Was macht al-Qaida im Libanon?
Bin Ladens Einfluss auf die Salafisten von Fidaa Itani
Während der Belagerung des Palästinenserlagers Nahr al-Bared durch das libanesische Militär erklärte Schahin Schahin, ein Verhandlungsführer der Fatah al-Islam „Dieser Kampf wurde uns aufgezwungen. Ich hätte die Auseinandersetzung mit der libanesischen Armee nicht gesucht.“ Dass Schahin Schahin ein führendes Mitglied von al-Qaida ist – und ein Sohn von Ussama bin Laden – wusste die Öffentlichkeit damals noch nicht. Seine Distanzierung von den Kampfhandlungen ist allerdings typisch für die unentschiedene Haltung von al-Qaida: Es bleibt unklar, ob die Organisation den Libanon als Schauplatz einer Auseinandersetzung mit den USA und ihren Verbündeten begreift oder nur als eine Art Rückzugsbasis, wo sie ihre Kämpfer ausbilden kann, die dann in andere Einsatzgebiete weiter geschleust werden.
Georges Khoury, Leiter des libanesischen Armeegeheimdienstes, erklärte am 4. September 2007, zwei Tage nach der Eroberung des Lagers, unter den Kämpfern von Nahr al-Bared seien auch Mitglieder von al-Qaida gewesen. Die Aktivitäten der Gruppierung im Libanon reichen allerdings weit in die Vergangenheit zurück. Bereits in den 1990er-Jahren hatten Gerichte im Libanon „Salafisten“1 wegen „Bildung terroristischer Zellen mit Kontakten zu al-Qaida“ verurteilt – diese Libanesen kann man einer um 1974 von Salem al-Schahhal gestifteten Bewegung zurechnen. Schahhal begründete damals in Tripoli die Gruppierungen Muslimun (Muslime) und Schabab Mohammad (Jugend für Mohammed), die der Stadt das islamische Sittengesetz aufzwingen sollten, zunächst durch Angriffe auf Kinos und auf jugendliche Kinobesucher. Obwohl salafistische Vorstellungen zu dieser Zeit noch wenig Resonanz fanden, wurde die Bewegung auch in einigen syrischen Städten aktiv.
Die Sunniten im Libanon stellen einen Großteil der Handelsbourgeoisie und der öffentlichen Verwaltung, sind aber auch in der noch kaum alphabetisierten Landbevölkerung vertreten. Dass sich diese komplexe sunnitische Gemeinschaft stets zum arabischen Nationalismus bekannte, zeigte sich lange Zeit auch in ihrem Eintreten für den Kampf der Palästinenser und in ihrer Unterstützung nasseristischer und linker Gruppierungen. Als Reaktion auf den 1976 erfolgten Einmarsch der syrischen Armee und deren harte Repressionsmaßnahmen auf libanesischem Boden tendierten einige sunnitische Gruppen allerdings auch zu einem radikalen Islamismus. In dieser Zeit erlebte auch die Muslimbruderschaft in Syrien einen deutlichen Aufschwung: Ihre „kämpfende Avantgarde“ startete bewaffnete Aktionen und entwickelte sich zu einer ernsten Bedrohung für das Regime in Damaskus.
Kompliziertes Geflecht mit dem Label al-Qaida
Als der libanesische Bürgerkrieg 1989 mit dem Abkommen von Taïf ein vorläufiges Ende fand, begannen die immer noch unbedeutenden Salafisten andere islamische Organisationen zu attackieren, vor allem die Wohlfahrtseinrichtungen der Vereinigung al-Ahbasch. In diesen aggressiven Kampagnen schafften es die Salafisten, ihre intellektuellen und theologischen Argumente zu schärfen und in vielen Städten und Dörfern neue Anhänger zu gewinnen. Besonders erfolgreich warben sie unter jungen Akademikern und Angestellten aus der Mittelschicht, aber auch unter Absolventen saudischer Koranschulen, die gute Kontakte zu den radikalen Korangelehrten des Königreichs unterhielten.
