Votum für eine Revolution
An Boliviens neuer Verfassung scheiden sich die Geister: Das indianische Hochland will mehr Macht, das weiße Tiefland sitzt auf seinem Reichtum von Franck Poupeau und Hervé Do Alto
Die Welt verändern, ohne die Macht zu ergreifen: Das gehört bei der internationalistischen Linken zum guten Ton, und so lautet auch der Titel des hervorragenden Buchs von John Holloway1 . Bolivien aber hat einen anderen Weg gewählt. Nach einer besonders konfliktreichen Phase2 , die von 1999 bis 2005 dauerte, kam im Januar 2006 mit Evo Morales der „erste indianische Präsident“ Amerikas3 an die Macht. Mit 53,72 Prozent der Stimmen wurde er schon im ersten Wahlgang gewählt.
Er will die Gesellschaft seines Landes verändern und versprach, die Rechte der seit der Kolonisierung unterdrückten indianischen Bevölkerung zu verteidigen, mit 20 Jahren neoliberaler Politik Schluss zu machen und die „Oktober-Agenda“ umzusetzen. Dies ist ein Forderungskatalog, der sich während der Auseinandersetzungen im Oktober 2003 herauskristallisiert hat und in dem es zentral um die Verstaatlichung von Erdgas und Erdöl sowie um eine Umgestaltung des Staates mittels einer neuen Verfassung ging.
Seit ihrer Machtübernahme hat die neue Regierung wirtschaftspolitisch einen pragmatischen Kurs gefahren. Sie hat den endgültigen Rückzug des umstrittenen französischen Konzerns Lyonnaise des Eaux4 am 3. Januar 2007 aus der Wasserversorgung von La Paz ausgehandelt. Trotz der am 1. Mai 2006 spektakulär angekündigten „Nationalisierung“5 der Erdöl- und Erdgasvorkommen hat sie den multinationalen Konzernen Brasiliens, Argentiniens und Spaniens Garantien für die weitere Förderung von Erdgas und Erdöl gegeben.
Das Gespenst einer von den Wirtschaftseliten des Landes gezielt herbeigeführten Destabilisierung hat die Bewegung zum Sozialismus (MAS), die Partei des Präsidenten, zu großer Vorsicht bewogen: Während in gewissen Ministerien das Personal weitgehend ausgewechselt wurde, gab es im Wirtschaftsministerium kaum personelle Veränderungen. Dies garantierte politische Kontinuität in einem besonders sensiblen Sektor. Trotzdem ist zwei Jahre nach Amtsantritt von Präsident Morales die Situation politisch blockiert. Die neue Verfassung, die noch dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden muss, stößt auf breiten Widerstand, und die reichen Erdöl- und Agrarregionen der „media luna“, („Halbmond“)6 , das wirtschaftliche Herz des Landes, haben de facto ihre Autonomie erklärt.
Anders als im Abgeordnetenhaus hat die Rechte im Senat eine Mehrheit, und dort bremst sie die Verabschiedung der meisten sozialpolitischen Maßnahmen. Im November 2006 konnte die Agrarreform nur mit den Stimmen abtrünniger Senatoren der Opposition oder – wenn diese nicht erschienen – ihrer Stellvertreter beschlossen werden. Die Verabschiedung der renta dignidad („Rente der Würde“), einer Grundrente in Höhe von umgerechnet 220 Euro pro Jahr für alle, die über 60 Jahre sind, wurde 2007 aus denselben Gründen immer wieder verschoben. Eine andere zentrale Maßnahme im Programm der MAS, die Verstaatlichung von Erdgas und Erdöl, musste im Mai 2006 per Dekret durchgesetzt werden. Aber das Hauptproblem der MAS ist begründet in ihrer Art, Politik zu machen.
