Der Sound der Straße
Die Musikindustrie ärgert ihr kreatives Umfeld von Thomas Blondeau
Atlanta, am 10. Juni 2007. Nach einer kurzen Vernehmung durch FBI-Beamte landeten der 28-jährige Tyree Simmons, besser bekannt als DJ Drama, und sein 27-jähriger Geschäftspartner Donald Cannon (DJ Don Cannon) im Gefängnis. In den Räumen ihrer Plattenfirma Aphilates Records in der Walker Street 147 beschlagnahmte die Polizei nach Auskunft von Sheriff Jeffrey C. Baker „81 000 raubkopierte CDs, vier Fahrzeuge, Aufnahmegeräte, Brenner und stapelweise CD-Rohlinge“.
Die Verhaftung eines der bedeutendsten Underground-Impresarios des amerikanischen Hiphop folgte auf eine Anzeige der Recording Industry Association of America (RIAA). Die Musikindustrie ist besorgt über die wachsende Zahl von Mixtapes – längst nicht mehr Tonbandkassetten, sondern selbst gebrannte CDs –, die nicht mehr nur in der Szene zirkulieren, sondern immer häufiger regulär über den Ladentisch gehen. Mixtapes bestehen meist aus Kompilationen oder Mischungen existierender Tracks. Trotz ihrer improvisatorischen Elemente und originären Beiträge verurteilt sie die Industrie als Diebstahl geistigen Eigentums.
Tyree und Cannon wurden gegen eine hohe Kaution freigelassen. Sollten sie nach dem Gesetz zur Bekämpfung mafiöser und Bandenkriminalität (Rico) von 19701 angeklagt und verurteilt werden, drohen beiden lange Gefängnisstrafen. Unmittelbar nach ihrer Festnahme ging die Polizei auch in New York und elf weiteren Städten der USA gegen DJs und Ladenbesitzer vor. Der RIAA-Vorsitzende Brad Buckles wirft den Musikern vor, „Raubkopien von urheberrechtlich geschützten Musikstücken“ in Umlauf zu bringen. Indirekt macht er damit DJ Drama und die anderen für die finanzielle Flaute der Musikindustrie verantwortlich. Während der Markt für Mixtapes seit 2000 wächst, ging der Absatz von CDs 2006 um 12,8 Prozent zurück. Im gleichen Jahr sank weltweit der Umsatz der Industrie um 6,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.2
Die jüngste Verhaftungswelle bildete den Höhepunkt einer Serie von Durchsuchungen und Beschlagnahmungen, mit der die US-Polizei seit 2004 gegen unabhängige Produzenten und Verkäufer von Mixtapes vorgeht. Mit der Verhaftung von DJ Drama hat die Auseinandersetzung eine neue Qualität erreicht. Es geht nicht mehr nur um den Schutz des geistigen Eigentums. Hier stellt sich vielmehr die Frage, wie es mit der US-Plattenindustrie überhaupt weitergeht. Ein Mixtape ist nicht einfach eine raubkopierte CD, wie die Vertreter der Branche immer wieder behaupten, sondern eine künstlerische Eigenleistung und das wichtigste Medium der Hiphop-Szene. Und die Industrie ist von diesem Medium sogar selbst weitgehend abhängig und hat in den vergangenen 20 Jahren bei der Entdeckung und Vermarktung neuer Musiker mit den Mixtape-DJs Hand in Hand gearbeitet.
Der Angriff der Majors scheint vielmehr Ausdruck einer tiefer gehenden Krise der amerikanischen Kulturindustrie insgesamt zu sein. Anfang der 1980er-Jahre dominierten Rockkonzerte die großen Veranstaltungshallen. Rap war damals noch eher eine Randerscheinung, und sein angestammtes Terrain die Straße. Die großen Plattenfirmen zeigten sich zunächst nicht sonderlich interessiert daran, dieser neuen Kultur ein Sprungbrett zu bieten, aber in der Independent-Szene wurde schon früh das Potenzial des Hiphop erkannt: 1979 produzierte Sylvia Robinsons Label Sugar Hill Records den Hit „Rapper’s Delight“ von der Sugarhill Gang – einer Gruppe, die Robinson selbst initiiert hatte. Die Rapperszene organisierte aber auch eigenständig den Vertrieb ihrer Künstler: Dabei spielten DJs als Produzenten eine zentrale Rolle.