Die Salafisten im Libanon blieben allerdings tief gespalten. Am bekanntesten war noch die Gruppe al-Hidaya wal-Ihsan (Predigt und Almosen), die vom Sohn ihres Gründers Dai al-Islam al-Schahhal neu aufgebaut wurde.
Am 31. August 1995 fiel Scheich Nisar al-Halabi, der Leiter der Al-Ahbasch-Stiftung, einem salafistischen Attentat zum Opfer.2 Die Tat erregte großes Aufsehen, es war der erste Mordanschlag der Salafisten auf einen ihrer Gegner. Die Mörder blieben bis zu ihrer Hinrichtung bei der Aussage, allein gehandelt zu haben.
Doch die libanesische Führung und der (im Libanon allmächtige) syrische Geheimdienst machte den Palästinenser Abdul Karim al-Saadi (Abu Muhdschan) als Drahtzieher aus, der als Chef der Gruppierung Usbat al-Ansar in dem Flüchtlingslager Ain al-Helweh nahe Sidon im Süden des Libanon residierte. Dieser Organisation, die aus Veteranen des afghanischen Widerstands bestand, wurde 1999 auch die Ermordung von vier Richtern im Gerichtsgebäude von Saida zugeschrieben.
In dieser Zeit kam es zu den ersten Kontakten zwischen den Salafisten und Bin Laden. Eine vermutlich tschetschenische Gruppierung, die Verbindungen zu al-Qaida unterhielt, trat an den salafistischen Aktivisten Bassam Kandsch (Kampfname Abu Aischa) heran, der nach einem abgebrochenen Studium in den USA in Afghanistan zum Dschihadisten geworden war. Der Libanese sollte neue Möglichkeiten für das Einschleusen von muslimischen Kämpfern nach Israel erkunden. Kandsch gründete daraufhin die Gruppe Danniyeh, machte aber zugleich klar, dass er etwa zwei Jahre brauchen würde, um sie neben der Hisbollah als Kraft des Widerstands gegen Israel zu etablieren.
Der Mitschnitt eines Gesprächs zwischen Kandsch und den tschetschenischen Untergrundkämpfern wurde den syrischen und libanesischen Behörden damals von russischen Unterhändlern zugespielt, die seit dem 25. Mai 2000 gemeinsam mit den Syrern den Rückzug Israels aus dem Südlibanon überwachten. Aufgrund dieser Information wurde das libanesische Militär in der Neujahrsnacht 2001 aktiv und zerschlug die Gruppe Danniyeh. Gleichzeitig wurden in Syrien Verdächtige verhaftet, was den „transnationalen“ Charakter dieses Netzwerks radikaler Islamisten belegen sollte.
Einen offenen Aufruf zur Bildung von Untergrundgruppen im Libanon machte al-Qaida allerdings erst nach dem Einmarsch der USA in den Irak im März 2003. Dabei ist zu beachten, dass das Netzwerk Bin Ladens längst nicht mehr zentral gesteuert ist, sondern eher als eine Art Label fungiert, sodass den lokalen Gruppen ein großer Handlungsspielraum verbleibt.
Ende 2005 hatte sich al-Qaida im Libanon voll etabliert. Das zeigte die Verhaftung von Mitgliedern eines sogenannten Netzwerks der 13 unter Führung des Libanesen Hassan Nabaa, dem auch saudische, syrische und palästinensische Kämpfer angehörten. Die im Libanon und in Syrien operierende Gruppe unterstützte al-Qaida und den irakischen Widerstand. Wiederholt lieferte sie sich Gefechte mit Spezialtruppen der Geheimdienste, vor allem in den grenznahen Regionen, wobei es ihnen sogar gelungen sein soll, einen syrischen Helikopter abzuschießen.