Diese ist oft schwer durchschaubar, denn die MAS, ursprünglich entstanden aus der Bauerngewerkschaft der Cocaleros (Kokabauern)7 , ist weniger eine Partei als ein Bündnis sozialer Organisationen. Ihre Parlamentarier haben einen ganz unterschiedlichen politischen Hintergrund. Und so gehen sie mit einer anderen Haltung in die Verhandlungen, als es sonst in einer repräsentativen Demokratie üblich ist, wo es um Abtasten und Kompromisse geht – je nachdem, ob sie aus dem lange Zeit unterdrückten bäuerlichen Milieu entstammen oder städtischen Intellektuellenzirkeln. Diese soziologische Dynamik erklärt, weshalb – obwohl es keine offiziellen „Strömungen“ innerhalb der MAS gibt – die Parlamentarier und Wortführer, die aus der bäuerlichen Welt kommen, eher dazu neigen, harte Positionen einzunehmen, und im Kampf gegen die Opposition oft die Taktik des Fait accompli anwenden. Dadurch fühlen sich die städtischen Mittelschichtler in dem Gefühl bestärkt, dass die Regierung sich ausschließlich um die (indigenen) Gemeinschaften des Altiplano, der andinen Hochebene, kümmert.
Diese „Ungeschicklichkeiten“ bedeuten nicht einfach formelle Verletzungen demokratischer Gepflogenheiten. Sie erklären, wieso sich die Regierung genötigt fühlt, gewisse Projekte, die die Opposition mit allen ihr zur Verfügung stehenden legalen (und manchmal auch illegalen) Mitteln bremst, mit aller Kraft „durchzudrücken“. Das ist paradox, wenn man bedenkt, dass die MAS bei den letzten beiden Wahlen eine absolute Mehrheit errungen hat.
Am 2. Juli 2006 fanden auf Initiative der Regierung zwei Ereignisse gleichzeitig statt: die Wahl der Delegierten für die verfassunggebende Versammlung sowie ein Referendum über die Autonomie der Provinzen. Letztere wurde auf nationaler Ebene von über 56 Prozent der Stimmbürger abgelehnt8 , in den Provinzen des Ostens hingegen– Beni, Pando, Santa Cruz und Tarija – sprach sich eine Mehrheit für die Autonomie aus und bestätigte damit die regierungsfeindliche Haltung der vier Präfekten des „Halbmonds“. Unter dem Druck gesellschaftlicher Organisationen, die gegen die Autonomie, dieses „Projekt der Eliten des Halbmonds“ mobilisiert hatten, rief die MAS dazu auf, mit Nein zu stimmen. Damit erleichterte es die Regierungspartei der Opposition, nach Wahlniederlagen9 in die Offensive zu gehen. Sie gestattete, dass die Opposition das Thema „Autonomie“ monopolisierte. Dabei hatte sie selbst in ihrem Programm versprochen, eine „indigene Autonomie“ auf dem Territorium indigener Gemeinschaften zu fördern.
Zudem wurde bei der Einberufung der verfassunggebenden Versammlung ein Wahlsystem angewandt, das dem üblichen Verfahren bei Wahlen sehr ähnlich ist; die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wurden dabei nicht eigens oder stärker berücksichtigt. Mit 133 von 255 gewählten Delegierten erreichte die MAS zwar eine Mehrheit, aber zu einer Zweidrittelmehrheit, die nötig ist, um die neue Verfassung zu verabschieden, reichte es nicht. Mehrere Monate lang versuchte eine gemäßigte Fraktion der Partei, mit der Opposition eine Übereinkunft zu erzielen.
Showdown in Cochabamba
Aber im November 2006 siegte schließlich die radikale Linie und versuchte, die „Regel der Zweidrittelmehrheit“ durch jene einer einfachen Mehrheit zu ersetzen. Die Opposition nahm dies zum Anlass, erneut gegen die Regierung zu mobilisieren, der sie nun vorwarf, ein autoritäres Regime errichten zu wollen– nach dem von ihr als Schreckensbild an die Wand gemalten Vorbild von Hugo Chávez in Venezuela. Die behaupteten Affinitäten zwischen beiden Staatschefs und die umfangreiche Hilfe, die Chávez Bolivien aufdrängte, erleichtern diese Gleichsetzung.
