Gruseltourismus in Nordirland
Republikaner und Loyalisten führen einen Kampf um Symbole – im Museum von Benoît Lety
Schüsse, Schreie, eine Menschenmenge in Panik. Mit historischen Film- und Tonbandaufnahmen in Endlosschleifen beschwört das „Museum of Free Derry“ im Herzen des republikanischen Bogside-Viertels im nordirischen Londonderry den „Bloody Sunday“ herauf. An jenem 30. Januar 1972 endete eine Demonstration für die Bürgerrechte der katholischen Minderheit1 in einem Gemetzel.
Dreizehn überwiegend junge Demonstranten starben durch die Kugeln britischer Fallschirmjäger. Im Museum kann man die durchlöcherten, blutbefleckten Kleidungsstücke besichtigen, einen Babystrampelanzug und den Verband, mit dem man vergeblich versucht hatte, die Blutungen aus Michael Kellys Wunde zu stoppen. Er war der kleine Bruder von John Kelly, der das Museum im Sommer 2006 eröffnet hat. Gleich daneben: ein Foto von John Young, er lächelt; die Bildlegende erklärt, dass Young, wie Michael Kelly damals 17 Jahre alt, an einem Kopfschuss starb.
Die Hälfte des Museums ist der Tragödie vom 30. Januar gewidmet. An einer Wand lehnen vierzehn Holzkreuze mit den Namen der Opfer; das vierzehnte Kreuz erinnert an John Johnston, der vier Monate später im Alter von 59 Jahren seinen Verletzungen vom „blutigen Sonntag“ erlag. Am Ende des Gangs hängt ein zeitgenössisches Plakat, auf dem in Großbuchstaben steht: „Don’t fraternise“ – „Fraternisiert nicht!“
Nur 500 Meter vom Museum entfernt taucht man in eine andere Welt ein. In der kleinen protestantisch-loyalistischen Enklave von Fountain – der letzten im katholischen Teil Londonderrys – widmet sich ein Museum der Geschichte der Kriegskunst. Den Vorwurf der Parteilichkeit weist William Jackson, Gründer und Leiter des „Heritage Tower“, entschieden zurück. Dabei sind in seinem Museum im Wesentlichen britische Militäruniformen und -abzeichen aus verschiedenen Epochen ausgestellt. Wie im „Free Derry“-Museum findet sich auch hier eine Uniform der B-Specials, die die Republikaner als „eine 1969 aufgelöste fanatische Polizei-Reserveeinheit“ bezeichnen. Nur steht hier auf der Legende neben dem Schaukasten: „Für Gott und Ulster, in Erinnerung an die B-Specials, die demobilisiert wurden, weil sie loyal waren.“
Die Republikaner sagen, sie hätten die britische „Kolonialherrschaft“ bekämpft, die Loyalisten halten dagegen, es habe sich um einen Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten gehandelt, bei dem ihnen die Irisch-Republikanische Armee (IRA) das Messer an die Kehle gesetzt habe. Beide Parteien werben mit den Museen um Verständnis für ihren Kampf. Sie organisieren „Taxitouren“ und Stadtrundgänge durch die Arbeiterviertel. Es werden auch Exkursionen zum Hochsicherheitsgefängnis Maze Prison angeboten, in dem paramilitärische Kämpfer beider Seiten interniert waren. Ende 2000 wurde das Gefängnis geschlossen.
Fast zehn Jahre nach dem verharmlosend als „Troubles“2 bezeichneten Nordirlandkonflikt hat sich der Tourismus als neue Kampfzone herausgebildet. Bis 1998 schreckte die kleinste Provinz des Vereinigten Königreichs Besucher eher ab, weil sie als unsicher galt. Seit dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 19983 jedoch ist die Zahl der Touristen in Belfast von 200 000 auf 1,2 Millionen jährlich gestiegen, was 280 Millionen Euro zusätzlich einbringt. Fachleute sagen für dieses Jahr einen neuen Besucherrekord voraus, sofern der politische Prozess keinen Rückschlag erleidet.
Während das nordirische Fremdenverkehrsamt vor allem den „Giant’s Causeway“ („Damm des Riesen“), den Hafen von Belfast, in dem einst die „Titanic“ gebaut wurde, und die grün bewachsene Felsküste anpreisen, schlachten private Veranstalter erfolgreich die historisch-politischen Verwerfungen aus. In Belfast lassen sich 35 Prozent der Besucher in Cabriobussen durch die loyalistischen und republikanischen Arbeiterviertel kutschieren; auf dem Programm steht unter anderem die Erläuterung der politischen Wandgemälde.
Das Geschäft mit politischen Stadtführungen boomt
Elf Prozent machen von dem Angebot einer politischen Stadtrundfahrt in Belfasts „schwarzen Taxis“ Gebrauch. „Die Touristen wollen vor allem die Viertel sehen, in denen die Kämpfe stattgefunden haben. Aber das ist ja sowieso fast das Einzige, was wir hier zu bieten haben“, gesteht Joe Lavelle, der Besitzer von „City Sight Seeing Belfast“. Mit einem Bus fing Lavelle vor vier Jahren an, heute hat er elf.
