Narben in meinem Gedächtnis
Über Algeriens literarische Ahnen und die Wahl der Sprache von Assia Djebar
Zur Zeit meiner Kindheit, im kolonialen Algerien, wurde ich als „muslimische Französin“ bezeichnet. In der Schule lernten wir, dass die Gallier unsere Vorfahren waren. Nun, zu Zeiten besagter Gallier gab es in Nordafrika, dem Land meiner Vorfahren, dem damaligen Numidien, bereits eine florierende Literatur von herausragender Qualität in lateinischer Sprache.
Ich greife nur drei große Namen heraus: Apuleius, der im Jahr 125 n. Chr. in Madaura, im Osten des heutigen Algerien, geboren wurde. Er schrieb auf Latein, war ein glänzender griechischer Rhetor und Schöpfer eines umfangreichen literarischen Oeuvre. Sein Hauptwerk, „Metamorphosen oder Der goldene Esel“1 , ist ein Schelmenroman, dessen Schwung, Freizügigkeit und respektloses Gelächter noch immer erstaunlich modern wirken. Es wäre nachgerade revolutionär, ihn ins Arabische zu übersetzen, egal ob in die Volks- oder die Hochsprache: als Gegengift gegen die Fundamentalismen jedweder Couleur, die sich heute allenthalben breitmachen.
Sodann Tertullian, der im Jahr 155 n. Chr. in Karthago als Heide auf die Welt kam, später Christ wurde und rund dreißig Schriften verfasst hat. Darunter, ganz im Geiste puritanischer Strenge, seine Apologetik. Man lasse sich einmal zwei, drei seiner Sätze auf der Zunge zergehen. Diese intoleranten und frauenfeindlichen Zitate aus dem zweiten nachchristlichen, lateinisch geprägten Jahrhundert könnten ebenso gut geradewegs aus dem Munde eines afrikanischen Volkstribunen unserer Tage stammen. Da heißt es zum Beispiel in seiner Schrift „Über die Verschleierung der Jungfrauen“: „Jede Zurschaustellung einer wahren Jungfrau ist eine Entehrung derselben“ und, ein Stück weiter, „Du hast das Mädchen am Haupte entblößt, und schon hat sie ganz aufgehört, Jungfrau zu sein; sie ist eine andere geworden.“2 Ja, wir sollten Tertullian schleunigst ins Arabische übersetzen, und wenn es nur wäre, um uns selbst zu beweisen, dass diese frauenfeindliche Besessenheit, die sich immer wieder den weiblichen Körper zur Zielscheibe nimmt, keineswegs eine „islamistische“ Besonderheit ist.
Im 4. Jahrhundert dann, wiederum im Osten Algeriens, erblickt der größte Afrikaner der Antike, unser zweifellos bedeutendster Schriftsteller, das Licht der Welt: Augustinus, dessen Eltern latinisierte Berber sind. Es erübrigt sich, an dieser Stelle den allseits bekannten Werdegang des Kirchenvaters nachzuzeichnen: den Einfluss, den seine Mutter Monica auf ihn hatte, die ihm von Karthago nach Mailand folgte; seine intellektuellen und gesellschaftlichen Erfolge; dann die Szene im Garten, die zu seiner Bekehrung führte; die Rückkehr ins Haus des Vaters nach Thagast; seine Anfänge als Bischof in Hippo Regius, und schließlich sein langer, mindestens zwei Jahrzehnte währender Kampf gegen die Donatisten, diese Berber, die, wiewohl christianisiert, in ihrer Dissidenz extrem starrköpfig blieben.
Nach zwanzigjährigem Kampf gegen die, wenn man so will, „christlichen Fundamentalisten“ seiner Zeit glaubte Augustinus, der sicher in engem Kontakt zu den berbersprachigen Gemeinden der Donatisten stand, er könne sie besiegen. Und im Jahr 418 im mauretanischen Caesarea – der Stadt meiner Familie und meiner frühesten Kindheit –, da wähnte er sich dem Triumph ganz nah. Doch er täuschte sich. Als er dreizehn Jahre später starb, im Jahre 431 n. Chr., wurde Hippo Regius von den Vandalen belagert, die von Spanien kommend binnen eines Jahres fast die ganze Mittelmeerküste verwüsteten.
Diese großen Autoren sind also Teil unseres kulturellen Erbes. Sie sollten zur Pflichtlektüre an den Gymnasien des Maghreb gehören, im Original oder in französischer und arabischer Übersetzung.
Erinnern wir kurz daran, dass die arabische Sprache viele Jahrhunderte lang, bis zum Ausgang des Mittelalters, im Gefolge des Griechischen und Lateinischen im Abendland weit verbreitet war. Zwischen 711 und 1492, dem Jahr, in dem Granada fiel, entstanden wahre Meisterwerke aus der Feder arabisch-andalusischer Autoren: von Ibn Battuta zum Beispiel, dem großen Reisenden, der in Tanger geboren wurde, von Ibn Ruschd3 , dem Philosophen, der mit seinen Aristoteles-Kommentaren Al Ghazali widerlegte, und schließlich vom bedeutendsten Mystiker des islamischen Abendlandes, Ibn Arabi, dessen Lebensstationen unter anderem Bougie und Tunis waren, Córdoba und dann wieder Fez.