Die Präfekten, die begonnen hatten, sich gegen die Kontrolle über ihre Budgets aufzulehnen, nutzten die Gelegenheit, um gegenüber der „Diktatur des Zentralstaates“ ihre Forderung nach provinzialer Autonomie zu bekräftigen. Die Mobilisierung gegen die Regierung kulminierte am 12. Dezember 2006 im „Cabildo del millón“, einer Versammlung von einer Million Teilnehmern in Santa Cruz. Die Anhänger von Morales sprachen ironisch vor einem „Cabildo de los milliones“ – einer Versammlung der Millionen – und meinten die Millionen Dollar, die von lokalen Großunternehmern in diese Demonstration investiert worden waren.
Danach polarisierte und radikalisierte sich die Auseinandersetzung. Zunächst kam es im Januar 2007 in Cochabamba zu Zusammenstößen zwischen gewerkschaftlich organisierten Bauern und Anhängern des oppositionellen Präfekten der Provinz Cochabamba, Manfred Reyes Villa (der ein neues Referendum über die Autonomie seiner Provinz durchführen wollte). Dann ging es um die Frage der Hauptstadt: Der plötzliche Vorstoß, Sucre zur ausschließlichen Hauptstadt Boliviens zu machen – auf Kosten von La Paz, dem offiziellen Regierungssitz10 –, wurde von Beginn an von den Bürgerkomitees11 der östlichen Provinzen stark unterstützt. Die MAS hatte diese Frage bei der Diskussion über eine neue Verfassung ausgeklammert. In dieser Haltung fühlte sie sich durch eine Demonstration von über einer Million Menschen in La Paz und El Alto12 auch bestärkt. Danach verhinderten die Bürgerkomitees von Sucre die Fortsetzung der Debatte der verfassunggebenden Versammlung – auch mit Gewalt. Vom 23. bis 25. November kam es in Sucre zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und städtischen Angestellten mit der Polizei. Diese verteidigte den Zugang zu der Militärakademie, in die sich die dem Regierungslager angehörenden Delegierten der verfassunggebenden Versammlung geflüchtet hatten.
Die Opposition nutzte die Situation, um die Abstimmung über die neue Verfassung zur Farce zu machen. Die Regierung ihrerseits glaubte ihr Projekt durchpauken zu müssen, um die Unterstützung ihrer sozialen Basis nicht zu verlieren. Abgestimmt wurde nun in aller Eile in der Nacht vom 24. auf den 25. November, in Abwesenheit der Opposition – vertreten waren lediglich 138 Delegierte der MAS und ihrer Bündnispartner. Angenommen wurde der Verfassungstext mit 136 Stimmen – also nicht der erforderlichen Zweidrittelmehrheit der insgesamt 255 Delegierten.
Die Situation hatte sich gegen Ende 2007 so zugespitzt, weil die Regierung beschlossen hatte, die gestiegenen Einkünfte aus der Besteuerung von Erdgas- und Erdölförderung neu zu verteilen. Mit einem Teil sollte die Rente der Würde finanziert werden; im Übrigen sollten vor allem die Gemeinden (zum Nachteil der Provinzen) mehr Geld erhalten. Die Präfekturen der Provinzen des „Halbmonds“ eröffneten daraufhin die entscheidende Schlacht, in der sie siegen müssen – andernfalls können sie die Autonomie ihrer Provinzen, also ihr wesentliches politisches Ziel, vergessen. Die Regionen des östlichen Tieflands sind die dynamischsten und reichsten von Bolivien, vor allem dank der Förderung des Erdgases, das auf ihrem Territorium gefunden wurde. Um ihre Einnahmequellen zu sichern, strebten sie nun den Sturz der nationalen Regierung an.
Unter dieser Perspektive bildete der Konflikt um die Hauptstadt für die Opposition einen willkommenen Vorwand. Es ging vor allem darum, eine Verfassungsreform zu bremsen, die unter anderem darauf abzielte, die indigene Bevölkerung anzuerkennen und die Reichtümer der Nation, vor allem auch den Boden, gerechter zu verteilen.
