Leistungsträger Mutter Erde
Der neue Klimaatlas von Le Monde diplomatique: Was vor allem Skeptiker über das Weltklima wissen müssen von Philippe Bovet und Agnès Sinaï
Die Ökosysteme in ihrer heutigen Gestalt sind entstanden, als vor zwanzig Millionen Jahren die Eismassen zu schmelzen begannen und sich die heutige Geografie herausbildete. Während dieser fünftausendjährigen Übergangsperiode erwärmte sich die Erde um etwa 5 Grad Celsius. Aus diesem Beispiel lässt sich ableiten, dass sich der langfristige natürliche Temperaturwandel auf dem Planeten in der Größenordnungen von schätzungsweise einem Grad pro Jahrtausend vollzieht.
Unser aktuelles Problem besteht nun darin, dass sich bis 2050 der CO2-Ausstoß (und Hauptverursacher des Treibhauseffekts) verdoppeln könnte, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Die Folge wäre, dass die Erdtemperatur mindestens zehnmal so schnell zunehmen würde wie im durchschnittlichen Rhythmus seit der letzten Eiszeit. Wenn der Verbrauch fossiler Energien weiter so stark ansteigt wie derzeit werden sich – nach Aussagen der Internationalen Energieagentur IEA – allein die daraus resultierenden CO2-Emissionen im Jahr 2030 auf 40 Gigatonnen summieren – das wären 55 Prozent mehr als 2004.1
Demnach könnte sich die Erde bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um 2,4 bis 6,4 Grad erwärmt haben. So steht es im jüngsten Bericht des Weltklimarats IPCC, der den Eintritt in eine neue Klimaepoche prognostiziert, wobei die relativ große Bandbreite der Prognosen auf die unterschiedlichen Szenarien zurückgeht.2 Ein solcher Temperaturanstieg würde die Weltkarte stark verändern. Eine geografische Verschiebung der landwirtschaftlichen Anbauzonen, der Exodus der Küsten- und Inselbewohner und die Umsiedlung oder das Aussterben vieler Tier- und Pflanzenarten würden ganz sicher einen erheblichen Zivilisationswandel bedeuten.
Jenseits dieser Fakten wird die Klimakatastrophe aber auch die Psyche und das Denken der Menschen beeinflussen. Obwohl vom ersten Umweltgipfel 1972 in Stockholm bis zum jüngsten Millenniumsbericht immer neue wissenschaftliche Studien über die Ökosysteme3 hinzukamen, gab es ständige Bestrebungen, deren Resultate weitgehend zu leugnen. Auch in öffentlichen Debatten sind die Dimensionen des Problems häufig heruntergespielt worden.
Von „Klimaskeptikern“ wie Michael Crichton, der in seinem Techno-Thriller „Welt in Angst“4 Wissenschaftler und Umweltorganisationen kritisiert, bis zu dem französischen Politiker und Kolumnisten Claude Allègre, der technischen Fortschritt – samt Gentechnik – für die Lösung aller globalen Probleme hält, gibt es viele Leute, die gezielt Verwirrung stiften, indem sie Kontroversen in den Medien vom Zaun brechen. In den USA versuchen Thinktanks, die von ExxonMobil und anderen der Bush-Administation nahestehenden Ölfirmen finanziert werden, das Ausmaß des Klimawandels kleinzureden und die Arbeit des IPCC zu diskreditieren. Und bei einer Umfrage unter 279 Klimaforschern, die für die Bundesforschungsinstitute der USA arbeiten, gaben 58 Prozent der Befragten an, dass ihre Vorgesetzten ihre Arbeiten zensieren oder sie drängen, in ihren Studien den Begriff „Klimawandel“ zu vermeiden.5
„Kein Grund zur Sorge“ lautete auch die Botschaft, als 2001 das Buch „Apocalypse No!“ des Dänen Bjørn Lomborg6 erschien und eine breite Debatte über den Zustand unseres Planeten auslöste. Lomborg stellte die Behauptung auf, die Umweltbedingungen hätten sich in vieler Hinsicht eher verbessert als verschlechtert, und die Marktmechanismen könnten die zeitweiligen Schäden durchaus noch korrigieren. Den wissenschaftlichen Anspruch des Buchs haben inzwischen zahlreiche Experten als hohl entlarvt, was den Autor offenbar nicht weiter stört. In seinem neuesten Buch legt er noch eins drauf und bestreitet das wahre Ausmaß der Erderwärmung.7
Im Grunde fordert Lomborg die Weltgesellschaft auf, keine ernsthaften Schritte zur Begrenzung des Klimawandels zu unternehmen. Schätzungen besagen, dass die Industrie 180 Milliarden Dollar pro Jahr ausgeben müsste, um die angepeilte Verringerung des Ausstoßes von Treibhausgasen zu erreichen. Bei diesen Kosten, meint Lomberg, solle man doch besser mit der Zerstörung des Planeten fortfahren, denn mit dem entsprechenden Wirtschaftswachstum würden automatisch neue Technologien entstehen, und die würden die Menschheit früher oder später schon retten. Diese Position verliert jedoch in letzter Zeit an Boden, schon weil die Energiepreise so rasant ansteigen.
