zu setzen und wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen zu lassen. Aber unter dem Druck der Militärs und der Wirtschaft lavierte er zunehmend und übergab schließlich den Kommandostab vorzeitig an seinen Nachfolger, den Peronisten Carlos Menem (1989–2000).
Die Regierung Menem war, um es in wenigen Worten zu sagen, die allerkorrupteste in der Geschichte unseres Landes, das schon viele korrupte Regierungen über sich ergehen lassen musste, sowohl militärische wie auch zivile. Ein Beispiel bringt es auf den Punkt: Als Luis Barrionuevo, ein Gewerkschaftsführer, den Menem zum Arbeitsminister ernannte, nach der Herkunft seines Privatvermögens gefragt wurde, antwortete er lapidar: „In diesem Land wird niemand durch Arbeit reich.“
Außerdem war Carlos Menem der eifrigste Musterschüler des Neoliberalismus in Lateinamerika. In zehn Jahren verdreifachten sich die Auslandsschulden, stiegen auf 180 Milliarden Dollar, obwohl das Land durch die Privatisierung all seiner staatlichen Unternehmen, einschließlich der Öl- und Gasindustrie, 40 Milliarden eingenommen hatte. Als der argentinische Kongress das Gesetz über die Privatisierung des Energiesektors verabschieden wollte, verließ die Opposition den Saal. Damit fehlte das notwendige Quorum für die Abstimmung. Die Peronisten ließen dann einfach einige ihrer Freunde, die gar keine Abgeordneten waren, auf den frei gewordenen Bänken Platz nehmen. Ich habe damals in dieser Zeitung darüber geschrieben.2
Diese chaotischen Zustände setzten sich unter Menems Nachfolger Fernando de la Rúa von der Unión Cívica Radical fort, der Radikalen Bürgerunion, die aus dem politischen Liberalismus kommt. „Radikal“ in der deutschen oder englischen Bedeutung des Wortes ist an dieser Partei freilich gar nichts. Im Dezember 2001 brach unser Land dann buchstäblich zusammen. Die Auslandsschulden waren untragbar und unbezahlbar geworden. Die neoliberale Politik hatte die einst florierende nationale Industrie ruiniert und eine niederschmetternde soziale Bilanz hinterlassen: In Argentinien, das sich über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg rühmen durfte, das egalitärste Land Lateinamerikas zu sein, hatte sich die Schere zwischen Arm und Reich so weit wie kaum in einem andern Land geöffnet. Eine Riesenfaust war auf die Mittelschicht niedergegangen und hatte ein paar wenige Leute ins Lager der Reichen geschleudert und die große Mehrheit ins Elend gestoßen.
Noch viel schlechter ging es den Arbeitern: Der Anteil der Löhne am nationalen Gesamteinkommen war auf das Niveau des 19. Jahrhunderts zurückgegangen. 40 Prozent der Arbeitsplätze waren im informellen Sektor, und die Arbeitslosigkeit lag bei über 20 Prozent. Als Folge davon lebten fast zwei Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, ein Fünftel sogar in absoluter Armut. Und dann konfiszierten die Banken auch noch die Ersparnisse ihrer Kunden.
Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein Volksaufstand mit Straßenkämpfen und klappernden Topfdeckeln zwang de la Rúa abzudanken. Und nach einigen institutionellen Häutungen wurde Néstor Kirchner, wieder ein Peronist, zum Präsidenten gewählt.
Damals war die Republik Argentinien wirtschaftlich, finanziell, institutionell, gesellschaftlich und moralisch auf dem Tiefpunkt angelangt. Die starke Abwertung des Pesos (um 300 Prozent), eine für den Export argentinischer Produkte günstige internationale Wirtschaftslage, die Neuverhandlung der Auslandsschulden und eine vernünftige Regierung, die auf Exporte setzte, die industrielle Entwicklung förderte, die Löhne mäßig erhöhte und den Ärmsten Sozialhilfe zukommen ließ, bewirkten das Wunder: Die Wirtschaft zeigte über mehrere Jahre hinweg nahezu chinesische Wachstumsraten von 8 Prozent im Jahr, der Staatshaushalt ist ausgeglichen, die Arbeitslosigkeit und die Schwarzarbeit wie auch die Armut allgemein gingen zurück.
Man kann also sagen, dass Argentinien dabei ist, die Krise zu überwinden. Die meisten Probleme bleiben jedoch bestehen: vor allem die Armut, die Schwarzarbeit, die allgegenwärtige Korruption in Unternehmen, Politik, Gewerkschaften und Institutionen, Armee und Sicherheitskräfte eingeschlossen.
Die neue Präsidentin Cristina Fernández hat in flammenden Reden versprochen, die Probleme anzupacken. Das ist keine leichte Aufgabe. Denn die Probleme sind nicht von heute auf morgen zu lösen, und die Feinde des Wechsels sind mächtig. Aber wir Argentinier scheinen (bisher ist es nicht mehr als scheinen) das Ausmaß unserer Probleme begriffen zu haben.
Buenos Aires ist nicht mehr die helle und fröhliche Stadt, die Jorge Luis Borges gesehen hat: wo elegante Leute lebten, wo es natürlich auch ärmere Viertel gab – aber selbst dort konnte man in Würde leben. Jetzt ist unsere Stadt ein gigantisches, schmutziges und lärmendes Konglomerat, nachts heimgesucht von tausenden Elenden, die den Abfall durchsuchen, bevor ihn die miserabel funktionierende städtische Müllabfuhr fortschafft.
Würde Jorge Luis Borges heute aufwachen, wäre er froh, sich für Genf als letzte Ruhestätte entschieden zu haben. Aber diejenigen, die seine politischen Ideen nie geteilt haben – so sehr sie seine Literatur auch bewundern mö-gen –, kämpfen Tag für Tag weiter darum, dass dieses Land ein für allemal eine Republik wird, die diesen Namen verdient: frei, gleich und brüderlich.
Aus dem Spanischen von Thomas Schmid Carlos Gabetta leitet die Cono-Sur-Ausgabe von Le Monde diplomatique in Buenos Aires. © Le Monde diplomatique, Berlin