Auch die Naturwissenschaften (Medizin, Astronomie, Mathematik und so weiter) wurden damals über das Arabische vermittelt. Meine afrikanischen Vorfahren bedienten sich somit, um ihre geistigen Errungenschaften festzuhalten, ein weiteres Mal der Sprache des Anderen: der Sprache jener Beduinen, die, aus Arabien kommend, die Berber islamisierten und an deren Seite Spanien eroberten.
Der Letzte in der Reihe der Gelehrten, der an der Grenze zur Neuzeit den Übergang verkörpert, ist der in Tunis geborene Ibn Khaldun, der seine „Geschichte der Berber in Algerien“ Mitte des 14. Jahrhunderts schrieb. Im Jahr 1406 beschloss er sein Leben im Exil: im Orient, wie keine zweihundert Jahre vor ihm Ibn Arabi. Und hier wie da scheint es die arabische Schriftsprache gewesen zu sein, die beide Geistesgrößen, den andalusischen Mystiker wie den skeptischen Begründer der Soziologie, zu reisenden Weltbürgern machte, die lieber von ihrer Heimat als vom Schreiben ließen.
Wozu dient mir heute nun meine französische Sprache? Das frage ich mich fast schon kindlich naiv. Als ich zwanzig war, beschloss ich, an der Universität die Geschichte des Maghreb zu lehren. Wie mein Vorgänger liebe ich an diesem Beruf die intellektuelle Unabhängigkeit, die er gewährt, und den Kontakt zu jungen Menschen: An sie weitergeben, was einem selbst am Herzen liegt, mit ihnen gemeinsam auf der Höhe der Zeit bleiben, auch wenn man älter wird. Strenggenommen habe ich nur die Tätigkeit meines Vaters fortgeführt, der in den 1930er-Jahren Lehrer in den algerischen Bergen war und der ganz allein in seiner Landschule, zu der keine Straße hinführte, algerischen Knaben in französischer Sprache Unterricht gab. Daneben brachte er Erwachsenen, Gebirglern seines Alters, in Schnellkursen so viel Französisch bei, dass sie bescheidene Posten in der Verwaltung annehmen konnten, die ihren Familien ein regelmäßiges Einkommen sicherten.
Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr hänge ich einer leidenschaftlichen Auffassung von Literatur an: „J’écris pour me parcourir – Ich schreibe, um mich selbst zu erfahren!“ Diese Devise des Dichters Henri Michaux habe ich zu der meinen gemacht. Ich schreibe häufig nachts, schreibe so gut wie ohne Unterlass, in einer Art rastloser, atemloser Suchbewegung. Ich schreibe mit der Leidenschaft des idschtihad, der Suche nach, ja, wonach? Nach sich selbst vor allem. Ich horche in mich hinein, befrage mich wie, ja, wie wer? Warum nicht wie der Held des Apuleius, der in fremder Gestalt durch Thessalien reist? Ein anmaßender Vergleich, von dem ich freilich nur ein Element reklamiere: die Mobilität, das Durch-die-Welt-Schweifen dieses Lucius, Alter Ego seines Autors, der – über neunzehn Jahrhunderte hinweg – mein Landsmann ist.
Und schreiben Sie, so werden Sie mich fragen, denn auch in fremder Gestalt und Maske? Und ist diese Maske, die Sie gar nicht abnehmen wollen, etwa die französische Sprache? Nun, seit Jahrzehnten empfinde ich diese Sprache nicht mehr als Sprache des Anderen, vielmehr als eine Art zweite Haut. Oder als Sprache, die in mich eingedrungen ist: ihr Herzschlag an meinem Puls, ganz nah an meiner Aorta, oder als etwas, das vielleicht meinen Knöchel umschlingt in einem schmiegsamen, biegsamen Knoten und meinem Gang ihren Rhythmus verleiht – denn ich bin ja fast täglich schreibend und laufend in Soho oder auf der Brooklyn Bridge unterwegs. Und fühle mich dann wie ein einziger Blick inmitten eines nicht enden wollenden Auf-die-Welt-Kommens. Dann wird mir mein Französisch zur Energie, die mir erlaubt, den ganzen graublauen Raum, den ganzen weiten Himmel in mich aufzunehmen.
Ende der 1970er-Jahre hatte ich die Möglichkeit, Filmemacherin in arabischer Sprache zu werden und dabei frankofone Autorin zu bleiben.