Die Republikaner haben schnell verstanden, dass sich das Interesse der Ausländer für ihre Geschichte in klingende Münze verwandeln lässt. Bereits Ende der 1990er-Jahre erkannte Gerry Adams, Sinn-Féin-Vorsitzender und Abgeordneter des überwiegend katholischen Westbelfast, dass der Polittourismus seinem Wahlkreis wirtschaftlichen Aufschwung verspricht. Die Vereinigung der Taxifahrer von Westbelfast begann, Stadtführungen anzubieten, und ein eigenes Tourismusbüro für Westbelfast wurde eröffnet.4
Seit Anfang 2007 bietet eine Initiative von Exhäftlingen, also ehemaligen bewaffneten Kämpfern täglich Rundgänge durch republikanische Viertel an. Sie nennen sich „Coiste“ (Irisch für „Gemeinschaft“) und arbeiten inzwischen auch für Derry5 und South Armagh politische Rundgänge aus.
Der ehemalige IRA-Häftling Padraic McCotter, einer der Stadtführer von „Coiste“, verteidigt die republikanische Sache, wenn er die Wandmalereien kommentiert. „Ich umgebe mich nicht mit einem Heiligschein für meine Taten. Ich erkläre einfach nur, was ich getan habe.“
Ein schwedischer Tourist stört sich nicht an der einseitigen Stadtführung, die mit einem Gruppenfoto vor der irischen Unabhängigkeitserklärung endet: „Es ist wichtig, sich direkt an der Quelle zu informieren. Ich jedenfalls höre mir lieber jemanden an, der die Unruhen als Beteiligter selbst miterlebt hat.“ Und McCotter ergänzt: „Ich will ja nicht über die offiziellen Stadtführungen herziehen, aber da wird der Konflikt ganz schön vereinfacht dargestellt. Da wird daraus nur ein Kampf zwischen den verfeindeten Gruppen der Protestanten und Katholiken, bei dem die Briten lediglich versuchten, mäßigend einzuwirken.“
„Uns wirft die Presse immer wieder vor, dass wir hier ‚Terrortouren‘ veranstalten würden“, bedauert Sean MacBradaigh von „Coiste“, „aber unsere Version der Geschichte interessiert die Leute eben.“ Während er auf dem pädagogischen Mehrwert der Führungen beharrt, rechtfertigt er zugleich, dass er und seine Organisation ein eher konfliktträchtiges Bild von Nordirland zeichnen. „Wir können doch nicht einfach alles, was war, vergessen, schließlich ist der Konflikt ja auch noch nicht gelöst. Die sechs Grafschaften6 sind nach wie vor besetzt, und auch die massive Segregation besteht unverändert fort. An unserem Wunsch nach Unabhängigkeit hat sich nichts geändert.“
Gewiss hat sich die Einstellung beider Gemeinschaften seit Ende der 1990er-Jahre gewandelt. Bei zahlreichen Projekten arbeitet „Coiste“ mit „Epic“ (Ex-Prisoner Interpretive Centre) zusammen, der Vereinigung loyalistischer Exhäftlinge. Seit knapp einem Jahr organisiert „Coiste“ auf Wunsch politische Mammutführungen von sechs Stunden durch Westbelfast, die sowohl das republikanische Viertel Falls Road als auch die protestantische Shankill Road auf der anderen Seite der „Friedensmauer“ umfassen. „Beide Seiten haben akzeptiert, dass es eine andere Seite gibt. Das ist es, was man zeigen muss“, erklärt William Smith, Sprecher von „Epic“, Exhäftling und ehemaliges Mitglied der Ulster Volunteer Force.
So unproblematisch ist die Zusammenarbeit freilich nicht immer. South Armagh galt während des Nordirlandkonflikts als die wichtigste ländliche Hochburg der republikanischen Paramilitärs. Britische Medien und Politiker bezeichneten es gern als „bandit country“. Zugleich lag hier der am meisten frequentierte Militärhubschrauberlandeplatz Europas. Erst im Juni 2006 zogen die letzten britischen Soldaten aus der Gegend ab.
Das mit einem reichen, aber touristisch kaum erschlossenen Kulturerbe gesegnete Land hat in den letzten drei Jahren einen außerordentlichen Besucherboom erlebt. Ob politisch ausgerichtet oder nicht, die entsprechenden Angebote üben auf neugierige Ausländer und auf Nordiren, die sich in das einst unzugängliche „Banditenland“ wagen, eine starke Anziehungskraft aus.
„Coiste“ bietet hier seit einigen Jahren Rundreisen an und erhält dafür staatliche Subventionen von der Tourismusinitiative South Armagh (Sati). William Frazer, der selbst ernannte Beschützer der Angehörigen protestantischer IRA-Opfer in dieser überwiegend von Katholiken bewohnten Region, muss ohne eine solche Unterstützung auskommen. Frazer leitet die Opfervereinigung „Families Acting for Innocent Relatives“ (Fair). Der Oranier, der mehrfach erfolglos bei Wahlen antrat, hat vehement gegen die Regierungsbeteiligung der „Terroristen“ von Sinn Féin gekämpft. Auch er organisiert Rundreisen durch South Armagh. Sie sollen zeigen, wie es den Protestanten damals erging.