Selbst die Internationale Energieagentur (IEA), der man wohl kaum eine wirtschaftskritische Haltung unterstellen kann, weist eine solche Argumentation energisch zurück. Nach dem IEA-Jahresbericht, dem World Energy Outlook 2006, sind Investitionen von 20 000 Milliarden Dollar erforderlich, um den wachsenden Energiehunger der Welt von 2006 bis 2030 zu befriedigen. Die IEA hält es für „rentabel“, angesichts der Klimawandel-Szenarien möglichst schnell8 geeignete Maßnahmen zu ergreifen, wie sie etwa im Kioto-Protokoll vorgesehen sind: „Die Kosten einer solchen Politik würden durch die wirtschaftlichen Vorteile einer effizienteren Energieproduktion und -versorgung mehr als aufgewogen.“9
Diese Sichtweise wird bestätigt durch die breit diskutierte Studie des britischen Ökonomen Nicholas Stern, nach der die Klimaerwärmung die Weltwirtschaft 5 500 Millarden Euro kosten könnte.10 Die Zerstörung der natürlichen Umwelt bedeutet den Verlust unentbehrlicher Leistungen der Ökosysteme; dazu gehören die Reinigung von Luft und Wasser, die Stabilisierung des Klimas und der Erhalt der Biodiversität, die nicht zuletzt für die medizinische Forschung und Entwicklung wichtig ist. Die Bilanzierung der wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels hat dazu geführt, dass die ökologische Krise von Regierungen der industrialisierten Länder neuerdings ernster genommen wird. Allerdings ohne dass sie bereit wären, das Prinzip endlosen Wirtschaftswachstums infrage zu stellen.
Inzwischen gibt es so viele schlüssige Informationen und wissenschaftliche Studien, die auch Leute wie Friedensnobelpreisträger Al Gore verbreiten, dass die Tatsache der Umweltkatastrophe kaum noch bestritten wird. Doch das Auftauchen ständig neuer alarmierender Vorzeichen kann auch den gegenteiligen Effekt haben: dass die Gefahr banalisiert wird. Heute scheint sich die gesamte Gesellschaft dem greenwashing zu widmen: dem ökologischen Übertünchen aller Probleme, was freilich eher auf ein Gewissensrecycling hinausläuft und weniger auf einen echten Paradigmenwechsel. So hat etwa Jean-Louis Borloo, Frankreichs Minister für Umwelt und nachhaltige Entwicklung, die Rugby-Weltmeisterschaft 2007 im eigenen Land vollmundig als „erstes vorbildlich ökologisch durchgeplantes sportliches Großereignis“ bezeichnet. Er vergaß nur zu erwähnen, dass durch die an- und abfliegenden WM-Touristen etwa 570 000 Tonnen CO2 angefallen sind.11
Je mehr sich unsere Gesellschaft der Zerstörung der Lebensbedingungen auf der Erde bewusst wird, um so differenzierter werden auch die Techniken des Leugnens in der Absicht, die Umstrukturierung des Gemeinwesens auf die lange Bank zu schieben und die Kritik an der globalen Produktionslogik abzuwehren. Ein klassisches Beispiel für diese paradoxe Haltung war die Brandrede, die Präsident Chirac am 2. September 2002 auf dem Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg gehalten hat. Unter dem Titel „Unser Haus brennt, und wir schauen weg“ wurden großartige Handlungsmaximen verkündet – und blieben völlig folgenlos.
Wie kann man die globalen Emissionen – vor allem von CO2 – drastisch reduzieren und von den vielen schönen Worten zur Praxis, zu einem vernünftigen Umgang mit Energie gelangen? Seit die Klima- und Umweltexperten zu Konferenzen und internationalen Gipfeln rund um die Welt jetten, werden nur noch globale Lösungen vorgeschlagen. In Anbetracht der Dringlichkeit der Probleme wäre es jedoch besser, wenn einige Länder eine Vorreiterrolle übernehmen würden, anstatt auf einen Umschwung in der Umweltpolitik von Ländern wie den USA zu warten, die zu den größten Kohlendioxidproduzenten der Welt gehören und das Kioto-Protokoll nicht unterzeichnet haben.
