14.03.2008

Ethnologen an die Front

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Ethnologen an die Front

Das US-Militär steht im Irak und in Afghanistan und wird dort auch noch eine Weile bleiben. Dass bereits tausende von Zivilisten und Soldaten umgekommen sind, ist den mangelnden Kenntnissen über die Kultur beider Länder geschuldet. Deshalb beschäftigt die Armee seit einiger Zeit Ethnologen.

Dass das US-Militär Nachhilfe braucht, wenn es um die Kultur der islamischen Welt geht, bezweifelt zwar niemand. Allerdings sind viele Ethnologen entschieden dagegen, dass ihre Kollegen mit dem Militär, vor allem in einer unmittelbaren Kampfsituation, zusammenarbeiten.

Das Programm mit dem Titel Human Terrain Systems (HTS) läuft bereits seit mehreren Jahren. Doch im September 2007 wurde es vom US-Militär erheblich ausgeweitet. In seinem Rahmen wurden Ethnologen rekrutiert, um sie in amerikanische Einheiten auf Brigade- und Divisionsebene „einzubetten“.

Betreut wird das HTS-Programm von einer Personalagentur namens BAE. Diese Firma engagiert Ethnologen, die nicht einmal alle Experten für die Nahostregion sind, mit dem Auftrag, den Kommandeuren Ratschläge zu erteilen über „kulturgerechte“ Maßnahmen in ihrem Kampfgebiet. Das Programm nimmt für sich in Anspruch, die Zahl der Toten und Verwundeten verringern zu können. Die mit potenziell gewaltsamen Konflikten konfrontierten Soldaten müssten nur lernen, das Verhalten der Bevölkerung richtig zu deuten.

Feldforschung in politisch vermintem Gelände

Ein Beispiel: Am 5. Oktober 2007 berichtete die New York Times über ein Team von Ethnologen, das in eine große Militäroperation einbezogen worden war, um die Angriffe gegen die US-Truppen und das afghanische Militär zu verringern. Die Ethnologen fanden heraus, dass in ihrem Zielgebiet viele Witwen lebten. Es wurde vermutet, dass die männlichen Verwandten dieser Witwen unter dem starken ökonomischen Druck standen, die einkommenslosen Frauen zu unterstützen und daher, so die Schlussfolgerung, eher geneigt seien, sich den Aufständischen anzuschließen. So richtete man ein Ausbildungsprogramm für die Frauen ein, was tatsächlich dazu führte, dass die Zahl der Angriffe zurückging.

Trotz solcher Erfolgsgeschichten läuteten bei vielen Ethnologen die Alarmglocken – das HTS-Programm erinnerte offenbar doch zu sehr an zwei ähnliche Projekte aus der Zeit des Vietnamkriegs, die unter Beteiligung von Ethnologen zu ausnehmend schrecklichen Resultaten geführt hatten.

Das erste war das kurzlebige Camelot-Projekt von 1965: eine vom Geheimdienst der US-Armee organisierte Operation, in deren Rahmen Ethnologen die kulturellen Ursachen von Krieg und Gewalt erforschen sollten – eigentlich ein ganz vernünftiges Vorhaben. Doch die Wissenschaftler des Camelot-Projekts hatten ausgerechnet Chile zum Testgebiet auserkoren, und dies zu einem Zeitpunkt, als die CIA kräftig in der chilenischen Innenpolitik mitmischte. Um die Wahl des sozialistischen Politikers Salvador Allende zu verhindern, hatte die CIA mit dafür gesorgt, dass 1964 der Christdemokrat Eduardo Frei chilenischer Präsident wurde. Das Camelot-Projekt wurde zwar nach gut einem Jahr wieder aufgegeben, ist aber bis heute für viele Ethnologen eine peinliche Erinnerung an den missbräuchlichen Einsatz ihres Fachwissens.

Der zweite Fall war ein Programm namens Cords (Civil Operations and Revolutionary Development Support), das die zivilen und militärischen Pazifizierungsprogramme der USA koordinieren sollte. Cords unterstand zwar direkt General William C. Westmoreland, doch die Leitung hatte ein Zivilist, der Botschafter Robert W. Komer. Das Cords-Programm in Vietnam hatte die Aufgabe, „menschliches Terrain“ zu erkunden, also verdächtige Individuen und Gruppen zu identifizieren, die das US-Militär für Sympathisanten des Vietkong hielt. Auf diese Personen wurden daraufhin Mordkommandos angesetzt.

Man weiß zwar nicht genau, in welchem Ausmaß Ethnologen direkt in das Programm eingebunden waren, aber es steht fest, dass ethnologische Forschung bei diesem Unternehmen eine Rolle gespielt hatte.

Die ethnologische Zunft verfügt über einen Wertekodex, der erstens gebietet, dass die Tätigkeit des Ethnologen auf keinen Fall den Menschen schadet, die zum Gegenstand ethnologischer Forschung werden, und der zweitens deren „informierte Einwilligung“ in ihre Beteiligung an jedweder ethnologischen Forschung voraussetzt. Unter Kampfbedingungen können jedoch beide Gebote schon deshalb nicht eingehalten werden, weil sich die „eingebetteten“ Ethnologen gegenüber den Bürgern des Territoriums, in dem sie operieren, gar nicht identifizieren können.

Auch rein praktisch gesehen gibt es Bedenken gegenüber der Heranziehung von Ethnologen zu militärischen Hilfsdiensten. Die Arbeit von Ethnologen hat einige Ähnlichkeit mit nachrichtendienstlichen Tätigkeiten, weshalb Ethnologen selbst unter normalen und vollkommen unverdächtigen Forschungsbedingungen nicht selten als Spione angesehen werden. Eben darin liegt ohnehin ein erhebliches Hindernis für die wissenschaftliche Arbeit der Ethnologen.