Schlacht der Erinnerungen
„Die Republikaner konnten dank ihrer ‚Touren‘ ihre Taten rechtfertigen, was wir versäumt haben. Ich versuche, unsere Wahrheit bekannt zu machen. Damit man nicht immer nur dieselbe Geschichte von den Freiheitskämpfern der IRA hört, die gegen die britische Armee gekämpft haben. Denn so war es nicht. Das waren Mörder. Schlächter. Wir erzählen unsere Geschichte, weil wir nicht wollen, dass sich so etwas wiederholt. Häufig kommen amerikanische Studenten für ihre Recherchen zu uns. Normalerweise haben sie Sympathien für die Republikaner, aber nach dem Besuch sehen sie die Sache anders.“ Und so beschuldigen sich Frazer und Caira Reel, die „Coiste“ in South Armagh vertritt, gegenseitig, den Terror zu verherrlichen und den Hass weiterzuschüren.
Anders als in Londonderry und South Armagh gibt es in Belfast ein paar unabhängige Reiseführer, die die permanente Polarisierung der einseitigen Besichtigungstouren nicht mitmachen. Die fünf Taxen von „Belfast Taxi Tours“ fahren die Besucher sowohl durch republikanische als auch loyalistische Viertel. Auf ihrer Route liegen Wandmalereien, Gedenktafeln, Schauplätze von Attentaten und sogar Wohnungen ehemaliger Terroristen. Von diesen unabhängigen Führern erwartet man, dass sie den Touristen ein objektives Bild vermitteln – eine schwierige Aufgabe in einem Land, in dem selbst Leute, die meinen, sie hätten die politischen Grenzen überwunden, sich allein dadurch verraten, dass sie eine bestimmte Schule besucht haben oder Fans einer bestimmten Fußballmannschaft sind.
Auch die Reiseführer im traditionellen Tourismusgewerbe bemühen sich um eine möglichst objektive Darstellung. Barbara Ferguson etwa, die gegenüber den Touristen ihre politische Herkunft verschweigt, führt Gruppen durch South Armagh, jedoch nicht um ihnen die alten Konfliktherde, sondern vielmehr um das Kulturerbe der Grafschaft zu zeigen. Nicht einmal sie kann sich der Geschichte der Gewalt in der Region entziehen. „Ich möchte mein Geld nicht mit dem Tod von Menschen verdienen. Aber 2000 habe ich mal eine Führung für einen deutschen Touristen gemacht. Am Ende unserer Tour sagte er, er würde nicht gehen, bevor ich ihm nicht von den Unruhen erzählen würde. Da habe ich begriffen, dass ich um das Thema nicht herumkomme.“
Auf offizieller Seite herrscht Unbehagen über den Aufschwung des Polittourismus. Auf der Website des nordirischen Fremdenverkehrsamts ist nur äußerst vage von der gewalttätigen Vergangenheit die Rede.7 Die Tourismusbüros in Belfast, Londonderry und South Armagh räumen zwar ein, dass die Geschichte ihrer Stadt oder Region eine beträchtliche Anzahl von Besuchern anzieht, bemühen sich aber insgesamt eher andere Attraktionen in den Vordergrund zu stellen.
Auch die Politik ist gespalten. Während die Sinn Féin den Polittourismus fördert, ist die Belfaster Stadträtin Diane Dodds, Mitglied der Democratic Unionist Party von Premierminister Ian Paisley, regelrecht angewidert davon, dass die Bewohner der Arbeiterviertel sich vorkommen müssen, als wären sie im Zoo, wie „Affen im Käfig, die von Touristen angestarrt werden“.
Und Pat McCarthy, nationalistischer Exbürgermeister der Hauptstadt, beklagt, dass von dieser Art Tourismus „ehemalige paramilitärische Kämpfer“ profitieren, „die nichts anderes getan haben, als die Stadt zu zerstören und Menschen umzubringen“.8
Um das Image von der aggressiven Provinz loszuwerden, unterstützt die Regierung Gemeinden, die bereit sind, ihre paramilitärischen Wandgemälde zu entfernen oder sie umzugestalten. Im Juli des vergangenen Jahres zogen die traditionellen Märsche, mit denen die Oranier an den Sieg des Protestanten Wilhelm von Oranien über den Katholiken Jakob II. im Jahr 1690 erinnern, zur allgemeinen Überraschung zahlreiche Besucher aus dem Ausland an.
Das nordirische Fremdenverkehrsamt bot dem Oranierorden daraufhin seine Unterstützung an, um die Marschsaison familiärer und freundlicher zu gestalten. Die neuen Gäste sollten nicht verschreckt werden. Doch auch die Behörden können kaum verhindern, dass Loyalisten und Republikaner sich nach dreißig Jahren Konfrontation künftig der Erinnerungslandschaften bemächtigen. Und so setzen beide Seiten ihren Kampf auf andere Weise fort.
Aus dem Französischen von Michael Adrian Benoît Lety ist Journalist.