Nach diesen Verhaftungen kam es zu einer heftigen politischen Kontroverse, weil die Verdächtigen angeblich Aussagen über eine Beteiligung am Mordanschlag vom 14. Februar 2005 auf den libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri gemacht hatten. Dabei gibt es immer noch große Zweifel, wie diese Geständnisse zustande gekommen sind, und an der Behauptung, die Gruppe habe in Verbindung mit dem jungen Palästinenser Ahmad Abu Adas gestanden, der sich in einer Videobotschaft zu dem Selbstmordanschlag auf Hariri bekannt hatte.3
Im Frühjahr 2006 kam es zu einer Spaltung der Gruppierung Fatah al-Intifada. Rund 70 Mitglieder trennten sich von dieser eng mit dem syrischen Regime verbundenen Organisation – die sich 1983 von Jassir Arafats Fatah abgespalten hatte – und bildeten eine eigene Gruppe namens Fatah al-Islam unter Führung von Schaker al-Abssi (Abu Ali), einem aus Jordanien stammenden palästinensischen Führungskader.
Die Dissidenten wurden in einigen Flüchtlingslagern aktiv – in Burdsch Baradschneh (südlich von Beirut), in Ain al-Helweh (Saida), in Schatila (Beirut), aber auch in den Lagern Badawi und Nahr al-Bared im Norden –, wo sie weitere 50 Kämpfer unter Führung des Libanesen Schehab al-Qaddur (Abu Hurajra) gewinnen konnten. Al-Qaddur hatte sein Leben großenteils im Untergrund verbracht, nachdem er 1986, im Alter von nur 14 Jahren, in Tripolis zum ersten Mal vom syrischen Geheimdienst verhaftet worden war.
Diese Fatah al-Islam wurde von ihrer Gründung an von einem einflussreichen Dschihadisten aus dem Lager Ain al-Helweh unterstützt, der Gelder von al-Qaida beschaffte. Zugleich wurden einige Mitglieder, ebenfalls in Ain al-Helweh, vom Militärchef der Gruppe Dschund al-Scham ausgebildet. Diese war 1999 in Afghanistan als Zusammenschluss von Dschihadisten aus den vier Staaten des alten „Großsyrien“ (Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina) entstanden und artikulierte sich in einer besonders radikalen Sprache.
Als dann im Juli 2006 der „33-Tage-Krieg“ zwischen Israel und der Hisbollah begann, konnten die Dschihadisten die entstandene Konfusion nutzen, um ihren Einfluss auszuweiten. Dabei kam ihnen auch gelegen, dass der von al-Qaida ausgerufene „Islamische Staat im Irak“ entschieden hatte, alle Kämpfer außer Landes zu schicken, die keine militärische Spezialausbildung durchlaufen oder sich nicht in die örtliche Bevölkerung integriert hatten. Die Fatah al-Islam absorbierte so viele dieser ausgemusterten Kämpfer, dass die Fatah und die anderen Mitgliedsgruppen der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) sogar eine „Säuberung“ des Lagers Ain al-Helweh forderten. Auch der libanesischen Armee, die nach dem Ende der Kämpfe zwischen Israel und der Hisbollah große Truppenkontingente ins Gebiet südlich des Litani verlegte, missfiel die Präsenz der Dschihadisten in unmittelbarer Nachbarschaft der 12 000 Unifil-Soldaten im Südlibanon. Daraufhin beschloss die Fatah al-Islam, nach Norden auszuweichen, also in ein überwiegend von Sunniten bewohntes und deshalb weniger feindliches Gebiet.
Dieser Standortwechsel wurde durch Gespräche mit salafistischen Gruppen, aber auch mit Abgeordneten der „Zukunftsbewegung“ von Saad Hariri vorbereitet, die den wachsenden Einfluss der Hisbollah registrierten und befürchteten, die schiitische Bewegung könne sich irgendwann gegen die Sunniten wenden. Einem sunnitischen Abgeordneten aus Tripoli, der die Befürchtung äußerte, die Hisbollah könnte die Oberhand über die Sunniten gewinnen, antwortete der Führer der Fatah al-Islam: Er wolle zwar keinen Konflikt mit einer Bewegung, die gegen Israel kämpft, doch werde er „niemandem gestatten, den Sunniten zu schaden“.4
In dem Kommuniqué der Fatah al-Islam vom 27. November 2006 wurde erstmals Nahr al-Bared als neues Hauptquartier der Organisation genannt. Seitdem tauchten immer mehr Kämpfer mit Verbindungen zu al-Qaida im Libanon auf, die legal oder illegal über die syrische Grenze gekommen waren. Manche blieben nur kurz im Lager Nahr al-Bared und reisten danach in Regionen mit hohem sunnitischen Bevölkerungsanteil weiter, um dort ihre eigenen Netzwerke aufzuziehen. Diese neuen Dschihadisten kamen nicht nur aus der arabischen Welt, sondern auch aus Russland, Tschetschenien und der Türkei.
