08.02.2008

Winter in Kurdistan

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Winter in Kurdistan

Eine Reise von Diyabakir über Van bis an die Grenze zum Irak von Olivier Piot

In dem kleinen Laden von Awat H. in Diyarbakir hängt kein Bild des Staatsgründers Kemal Atatürk und keine türkische Fahne. Awat ist um die fünfzig, eine kleine Frau mit weißen Haaren, nach fast 30 Jahren Einzelhaft in türkischen Gefängnissen. Nach ihrer Freilassung kehrte sie 2006 in die historische Hauptstadt der türkischen Kurden zurück. Dem Kampf für ein unabhängiges Kurdistan hatte sie sich als Studentin angeschlossen, Ende der 1970er-Jahre.1 Ihre Erfahrungen haben Awat misstrauisch gemacht. Zu einem Gespräch mit mir ist sie erst bereit, als sie erfährt, dass ich die geheimen Lager der Kurdischen Arbeiterpartei PKK im Nordirak besucht habe.2

Natürlich will sie, wie alle kurdischen Interviewpartner, anonym bleiben. „Wir leben hier wie die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland: Eine Besatzungsarmee und ihre Polizei überwachen jeden unserer Schritte. Wenn sie wissen wollen, ob die Türkei ein demokratisches Land ist – fahren Sie durch unsere Dörfer und Städte, bis zur irakischen Grenze.“

„Garnison“, „Jandarma Komando“, „Polis“ – überall entlang der Straße nach Van im äußersten Nordosten der Kurdengebiete sieht man die Camps der türkischen Ordnungskräfte. Seit den Auseinandersetzungen mit PKK- Kämpfern, die in den Irak geflüchtet sind, ist die Truppenstärke im Südosten der Türkei auf mehrere Hunderttausend angewachsen, allein an der irakischen Grenze sind mehr als 100 000 Soldaten stationiert. Die im Februar 2007 eingeleitete sicherheitspolitische Offensive diente dem Generalstab auch dazu, die nationalistische Stimmung vor den Parlamentswahlen im Juli anzuheizen. Kurz nach dem erneuten Wahlsieg der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) sah sich deren Führung gehalten, diese Strategie abzusegnen: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich in der Kurdenfrage bewusst unbestimmt, wenn nicht gar „offen“ gezeigt hatte, schloss im August ein Abkommen mit dem Irak über neue gemeinsame Anstrengungen zur Bekämpfung der PKK-„Terroristen“.

„Vatan Bölünmez!“ Die Parole „Unteilbares Vaterland“ ist in riesigen Lettern und weithin sichtbar mit weißer Farbe auf einen Berghang gemalt, unterzeichnet mit „Jandarma Kommando“. Hier, in der Gegend um Van verstehen die Menschen diesen Slogan der örtlichen Gendarmerie als warnende Ankündigung: „Es wird kein Kurdistan in der Türkei geben!“

In Van macht uns Kubar D., der örtliche Vertreter der legalen prokurdischen Partei für eine demokratische Gesellschaft (DTP), allerdings deutlich, dass er die Hoffnung nicht aufgibt: „2004 haben wir bei einer Reihe von Kommunalwahlen gewonnen. Und trotz offensichtlicher Wahlfälschungen sitzen 20 DTP-Abgeordnete im türkischen Parlament. Ich hoffe, dass die AKP-Führung diese demokratische Entscheidung respektiert.“ Unerwähnt lässt Kubar allerdings, dass die 2005 gegründete DTP bei den Wahlen im Juli 2007 weit weniger Stimmen erhalten hat als erwartet. Allerdings sahen sich die unabhängigen Kandidaten3 vielfach behindert, unter anderem durch ein neues Gesetz, das die namentliche Auflistung sämtlicher Bewerber auf jedem Wahlzettel vorschreibt. „Wir mussten tausende von Anleitungen verteilen, auf Papier wie auf Holztafeln, damit die kurdischen Wähler, von denen viele ja nicht lesen können, auf diesen Listen die Namen der unabhängigen prokurdischen Kandidaten finden konnten“, erklärt Kubar.

Für das relativ schlechte Abschneiden seiner Partei gibt es aber noch eine andere Erklärung, die uns ein Lehrer in Van darlegt: „Viele Menschen haben einfach genug von 20 Jahren Guerillakampf und dem Elend und den Schikanen der Polizei. Deshalb lassen sich nicht wenige kurdische Wähler von der Sozialpolitik der Islamisten auf lokaler Ebene überzeugen.“ So wurden in Städten und Gemeinden mit AKP-Verwaltung etwa Gesundheitsdienste geboten, Lebensmittelhilfen verteilt und Subventionen versprochen.