Die Wortführer der rechten Opposition aber gehören zu den wichtigsten Landbesitzern des agroindustriellen Sektors – wie zum Beispiel Branko Marinkovic. Der Präsident des Bürgerkomitees von Santa Cruz steht zugleich an der Spitze eines großen Konzerns, das Speiseöl produziert – ein Grundnahrungsmittel, dessen Preis im Dezember 2007 um mehr als 20 Prozent gestiegen ist. Präsident Morales bezichtigt die Anführer der Opposition, einen veritablen „Wirtschaftskrieg“ zu führen und die Inflation bei elementaren Lebensmitteln anzuheizen, vor allem bei Fleisch, das im Wesentlichen von den großen Agrokonzernen des bolivianischen Ostens produziert wird. Dass diese Konzerne einer Verfassungsreform wenig abgewinnen können, die unter anderem die Begrenzung der Größe von Haciendas anstrebt, liegt auf der Hand.
Auch die Besitzer der größten privaten Medienunternehmen gehören zur einflussreichen Führungsriege der Rechten – der Fernsehkanal mit der höchsten Einschaltquote, Unitel, gehört einer superreichen Familie von Großgrundbesitzern in Santa Cruz. Nach den Ereignissen in Sucre Ende November entfesselte die Opposition eine Medienkampagne gegen die Regierung. Und ebenso reagierte sie, als am 9. Dezember 2007 in der Bergwerksstadt Oruro die verfassunggebende Versammlung in Abwesenheit der größten Partei der Opposition, Podemos, den Entwurf des Verfassungstexts mit 164 von 255 Stimmen verabschiedete13 . Als nächster Schritt wird das Volk im September in einem Referendum über das neue Grundgesetz abstimmen.
Jenseits der konjunkturellen Aspekte stellt die gegenwärtige Blockadehaltung der Opposition die grundsätzliche Richtung der Regierungspolitik infrage. Seit ihrer Gründung in den 1990er-Jahren pflegte die MAS einen antikapitalistischen Diskurs. Für sie war die Wiederaneignung der von ausländischen Unternehmen kontrollierten natürlichen Ressourcen (Wasser, Gas, Minen etc.) die Voraussetzung für nationale Souveränität. Seit ihrem Wahlsieg von 2005 scheint sie die „Entkolonisierung“ des Staates und der Gesellschaft zu ihrem wichtigsten Ziel gemacht zu haben. Darauf vor allem bezieht sich die indianistische Rhetorik der Regierung bei der Definition ihrer Leitlinien – insbesondere gegenüber der indigen-bäuerlichen Gewerkschaftsbewegung, deren Unterstützung sie sich in einer Periode tiefgreifender Veränderungen beständig sichern will. Dagegen wendet sich der Teil der Wählerschaft, der sich mit keiner ethnisch-kulturellen Gruppe identifiziert. Diese Abneigung steigert sich in einem großen Teil des bolivianischen östlichen Tieflands bis zur Verbissenheit. Dort findet man sich schwerlich in einer Politik wieder, die ausschließlich die indianischen Gemeinschaften des andinen Hochlands zu begünstigen scheint.
Diese Abkoppelung des „Halbmonds“ geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem die Eliten der wirtschaftlich expandierenden Regionen ein naheliegendes Identifikationsprinzip anbieten: eine regionale Identität als Synonym für wirtschaftliche Dynamik und Modernität. Gleichzeitig wird versucht, den neuen Machthabern im Staatsapparat die Legitimität abzusprechen, und falls das nicht klappt, greift man auch zu kaum verhülltem Rassismus. In aller Öffentlichkeit geiferte der Bürgermeister von Santa Cruz, Percy Fernández: „Es ist wohl bald so weit, dass man sich Federn anstecken muss, um in diesem Land respektiert zu werden.“
Die „indianistische Radikalisierung“ der Regierung hat zwei Konsequenzen. Die erste besteht darin, dass das bedingungslose Eintreten für die Sache der Indigenen und deren historische und politische Legitimität so wirkt, als stehe sie über der demokratischen Legalität. Als müsse man sich nicht mehr an die verfassungsmäßigen Regeln halten, wenn politische Kräfte dieser Sache entgegenstehen. Im Übrigen biegt sich die rechte Opposition diese Regeln permanent zu ihrem Vorteil zurecht. Und wenn sie sich nun der Taktik der öffentlichen Mobilisierung bedient (Straßenblockaden, Versammlungen), die bislang das Privileg der antikapitalistischen und indigenistischen sozialen Bewegungen waren, so steht die Regierung vor einem unüberwindbaren Widerspruch: Als Regierung des Volkes kann sie dagegen nicht gewaltsam vorgehen. So bleibt ihr nur, solchen Widerstand als Werk „umstürzlerischer Gruppen“ im Dienst der „alten Oligarchien“ abzutun.