Das Mixtape war und ist das wichtigste Ausdrucksmittel dieser musikalischen Parallelwelt. Mit ihren handwerklich improvisierten Aufnahmen produzieren die DJs einen Mix aus eigenen Stücken, bekannten Instrumentalpassagen aus der Popgeschichte, ganz persönlichen „Juwelen“ und schrillen Geräuschen, wie Polizeisirenen oder Schüssen. Mit zwei CD-Spielern wird das Material gemischt und montiert. Dann lädt der DJ verschiedene Rapper dazu ein, das explosive Tongemisch mit Reimen anzureichern, die sich auf keinem offiziellen Album finden lassen. Sie variieren ihre bekanntesten Strophen oder liefern sich verbale Schlachten mit Rivalen – und das alles im derbsten Slang, der im offiziellen Radio verboten ist.
Das Mixtape entstand in einer Zeit, als es noch kaum Rap-Alben gab, und es ist noch immer die kreative Bastion des Hiphop. „Das Mixtape ist so etwas wie eine Straßenzeitung“, sagt DJ Green Lantern, der eine Zeit lang der „official DJ“ von Eminems Label Shady Records war. „Da erfährt man, wer gerade angesagt ist und was sich in der Szene so abspielt.“ So übernehmen Mixtapes in gewisser Weise die Rolle der kleinen Radiosender, die seit dem Telecommunication Act von 1996 einer wahren Fusionswut innerhalb der Branche zum Opfer fielen.
„Ein Mixtape ist etwas ganz anderes als die Platte eines großen Labels“, sagt auch der französische DJ und Produzent Mars. „Es ist das Medium der Straße. Mixtapes gehören in eine andere Welt, und sie werden innerhalb einer kleinen Szene vertraulich weitergereicht.“ Schon deshalb kann man ein Mixtape nicht mit der Raubkopie einer CD aus dem regulären Vertrieb gleichsetzen.
Die Musikindustrie weiß das nur zu gut. Sie hat es bisher auch immer verstanden, von dieser Kreativität zu profitieren. Die DJs haben den direkten Draht zum Publikum auf der Straße und deren potenziellen künftigen Stars. Sie dienen den Majors als Talentscouts, und sie tragen ein kommerzielles Risiko, wenn sie unbekannten Rappern erstmals ein Forum bieten.
Das Mixtape ist die erste größere Hürde für die jungen Musiker und ein Puffer zwischen der Straße und den Majors, denn große Plattenfirmen scheuen das Risiko, einen Künstler unter Vertrag zu nehmen, der sich in der Szene nicht schon durchgesetzt und einen gewissen Ruhm erreicht hat.
Der kometenhafte Aufstieg von Rappern aus Memphis, Atlanta, Houston und anderen Städten im Süden der USA wäre ohne die Mixtapes von DJ Drama undenkbar gewesen. Die heutigen Stars Lil’ Wayne, T.I. und Young Jeezy sind inzwischen alle bei einem Major unter Vertrag. „Im Hiphop läuft das anders als bei der Rockmusik“, erklärt DJ Green Lantern. „Als Rapper macht man nicht einfach fünf Probeaufnahmen und schickt sie einer Plattenfirma. Im Hiphop hat die Straße das Wort. Die Straße redet auf den Mixtapes. Und wenn die Straße redet, hören die Labels besser gut zu.“
Kein Musiker, der später von den Majors zum Star gemacht wurde, ist aus diesem System ausgeschert. „Ausnahmslos alle haben auf den Mixtapes begonnen“, sagt Lloyd Banks, ein Rapper und Freund von 50 Cent, dem zur Zeit erfolgreichsten Hiphop-Musiker.3 „Die DJs haben auf der Straße für uns die Werbetrommel gerührt. Das gilt für 50 Cent, für Young Buck, Jeezy und alle anderen.“ DJ Sickamore aus Brooklyn stimmt zu: „Die Industrie wäre ohne uns aufgeschmissen. Die Produzenten wollen von uns wissen, welche Rapper gerade im Kommen sind. Die sind am Ende. Es dauert nicht mehr lange, dann ist das unser Job.“
Die starke Werbewirksamkeit von Mixtapes erklärt, warum die Musikkonzerne bis Ende der 1990er-Jahre noch mit den DJs zusammenarbeiteten. Denn wenn ein Musiker von einem bekannten DJ eingeladen wurde, erhöhte das sein Ansehen in der Szene. Obwohl sich die DJs nicht um Aufführungs- oder Urheberrechte kümmerten, erzählt DJ Kay Slay, einer der Nabobs der Mixtape-Szene, „schicken sie uns selbst ihre neuen Stücke, weil sie hoffen, auf irgendeinem Mixtape zu landen. Das ist kostenlose Werbung für ihre Künstler oder auch ein Testlauf, um zu sehen, wie jemand bei den Leuten ankommt.“
Die besten Tapes werden unterm Ladentisch gehandelt
Mit der Verhaftung von DJ Drama scheint nun klar, dass die Majors die stillschweigende Übereinkunft aufkündigen – obwohl sich die Dinge eigentlich zu ihren Gunsten entwickelten. „Das neueste Album von Lil’ Wayne“, schrieb die New York Times im Januar 2007 über dessen Platte „Tha Carter II“, „wurde über eine Million Mal verkauft, obwohl die Tracks kaum im Radio gespielt wurden und keine der ausgekoppelten Singles über den 32. Platz in den Charts hinauskam. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Ergebnis ohne die Hilfe eines DJs zustande gekommen sein soll.“4
Als Kunstwerk und mächtiges Werbemittel ist das Mixtape eine Goldgrube für die Industrie. Die Stars des Rap halten jedoch ihrer alten Szene die Treue und liefern auf Mixtapes Reime, die an den offiziellen Kanälen ihrer Bosse vorbeigehen. Selbst ein Star wie Eminem, der bis heute 70 Millionen Platten verkauft hat, muss seinen guten Ruf pflegen und auf der Straße präsent sein – dafür nutzt er die langen Pausen zwischen dem Erscheinen seiner Alben bei Universal Music.