Die Straße nach Yüksekova im äußersten Südosten verläuft entlang der türkischen Grenze zum Iran. Das Militär ist allgegenwärtig. Das Zentrum dieser kurdischen Provinz macht den Eindruck einer Stadt im Belagerungszustand: überall Militärlager, Panzerwagen, Ausweiskontrollen. Auch das Haus, in dem die DTP-Führung ihr Büro hat, wird von zwei Soldaten bewacht. Im ersten Stock betreten wir einen großen Raum, der mit den rot-gelb-grünen Fahnen der Partei geschmückt ist. Etwa dreißig Personen haben sich hier versammelt, denn tags zuvor ist die 18-jährige Kurdin Perihan, die zur PKK gehörte, vom türkischen Militär erschossen worden. Unten steht schon der Konvoi von einem Dutzend Fahrzeugen, in denen die Trauergäste zum Empfang der Familie der „Märtyrerin“ gebracht werden. Salih Yildiz, der DTP-Bürgermeister von Yüksekova, schlägt uns vor mitzukommen.

Immer weniger wollen Märtyrer sein

Wir fahren zu einem Dorf, das etwa zehn Kilometer von Yüksekova entfernt liegt. Hier sind die Straßen mit Autos aus der weiteren Umgebung zugeparkt. Immer neue Gruppen von Jungen und Alten drängen in einen Garten, in dem die Besucher empfangen werden. Auf einem Tisch rahmen Blumensträuße ein Foto der Toten ein. Hinter dem Tisch sind die Angehörigen der Toten zusammengerückt. Ihnen gegenüber sitzen auf langen Stuhlreihen rund 100 Trauergäste. Hin und wieder ruft der Imam des Dorfes zum Gebet. Dann erhebt sich Salih Yildiz, um seine Rede zu halten: „Jeder Kämpfer des kurdischen Volkes trifft seine Wahl“, sagt er zu der Versammlung. „Perihan hat ihre getroffen.“

Die PKK erwähnt der Bürgermeister nicht ein einziges Mal. Stattdessen wirft er der AKP ganz offen vor, Repressionsmaßnahmen gegen das kurdische Volk anzuwenden, unter Missachtung der Demokratie. Am Schluss sagt er: „Einer Partei, die vorgibt, die Werte des Islams zu verteidigen, gereicht es nicht zur Ehre, den Kampf auch noch im Monat Ramadan fortzusetzen.“

Der Tod von Perihan zeugt davon, dass in dieser Region die Auseinandersetzungen zwischen PKK-Kämpfern und türkischem Militär weitergehen, trotz eines Waffenstillstands vom Oktober 2006. Die PKK-Führung erklärt, sie für ihren Teil habe nie gegen dieses Abkommen verstoßen. „Die kemalistischen Medien, das Fernsehen und die Zeitungen sagen nicht die Wahrheit“, empört sich ein junger Mann in Yüksekova. „Die Armee sucht die Konfrontation, die Kämpfer der PKK sind verfolgt und müssen sich verstecken – sie setzen sich nur gegen die Angriffe zur Wehr.“

Eines ist gewiss: Die verbale Aufrüstung in den Medien und den Verlautbarungen der Streitkräfte steht in keinem angemessenen Verhältnis zu den Gefahren, die von der PKK ausgehen könnten. Während die Guerilla in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren noch eine militärische Macht war (1992 zählte sie noch etwa 20 000 Kämpfer), so schätzt man ihre Truppenstärke heute auf etwa 6 500, wobei sich knapp 3 000 Leute auf türkischen Staatsgebiet befinden und weitere 3 500 Kämpfer im Nordirak verschanzt sind. Was die politische Ebene betrifft, so musste die PKK-Führung ihre Forderungen im Lauf der letzten 15 Jahren immer weiter abschwächen.

1992 starteten die türkischen Sicherheitskräfte eine umfassende Operation zur Zerstörung kurdischer Dörfer – eine Terrorstrategie, die innerhalb weniger Jahre zu einer erheblichen Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte und zur Emigration von Kurden (vor allem Studenten) nach Westeuropa führte.4 Das türkische Konzept ging auf: Im sogenannten Nordkurdistan verlor die PKK an Rückhalt, und die Führung rückte von ihren separatistischen Positionen ab. Stattdessen bot sie an, über das eher realistische Ziel einer Teilautonomie zu verhandeln. Als fünf Jahre später, im Februar 1999, ihr Führer Abdullah Öcalan verhaftet wurde, musste die Partei erneut umdenken. Aus dem Gefängnis rief Öcalan zur „Beendigung des bewaffneten Kampfes“ auf und forderte einen Weg des „demokratischen Übergangs“, der zur Anerkennung der Rechte des kurdischen Volkes führen sollte. Weitere zwei Jahre später legte sich die PKK einen neuen Namen zu: „Kongress für Freiheit und Demokratie in Kurdistan“ (Kadek).5