Ende 2006 tauchte Ahmed Tuwaidschiri von der saudischen al-Qaida im Libanon auf, um Gespräche mit der Fatah al-Islam und anderen salafistischen Gruppen zu führen. Aus dieser Quelle flossen damals reichlich Gelder – aus staatlichen Kassen wie von reichen Geschäftsleuten, die sich zu „Dschihad-Finanziers“ berufen fühlen – die vorwiegend aus Saudi-Arabien und Kuwait stammten.
Zugleich bündelten die salafistischen Wohlfahrtsvereinigungen5 ihre Kräfte zur Abwehr der „schiitischen Bedrohung“. Die politische Krise im Libanon und einzelne Zusammenstöße zwischen Sunniten und Schiiten wie auch zwischen Anhängern der Regierungsmehrheit und der Opposition schufen günstige Voraussetzungen für eine solche Strategie (siehe Kasten Seite 9 oben).
Für die Vertreter von al-Qaida traf es sich gut, dass Saad Hariris Zukunftsbewegung dringend eine eigene Miliz als Gegengewicht zur Hisbollah brauchte. Deshalb ließ sich die Hariri-Partei trotz Bedenken auf die Zusammenarbeit mit fundamentalistischen Gruppen ein. Für sie war es ein Schachzug in der Auseinandersetzung mit Hisbollah, Syrien und dem Iran; al-Qaida hingegen nutzte – ganz pragmatisch – die Chance, an Geld heranzukommen. Mit dem wollten sie neue Kämpfer rekrutieren, militärische Ausbildungskurse im Lager Ain al-Helweh finanzieren und Angriffe auf die Unifil-Truppen im Süden vorbereiten, aber auch Botschaftsgebäude westlicher Länder und der Golfstaaten in Beirut und Umgebung ausspähen.
Das syrische Regime beschloss, über die Aktivitäten der Dschihadisten hinwegzusehen und abzuwarten, wie sich seine Gegner – die Zukunftsbewegung und die Dschihadisten – in ihren Bündnisoptionen verstricken. Zugleich verstärkte es im eigenen Land den Druck, um die militanten Islamisten loszuwerden, von denen dann viele Zuflucht im Libanon suchten.
In der ersten Jahreshälfte 2007 wurden die etwa 20 mehr oder weniger eng mit al-Qaida liierten Gruppen immer aktiver. Ständig reisten neue Führungskader an, tauchten neue Kämpfer auf, reisten Gruppen, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, in Richtung Europa ab: nach Frankreich und Großbritannien, in die Niederlande und nach Deutschland. Gemeinsam mit der Fatah al-Islam etablierte al-Qaida ein weit verzweigtes Netzwerk, das auch den Kampf um Nahr al-Bared überlebte. In diesem Lager im Norden des Libanon hatte es das Arsenal der PLO übernommen und durch neue Waffen aufgefüllt, die auf dem libanesischen Markt gekauft oder aus Syrien hereingeschmuggelt wurden.