Wäre die Musikindustrie nicht so starr und schwerfällig gewesen, würde es vermutlich keine Mixtapes geben. Die Planwirtschaft der Musikindustrie steht in einem krassen Missverhältnis zur schöpferischen Energie des Hiphop. Manchmal scheint es sogar, als habe sich der Hiphop nur deshalb am Leben erhalten können, weil er immer eine eigene Strategie verfolgt und an der Kulturindustrie vorbei einige der brillantesten Mixtapes verbreitet hat, deren DJs zu Stars wurden und die die Verkäufer reich gemacht haben.
Wie ist nun die Kriegserklärung der RIAA zu verstehen? Gesteht eine alteingesessene Branche damit nicht ihr Versagen ein, weil sie sich nie an das Phänomen Hiphop hatte gewöhnen können? Mit ihrer hartnäckigen Verachtung gegenüber diesem informellen Markt, der dank der Gerissenheit und genialen Intuition einiger unkonventioneller Kapitalgeber Gewinne abwarf, haben sich die Majors selbst um das große Geschäft gebracht. „Die Labels sind sauer, weil es ihnen nicht gelungen ist, auf den fahrenden Zug zu springen“, erklärt DJ Green Lantern. „Den Hiphop gab es schon, bevor sich die Konzerne für ihn interessiert haben, und es wird ihn auch weiterhin geben. Die DJs können sehr gut ohne die Plattenfirmen leben. Es geht den Firmen also gar nicht um die Rechte auf ein paar Instrumentalpassagen, sondern darum, den Handel unter ihre alleinige Kontrolle zu bekommen.“
Nach der Offensive der Industrie halten sich etliche DJs fürs Erste zurück. Im ersten Halbjahr 2007 ist in den USA die Zahl der verkauften Mixtapes zurückgegangen – ein Hinweis, dass in der Szene die Angst umgeht. In Frankreich, dem weltweit zweitgrößten Hiphop-Markt, gilt noch das Prinzip der Toleranz, obwohl die Mixtapes eines JR Ewing oder DJ Junkaz Lou nach demselben Prinzip funktionieren wie in den USA und inzwischen auch massenhaft in Umlauf gebracht werden. Auf längere Sicht lässt sich das Phänomen Mixtape nicht damit aufhalten, dass man einige Sündenböcke verhaften lässt.
Musiker und DJs wissen zwar sehr gut, dass ihre Arrangements urheberrechtlich gesehen nicht astrein sind. Sie wissen aber auch, dass „die Firmen alles monopolisieren und den Rap verkaufen wollen, wie man auch Bananen verkauft. Sie wollen sich unter den Nagel reißen, was eigentlich den Musikern gehört. Das Mixtape wird sich nie in dieses Schema pressen lassen. Wenigstens das bleibt uns noch. Wenn sich die Majors damit nicht abfinden wollen, sollen sie sich zum Teufel scheren“ – so Chuck D., der Kopf und Produzent von Public Enemy. Seit 25 Jahren nehmen Rapper ihre Reime auf. Und sie werden das auch weiterhin tun.
Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Thomas Blondeau ist Journalist und Autor (mit Fred Hanak) von „Combat Rap: 25 ans de hip hop“, Paris (Castor Music) 2007.