In der kleinen Kreisstadt Semdinli, nur wenige Kilometer vor der Grenze zum Irak, ist dieser mehrfache Kurswechsel bis heute umstritten. 1999 wurde der Bürgermeister von der kurdischen Hadep (Partei der Volksdemokratie) gestellt, fünf Jahre später, nach dem Verbot der Hadep6 , von der DTP. Doch die prokurdischen Kräfte sind geschwächt. Dazu trägt zweifellos die Stationierung von 15 000 türkischen Soldaten in einem Bezirk mit nur 45 000 Einwohnern bei. „Unter solchem Druck kann man eine Stadt eigentlich nicht vernünftig verwalten“, meint Bürgermeister Hursit Tekin. „Mein Vorgänger durfte sein Amt 16 Monate lang nicht ausüben, und ich habe inzwischen um die 30 Prozesse am Hals. Und dazu kommen Benachteiligungen aller Art: Gemeinden, die von der AKP geführt werden, erhalten staatliche Subventionen – nach Semdinli fließen fast keine öffentlichen Zuwendungen.“

Auch in Hakkari, der Bezirkshauptstadt im Südosten von Yüksekova, ist man kämpferisch gestimmt. An der Stadtgrenze werden wir von zwei Polizisten in Zivil kontrolliert; um ins Hinterzimmer eines Cafés im Stadtzentrum zu finden, brauchen wir eine vertrauenswürdige Kontaktperson. Dort treffen wir rund ein Dutzend junger Leute im Alter zwischen 20 und 30 – allesamt DTP-Anhänger, keiner rechnet sich zur PKK.

„Ich will nicht im Untergrund leben“, meint Afran, ein Student. „Die DTP hat den Weg der Legalität gewählt, und ich finde das richtig. Wir können bei Wahlen den Anliegen der Kurden Gehör verschaffen.“ Sein Nebenmann, der 25-jährige Metin, ist nicht ganz dieser Meinung: „Klar, die DTP leistet gute Arbeit. Aber wir wissen doch, dass sie jederzeit verboten werden kann. Sieh dir an, wie es den früheren prokurdischen Parteien ergangen ist. Ohne eine bewaffnete Untergrundorganisation wie die PKK werden weder der türkische Staat noch die übrige Welt auf die Forderungen des kurdischen Volkes eingehen.“

Zwischen Hakkari und Sirnak, auf dem fast 400 Kilometer langen Weg nach Urfa, im äußersten Westen der Kurdengebiete, treffen wir häufig auf Verbände der Dorfwächter. Die kurdische Hilfstruppe von etwa 50 000 Mann steht im Sold des türkischen Staates. Aber auch die Kontrollen durch türkisches Militär haben wieder zugenommen. Jedes Mal wird unser Gepäck durchsucht und das Auto sorgfältig inspiziert. Schließlich will ein Offizier sogar unsere Aufzeichnungen und das Bildmaterial in Augenschein nehmen.

Als wir uns weigern, dauert es eine Stunde, bis wir nach ausführlicher Rücksprache des Kommandanten mit den Vorgesetzten weiterfahren dürfen. Aber schon nach einer Viertelstunde wiederholt sich am nächsten Kontrollpunkt dieselbe Prozedur. Am Ende haben wir mehr als 13 Stunden an den Straßensperren verloren, bevor wir endlich Urfa erreichen.

Fußnoten: 1 Die PKK wurde offiziell 1978 gegründet. Sie entstand aus einer studentischen Protestbewegung, die seit Mitte der 1970er-Jahre in der Türkei politisch aktiv war. Dazu die neueste Darstellung von Aliza Marcus, „Blood and Belief. The PKK and the Kurdish Fight for Independence“, New York und London (New York University Press) 2007, S. 15–32. 2 Siehe Olivier Piot, „Che, Balzac und natürlich Öcalan“, Le Monde diplomatique, November 2007. 3 Nach dem türkischen Wahlgesetz kann eine Partei nur Parlamentssitze erringen, wenn sie landesweit mehr als 10 Prozent der Stimmen bekommt. Eine Partei wie die DTP, die nur in einer bestimmten Region stark ist, muss ihre Kandidaten daher als „Unabhängige“ ins Rennen schicken, um einige Direktmandate zu erringen. 4 Siehe dazu Bernard Dorin, „Les kurdes, destin héroïque, destin tragique“, Paris (Lignes et repères) 2005. 5  Siehe dazu Michel Verrier, „Kurdische Landschaften vor dem Krieg“, Le Monde diplomatique, Oktober 2002. 6 Die Hadep wurde 1994 gegründet, 2003 verboten.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Olivier Piot ist Chefredakteur des Netzjugendmagazins Les Clés de l’actualité.

Le Monde diplomatique vom 08.02.2008, von Olivier Piot