Der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer, der 1999 den alternativen Nobelpreis erhielt, spricht von einem unüberbrückbaren logischen Widerspruch, der sich zwischen der dringend nötigen schnellen Gefahrenabwehr und dem gleichzeitigen Beharren auf einem möglichst breiten Konsens auftue. „Wer stets auf Konsens aus ist, liefert sich denjenigen aus, die verhindern, bremsen und verwässern wollen.“12 Das heißt im Grunde, dass die ganze Welt auf die ganze Welt wartet. Im Übrigen wird sowieso bei keiner einzigen großen internationalen Konferenz das Primat des Wirtschaftswachstums infrage gestellt. Vielmehr werden Maßnahmen zum Erhalt der Umwelt nur akzeptiert, wenn sie diesem Wachstumsprinzip nicht entgegenstehen und die Freiheit des Marktes nicht einschränken.
Die Energieerzeugung (durch Raffinerien und Kraftwerke) ist für 49 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich und gehört zu den Industrien, die am stärksten die Umwelt beeinflussen.13 Manche Länder haben dies verstanden und sich in den letzten Jahrzehnten für andere Energieformen eingesetzt. Zum Beispiel hat Dänemark seit den 1980er-Jahren die Windenergie weiterentwickelt. Die Briten haben seit Ende der 1990er-Jahre Forschungsprogramme zur Erzeugung erneuerbarer Energien aus dem Meer aufgelegt.14 Die Stadt Barcelona verlangt seit 2000, Neubauten und renovierte Altbauten mit thermischen Sonnenkollektoren auszustatten; diese Vorschrift wurde zunächst auf ganz Katalonien und dann sogar auf ganz Spanien ausgedehnt.
Deutschland verfolgt seit Jahren den gleichen Weg. Manche Kritiker weisen allerdings mit spöttischem Unterton auf die Widersprüche der Berliner Politik hin: Einerseits werden die Emissionen reduziert und erneuerbare Energien gefördert, andererseits werden weiterhin Kohlekraftwerke gebaut, wird Atomstrom aus Frankreich importiert und erwogen, die Laufzeit der eigenen Atommeiler zu verlängern.
Bei aller Kritik an solchen Widersprüchen darf man freilich nicht vergessen, dass Frankreich nicht einmal einen Bruchteil dessen tut, was seine deutschen Nachbarn geschafft haben, und dass sich in Deutschland tatsächlich ein „Kampf zweier Welten“ abspielt, in dem sich die alte Welt der Kohle, des Atomstroms, des motorisierten Individualverkehrs gegen eine neue, dezentralisierte Welt verteidigt, die auf Energiesparen und erneuerbare Energien, auf öffentlichen Nahverkehr und Schutz vor Gesundheitsschäden setzt.
Für die „alte Welt“ unternehmen die seit langem aktiven Lobbygruppen alles, um die Notwendigkeit und Realisierbarkeit eines raschen Wandels in der Energiepolitik in Zweifel zu ziehen. Die Spezialisten für erneuerbare Energien wissen, dass dem keine technischen, sondern vor allem politische und bürokratische Hindernisse entgegenstehen. Bei den Landtagswahlen in Hessen hat die SPD-Kandidatin Andrea Ypsilanti ein neues Energiemodell präsentiert, mit dessen Umsetzung Hermann Scheer betraut werden sollte. Nach diesem Modell will eine SPD-geführte Landesregierung in den kommenden fünf Jahren den Energieverbrauch senken und erneuerbare Energiequellen erschließen. Damit will man praktisch nachweisen, dass auch nach Abschaltung der beiden Atomkraftwerke von Biblis der Bau neuer Kohlekraftwerke nicht notwendig wird.
Angesichts der anstehenden Entscheidungen muss sich der Staat auf seine ureigenen Ziele konzentrieren und langfristig zugunsten der öffentlichen Güter, also der Interessen der Allgemeinheit handeln, ohne sich kurzfristigen Lobbyinteressen zu beugen. Der US-amerikanische Autor Richard Heinberg hat vor einigen Jahren ein Buch über Energie- und Umweltfragen unter dem treffenden Titel „The Party’s Over“ veröffentlicht.15 In der Tat: Die Party ist vorbei. Und dennoch kann die Herausforderung des Klimawandels der Menschheit auch eine neue Chance eröffnen. Wer den Autoverkehr reduziert, schafft ruhigere Städte. Wer auf eine zentrale Versorgung mit Nuklearenergie und fossilen Brennstoffen verzichtet, kann mit der Beteiligung der Bürger neue dezentralisierte Energiemodelle umsetzen. Wer den Güterverkehr rund um die Welt verringert, stärkt die lokale Wirtschaft und schafft neue Arbeitsplätze. Der Kampf gegen die Erderwärmung ist auch eine Chance, für eine bessere Welt einzutreten.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski Philippe Bovet und Agnès Sinai sind Herausgeber (mit Philippe Rekacewicz und Dominique Vidal) des „Atlas der Globalisierung – Spezial Klima“, der am 29. Februar auf Deutsch erscheint.