Zur Explosion kam es dann, als eine Abteilung des militärischen Inlandsgeheimdienstes FSI in der Nacht vom 19. zum 20. Mai auf der Al-Mitayn-Straße in Tripoli eine Gruppe von Al-Qaida-Mitgliedern festzunehmen versuchte. Die Männer, die auch in Saudi-Arabien per Haftbefehl gesucht wurden, waren eine Art Spezialeinheit zur technischen Unterstützung der islamistischen Kämpfer im Irak. Da diese Leute dem Schutz der Fatah al-Islam unterstanden, griffen die Kämpfe rasch auf das Lager Nahr al-Bared über. Daraus entwickelte sich ein Krieg, der 106 Tage dauerte und das Leben von 170 Soldaten, 200 Fatah-Kämpfern und 47 palästinensischen Zivilisten forderte. Allein in den letzten Tagen des Konflikts starben 40 Kämpfer der Fatah al-Islam, von denen die meisten durch Kopf- oder Genickschuss hingerichtet wurden. 150 Mitglieder und Funktionäre konnten dagegen fliehen. Die libanesische Armee rückte in ein verlassenes Lager ein. Zivilisten oder humanitäre Organisationen erhielten keinen Zutritt, in der ganzen Umgebung war sogar das Fotografieren verboten. Mit Planierraupen wurden die Gebäude dem Erdboden gleichgemacht und alle Spuren des Kampfes gelöscht.
Im Juni, einen Monat nach Beginn der Kämpfe, hatte der libanesische Geheimdienst die Identität des Fatah-al-Islam-Kaders ermittelt, der sich Schahin Schahin nannte. Es handelte sich um Saad Bin Laden, einen Sohn des Al-Qaida-Gründers, der wenige Tage nach Ausbruch der Kämpfe in das Lager gelangt war und unter den Kämpfern großes Ansehen genoss. Derselbe Geheimdienst hatte einige Monate zuvor seine Einreise in den Libanon registriert. Seitdem hatte der Sohn von Ussama Bin Laden, einer der wichtigsten Kader im operativen Bereich von al-Qaida, zusammen mit Schehab al-Qaddur im ganzen Land neue Zellen gegründet und neue Verbindungen aufgebaut.
Die militärische Niederlage in Nahr al-Bared bedeutet keineswegs, dass die mit al-Qaida verbündeten Gruppen ihre Aktivitäten im Libanon eingeschränkt haben. Sie sind im Palästinenserlager Ain al-Helweh ebenso präsent wie in den sunnitischen Gebieten in der Bekaa-Ebene und in einigen Armenvierteln von Beirut. Als ich anderthalb Monate nach Beginn der Kämpfe mit dem Sohn Bin Ladens zusammentraf, meinte er: „Glaubst du im Ernst, dass wir nur die 500 Kämpfer haben, die in Nahr al-Bared eingeschlossen sind?“
Wie stark diese Gruppe ist, belegen die vom Geheimdienst nach der Verhaftung von mehr als 200 Salafisten und Dschihadisten gewonnenen Informationen. Und auch die Morde an Politikern in Beirut und die Anschläge auf die Unifil-Truppe wurden von der Armee der Fatah al-Islam zugeschrieben.
Schahin Schahin alias Saad Bin Laden
Beobachter fragen sich immer noch, weshalb Aiman al-Sawahiri, die „Nummer zwei“ der al-Qaida, zwar den Anschlag vom 24. Juni 2007 auf spanische Unifil-Soldaten im Südlibanon gelobt, die Kämpfe um Nahr al-Bared jedoch mit keinem Wort erwähnt hat. Dazu erklärte Schahin Schahin alias Saad Bin Laden, al-Qaida sei nicht begeistert von diesem aussichtslosen Nahkampf in einem Flüchtlingslager, der zudem in die politische Isolierung führe. Tatsächlich distanzierten sich die meisten politischen Kräfte im Libanon von der Fatah al-Islam, darunter auch einige Salafisten. Und die Belagerung hat den politischen Handlungsspielraum von al-Qaida eingeschränkt und der Armee die Gelegenheit verschafft, hunderte von Hausdurchsuchungen und Festnahmen vorzunehmen.
Doch die politische Dauerkrise und die zunehmende Aufrüstung aller Fraktionen bietet al-Qaida die Chance, im Schutz der stärksten sunnitischen Bewegung zu operieren. Auch Hariris „Zukunftsbewegung“ hat begonnen, unter dem Deckmantel privater Sicherheitsfirmen eigene Kämpfer anzuwerben: 2 400 Milizionäre wurden bereits angeworben, weitere 14 000 sollen allein im Nordlibanon hinzukommen. Dennoch haben die Kämpfe um Nahr al-Bared einen Teil der sunnitischen Führungselite in der Überzeugung bestärkt, dass sie für ein Bündnis mit al-Qaida einen zu hohen Preis bezahlen müssen.