Aber durch die Recherchen für meine Dokumentarfilme, in denen ich den Erinnerungen der Bäuerinnen in den Dahra-Bergen nachspürte, in arabischer oder, wenn der Erinnerungsschmerz allzu heftig durchbrach, in Berbersprache, habe ich einen dauerhaften Impuls erhalten; ein Besinnen auf meine Ursprünge. Ja, ich möchte fast sagen, die Frauen jeden Alters vom Stamm meiner Mutter haben mir eine ungeheure Lektion in puncto Ethik und Ästhetik erteilt, allein durch die Art, wie sie von ihren Erlebnissen im Algerienkrieg sprachen oder auch nur ihr Alltagsleben beschrieben. Ihre Sprache bahnte sich in überraschenden Bildern ihren Weg, in Erzählminiaturen, die bald bitter, bald amüsant und witzig waren, in denen immer ein heiterer oder herber Glaube mitschwang, der wie eine sprudelnde Quelle den Groll fortspülte.
Ich habe neu zu sehen gelernt und den Wunsch verspürt, die vorgefundene Wirklichkeit fast nach vergilscher Manier zu transponieren. Und ich habe dank der Erzählkunst, die sich meine Schwestern über Generationen zu bewahren wussten, dank ihrer angeborenen Scheu und ihres unbewussten Taktgefühls zu einer inneren Einheit (zurück)gefunden, so dass der Ursprungston begonnen hat, sich inmitten meines französischen Schreibens zu regen. Derart gerüstet oder auch mit mir selbst ausgesöhnt, konnte ich mich ganz und gar freischwimmen.
Und wer richtet jetzt seinen Blick auf die Welt, dort, an diesem südlichen Gestade, von dem ich einst aufgebrochen bin? Wer, wenn nicht jede Frau, der einst der offene Blick verboten war, die sich höchstens mit niedergeschlagenen Augen bewegen durfte, Gesicht, Stirn und Körper in allerhand Stoffe, wollene Umhänge, Seidengewänder oder Kaftane gehüllt. Dieser bewegliche weibliche Körper, der heute, seit die Schulpflicht für Mädchen jeden Alters bis zum letzten Weiler vorgedrungen ist, mehr denn je unter Kontrolle zu stehen scheint?
Die junge Architektin in meinem Film „La Nouba des femmes du mont Chenoua“4 kehrt an den Schauplatz ihrer Kindheit zurück. Und ihr Blick ruht fragend auf den Bäuerinnen, untersucht ihre Gespräche, ihre verschlungenen Unterhaltungen. Ist es Zufall, dass in den meisten Filmen, bei denen Frauen Regie führen, dem Klang, der Musik, dem Timbre der bewusst aufgenommenen oder zufällig eingefangenen Stimmen genauso viel Bedeutung beigemessen wird wie dem Bild selbst? Als müsse man sich der Leinwand ganz behutsam annähern, sie bevölkern, aber getragen von einer Stimme, die voll tönt und dabei so hart ist wie ein Stein und so verletzlich und vielgestaltig wie ein Menschenherz.
So habe ich mich an die Arbeit mit Bild und Ton gemacht, mich einer Muttersprache angenähert, die ich künftig nur noch im Freien erleben wollte, mit dem Versuch, ihr ein für allemal Licht und Luft zu verschaffen. Eine sonnenverbrannte Sprache, deren Rhythmus sich auf die umherschlendernden, tanzenden Frauenkörper überträgt – und stets unter freiem Himmel, darum vor allem ging es mir.
Die französische Sprache nun in all dem? Von wie weit her muss man gekommen sein, um diese scheinbar so klare Sprache in das Gewebe der Stimmen meiner Schwestern einzuflechten? Die Wörter jeder Sprache lassen sich berühren und buchstabieren und fliegen davon wie zwitschernde Schwalben. Ja, Wörter können sich verflüchtigen, aber ihre Arabesken schließen unsere Körper nicht mehr aus, in denen wir das Gedächtnis tragen.
Vielleicht kann man ganz unpathetisch sagen, dass das Französisch, wie ich es schreibe, befruchtet ist von den Klängen und Rhythmen des Ursprungs, wie die Musik, der Béla Bartók 1913 bis ins Aurès-Gebirge hinein gefolgt ist. Ja, meine Sprache, in der ich schreibe, öffnet sich dem Anderen. Sie wirft die Bürde erdrückender Verbote ab, sie dehnt sich und streckt sich, bis sie einem schlichten Flechtwerk ähnelt, draußen im Freien, durchwirkt von Stille und Fülle. Mein Französisch trägt seit nunmehr zwanzig Jahren das nächtliche Leuchten der Frauen vom Berg Chenoua in sich. Mir ist, als würden sie noch immer für mich tanzen, in geheimen Grotten, und zu ihren Füßen funkelt das Mittelmeer. Sie grüßen und beschützen mich, und ich trage ihr Lächeln mit mir herum, auch jenseits des Atlantiks, als Sinnbild der schifa – was Heilung bedeutet.5 Denn mein Französisch, das unterfüttert ist mit dem Samt, aber auch den Dornen der einst verdrängten Sprachen, wird vielleicht irgendwann einmal die Wunden meines Gedächtnisses vernarben lassen.
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe Auszug aus der Rede, die die algerische Autorin und Historikerin am 22. Juni 2006 anlässlich ihrer Aufnahme in die Académie Française gehalten hat. Auf Deutsch erschien zuletzt von Assia Djebar, „Das verlorene Wort“, Zürich (Unionsverlag) 2006.