Den Bürgerkomitees fiel es leicht, dieses Argument zur Seite zu schieben, indem sie sich als Verteidiger der „Demokratie“ (die mit dem Recht auf Selbstbestimmung der Region gleichgesetzt wird) gegen den Autoritarismus des Zentralstaats gerieren. Die politischen Beobachter, die gern den „Populismus“ der Linken denunzieren, hüten sich, diesen Begriff auch auf die Opposition gegen Morales anzuwenden. Umgekehrt aber verstellt das Abqualifizieren der Opposition als Kind der „alten Oligarchie“ den Anhängern der MAS das Verständnis für die Gründe des kollektiven Glaubens an den Wert regionaler Identitäten.
Die zweite Konsequenz aus der indigenistischen Radikalisierung der Regierung ist deren Unfähigkeit, ein Projekt zu definieren, das die nichtindigenen Teile der Bevölkerung einschließt: die „urbanen Mittelklassen“, aber auch die Bewohner des östlichen Tieflands, die von der (vorsichtigen) Politik der Umverteilung des Reichtums im Lauf der letzten zehn Jahre anscheinend nicht profitiert haben. Nutznießer war, wie die Regierung jedenfalls hervorhob, das bäuerliche Milieu.
In der neuen Verfassung wird die Wiphala, die bunte Fahne der Indigenen, als Emblem der Nationalfahne gleichgestellt. Schon dies trägt dazu bei, einen großen Teil der Mestizen des Ostens und der Städte dem Regierungsprojekt einer gesellschaftlichen Transformation zu entfremden. Da stößt die Neuorientierung der bolivianischen Linken an ihre Grenzen – einer Linken, die das Thema Identität ins Zentrum rückt und der die Rehabilitierung der ethnischen Verschiedenheit wichtiger ist als die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit und wichtiger als die Kritik an den Auswirkungen des Kapitalismus. Damit schmälert sie die gesellschaftliche Basis ihrer Macht.
Die Linksintellektuellen konvertierten massenhaft und oft aus opportunistischen Gründen zu diesem „postkolonialen“ Diskurs, vor allem in den Städten La Paz und El Alto, die als Herz der Zentralgewalt gelten. Dies erklärt, weshalb die Debatte um die Hauptstadt so relevant werden konnte. Den Regierungssitz von La Paz nach Sucre zurückzuverlagern bedeutet, die Hegemonie der Regionen des Altiplano, die zu den wichtigsten Stützen des MAS zählen, infrage zu stellen. Mit dieser Hegemonie rechtfertigt die Rechte gern und mit einer gewissen Bosheit ihre These vom „umgekehrten Rassismus“.
Bolivien ist ein Land mit extremen sozialen Ungleichheiten, ethnischer Diskriminierung und einem antiindianischen Rassismus, der beides rechtfertigt. Da stellt sich die Frage, ob eine Linksregierung auch einen anderen Diskurs führen und den konvulsivischen Ausbruch der im Lauf der Kolonialgeschichte angesammelten Ressentiments verhindern hätte können.