Andererseits haben die Ereignisse um Nahr al-Bared auch den Salafisten innerhalb der sunnitischen Gemeinschaft neuen Zulauf gebracht. Sie können darauf verweisen, dass christliche Soldaten einige Moscheen im Lager verwüstet haben und dass es im Gefängnis Rumieh, wo viele Dschihadisten einsitzen, zu Koranschändungen kam. Neue Internetseiten werben ganz offen für al-Qaida und glorifizieren die Märtyrer der Fatah al-Islam. Da heißt es zum Beispiel: „Geduld … Al-Qaida ist zurück im Libanon: Das Ende von Nahr al-Bared ist für al-Qaida nur der Beginn.“
Tausende junger Sunniten sind die lokalen Auseinandersetzungen ohne politische Perspektive seit langem leid. Ihnen imponiert, dass die Schiiten den Widerstand gegen Israel ganz zu ihrer Sache zu machen, aber sie begeistern sich auch für die Anschläge von al-Qaida im Westen und deren, wenn auch begrenzte Erfolge im Irak.
In den Moscheen trifft man auf eine neue Generation, die für das salafistisch-dschihadistische Gedankengut empfänglich ist. Die offiziellen Institutionen der sunnitischen Gemeinschaft – die Fatwa-Behörde Dar al-Ifta, die islamischen Stiftungen und die Scharia-Gerichte – sind in Verruf geraten, nicht nur wegen ihrer Parteinahme für Hariris Zukunftsbewegung, sondern auch wegen ihrer Korruption. Hinzu kommt das Gefühl, dass ihnen Unrecht geschieht, und der Verdruss über den offenbar unlösbaren Konflikt mit Israel. Solche Stimmungen kann al-Qaida ausbeuten: die Furcht vor den Schiiten und der Hisbollah, die Befürchtung der Sunniten, marginalisiert zu werden, und auch den populären Antiamerikanismus, denn die Regierung und die offiziellen sunnitischen Parteien gelten als Verbündete Washingtons. Manche Sunniten sehen den Islam als die Lösung und als ihr Vorbild al-Qaida.
Für al-Qaida – wenn auch nicht unbedingt für alle Gruppen, die sich zu deren Ideologie bekennen – scheint der Libanon jedoch vor allem als sicherer Rückzugsraum interessant, als ein Ort für Ausbildung und Training, als gesichertes Durchgangslager für die Kämpfer, die in den Irak und aus dem Irak nach Europa geschickt werden.
Darüber hinaus dient der Libanon auch als Labor für neue Kampfmethoden: Hier kann man an der Entwicklung kleiner, ferngesteuerter Flugkörper arbeiten, die bis zu 30 Kilogramm Sprengstoff tragen, oder an neuen ferngezündeten Sprengkörpern, die von den Panzerfahrzeugen der US-Armee im Irak nicht aufgespürt werden können. Hier werden auch neue Programme zur Verschlüsselung des Datenverkehrs im Internet entwickelt, damit die Kommunikation und Koordination der Al-Qaida-Kader nicht von örtlichen Geheimdiensten, ja nicht einmal vom US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) abgehört werden können. Vor diesem Hintergrund versteht man die Aussage von Schahin Schahin, dass al-Qaida sich nicht in die inneren Auseinandersetzungen des Libanon verwickeln lassen wolle.
Aber wie verträgt sich diese „Neutralität“ mit der jüngst von al-Sawahiri geübten Kritik an der Präsenz der Unifil und den darauf folgenden Anschlägen? Werden sich auch die örtlichen Verbündeten von al-Qaida aus dem libanesischen Streit heraushalten? Eines ist gewiss: Al-Qaida hat im Libanon eine sichere Zukunft.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Fidaa Itani ist Journalist in Beirut.