Aus all diesen Gründen haben die Kollegen aus der ethnologischen Zunft das HTS-Programm im Irak von Anfang an genau unter die Lupe genommen. Im September 2007 bildete eine Gruppe von Wissenschaftlern das Network of Concerned Anthropologist (Netzwerk kritischer Ethnologen), eine informelle Arbeitsgruppe nach dem Vorbild der Physiker, die in den 1980er-Jahren das Star-Wars-Programm der Regierung Reagan bekämpft hatten.

Diese Gruppe verfasste eine Selbstverpflichtung zur Nichtbeteiligung an der Aufstandsbekämpfung (Pledge of Non-Participation in Counter-Insurgency). Einer der Organisatoren, David Price von der St. Martin’s University in Lacey, Washington, erklärte am 13. Dezember 2007 in einem Interview mit dem unabhängigen Radioprogramm Democracy Now1 : „Von uns sind gar nicht alle strikt gegen jede Zusammenarbeit mit dem Militär, aber wir sind gegen alles, was mit Aufstandsbekämpfung zu tun hat, wie sie jetzt im Irak stattfindet, und gegen alles, was die ethischen Kriterien unserer Forschung verletzt. Und wir fordern unsere Kollegen auf, sich zur Wehr zu setzen und unser Anliegen mitzutragen, indem sie erklären, dass die Ethnologie nicht für derartige Ziele benutzt werden soll.“

Im Oktober 2007 verfasste das Leitungsgremium der American Anthropological Association (AAA) eine klare Stellungnahme. Die untersagte den Ethnologen zwar nicht explizit die Teilnahme an Aktivitäten, die irgendwie in das HTS-Projekt eingebunden sein könnten, aber sie warnte ihre Mitglieder davor, dass eine Betätigung im Rahmen des HTS möglicherweise gegen den ethnologischen Wertekodex verstoßen könnte.

Bei der AAA-Jahreskonferenz, die im November 2007 in Washington, D. C., stattfand, spielte die Kontroverse um die HTS-Aktivitäten eine zentrale Rolle. In einer Diskussion (unter dem Vortragstitel „The Empire Speaks Back: US Military and Intelligence Organization’s Perspectives on Engagement with Anthropology“) erläuterten sowohl Fürsprecher als auch Kritiker des Programms vor einem überfüllten Saal ihre unterschiedlichen Positionen. Die auf dem Podium sitzenden Ethnologen, die sich mit dem Militär eingelassen haben, versuchten ihre Kollegen davon zu überzeugen, dass sie einen heilsamen Effekt auf das Militär haben, weil sie dazu beitragen, typisch militärische Wahrnehmungsweisen zu verändern und die Sensibilität für kulturelle Unterschiede zu schärfen. Die Skeptiker auf dem Podium wandten ein, dass man schon ganz schön naiv sein müsse, wenn man sich als Forscher dem Militär zur Verfügung stellt, da man doch nie wissen könne, zu welchen Zwecken die Forschungsergebnisse verwandt würden.

Die Kontroverse dominierte die gesamte Jahrestagung und führte am Ende zu einer Resolution, die (wenn sie von der Gesamtheit der Mitglieder ratifiziert wird), den Wertekodex der Ethnologen stärken würde, da jede Tätigkeit verboten sein soll, die geheime Forschungsarbeit für Nachrichtendienste impliziert.

Als Verfechterin der Kooperation mit dem Militär und den Geheimdiensten hat sich vor allem die Ethnologin Montgomery McFate profiliert, die heute wissenschaftliche Mitarbeiterin am U.S. Institute for Peace ist. Am 10. Mai 2007 legte sie in einem Seminar einen Plan vor, der zweifellos zum Aufbau des Human-Terrain-System-Projekts beigetragen hat.

Sie begann ihren Beitrag mit der Feststellung, dass das US-Militär fast keine Mittel für sozialwissenschaftliche Forschung ausgibt, die für den Erfolg der militärischen Operationen entscheidend sein könnte. Danach empfahl sie ein Vorgehen in vier Schritten, um diese Lücke in den Kenntnissen über andere Kulturen zu schließen. Erstens müsse ein umfassendes sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm aufgelegt werden, das zweitens zur Erstellung einer soziokulturellen Datenbasis führen werde. Drittens sollte die Regierung junge Kulturwissenschaftler einstellen, die in einem vierten Schritt ein „clearing house“ für kulturelles Wissen aufbauen.

Keine dieser von McFate vorgeschlagenen Forschungsbemühungen ist für die Ethnologenzunft problematisch. Wenn allerdings Expertenwissen zur „Waffe“ wird, die in militärischen Kampfsituationen zum Einsatz kommt, muss man sich ernsthaft Gedanken machen. Denn genau diese feine Grenze zwischen „Gebrauch“ und „Missbrauch“ ist die entscheidende Frage, um die es bei allen weiteren Diskussionen über die Anwendung ethnologischer Kenntnisse im militärischen Kontext geht.

Fußnote: 1 Siehe Danielle Follett und Thomas Boothe, „Eine freie Stimme der Neuen Welt“, Le Monde diplomatique, Januar 2008.

Aus dem Amerikanischen von Niels Kadritzke William O. Beeman ist Professor und Vorsitzender des Department of Anthropology der University of Minnesota in Minneapolis. Er leitet auch die Middle East Section der American Anthropological Association (AAA).

Le Monde diplomatique vom 14.03.2008