Die neue Verfassung bedeutet einen historischen Fortschritt in Richtung eines „kommunitären plurinationalen Staats“,14 der dezentralisiert und demokratisch ist und endlich die Rechte der ursprünglichen Bevölkerung15 anerkennt. Zudem garantiert der Verfassungstext den wirtschaftlichen Pluralismus (mit kommunitärem, mit staatlichem und mit privatem Eigentum), grundlegende Rechte (auf Bildung, auf Zugang zu Basisdienstleistungen, auf Arbeit, auf eine Altersrente, auf eine umfassende Gesundheitsversorgung) und die Existenz verschiedener Ebenen von Autonomie (der Provinzen, der Gemeinden und der ursprünglichen indianischen Territorien). Und er bestätigt die nationale Souveränität über die natürlichen Ressourcen, deren industrielle Ausbeutung vom Staat gefördert wird. Der Staat tätigt auch nationale Investitionen und unterstützt Vereinigungen von Kleinproduzenten in den Städten wie auf dem Land. Doch der Durchmarsch der MAS vom Dezember vergangenen Jahres könnte dazu führen, dass das Volk diese neue Verfassung ablehnt.
Die jüngsten Ereignisse zeigen, dass ein konservativer Populismus die demokratischen Regeln benutzen kann – manchmal benutzt er auch Mittel, die sehr viel weniger demokratisch sind – um jeden Versuch einer Veränderung zu blockieren. Gern wird dabei vor der „Gefahr eines autoritären Systems“ oder der „Suspendierung der Demokratie“ gewarnt. Letztlich geht es um die Frage, ob es in Bolivien möglich ist, eine Revolution ohne Revolution in Gang zu setzen, das heißt einen radikalen Prozess gesellschaftlicher Transformation auf demokratischem Weg, der sich auf die Legitimität von Wahlen stützt und auf eine Regierungspolitik, die die verfassungsmäßigen Regeln achtet.
Die von Morales gepriesene „demokratische und kulturelle Revolution“ wird heute von Gesellschaftsschichten getragen, die historisch subaltern waren. Trotz ihres Engagements in den vergangenen und gegenwärtigen Kämpfen (gegen die Diktaturen der 1970er- und 1980er-Jahre, danach gegen die neoliberale Politik) wurden sie vom politischen Betrieb bis vor kurzem vollständig ignoriert; sie beherrschen die parlamentarischen und institutionellen Regeln noch immer schlecht.
Die MAS steht heute vor einem delikaten Dilemma: Je stärker sie die ländlichen Milieus fördert, desto größer ist die Gefahr, sich der städtischen Bevölkerung zu entfremden. Gesteigert wird diese Gefahr durch die antiindianische Rhetorik der regionalistischen Eliten, die nach dem neuen Verfassungstext alles zu verlieren haben. Der Wille, neben den bürgerlichen Rechten auch wirtschaftliche und soziale Rechte für die ärmsten Gesellschaftsschichten einzuführen, muss mit deutlicheren Zeichen an die Mittelschicht einhergehen. Sonst droht eine Dynamik gesellschaftlich-ethnischer Auseinandersetzung und die Rückkehr zur Konfrontation zwischen den ärmeren Schichten und der politischen Rechten, die in den Ostprovinzen des „Halbmonds“ nach Autonomie strebt. Eine solche Konfrontation mit dem Ziel, den Status quo zu aufzuheben, könnte durchaus den legalen Rahmen sprengen.
Die Schärfe der aktuellen Auseinandersetzungen droht damit auch eine der bedeutendsten Errungenschaften der demokratischen Revolution Boliviens infrage zu stellen: die Ausweitung der politischen Teilhabe auf die subalterne Bevölkerung, die nach und nach in den Sphären der Regierung und Zirkeln der Entscheidungsträger repräsentiert ist.
Aus dem Französischen von Thomas Schmid Franck Poupeau ist Forscher am Institut Français d’Etudes Andines in La Paz. Hervé Do Alto ist Doktorand für politische Wissenschaft am Institut d’Etudes Politiques in Aix-en-Provence. Der Beitrag gibt ausschließlich die Meinung der Autoren wieder und nicht die der Institutionen, an denen sie tätig sind.