Die Zocker setzen auf den Staat
Die Finanzkrise erfasst die Realökonomie, und den neoliberalen Marktschreiern gehen die Ideen aus von Frédéric Lordon
Die Tiefe der gegenwärtigen ökonomischen Krise tritt vollends zutage, wenn Neuigkeiten, die normalerweise fröhlich stimmen, plötzlich als schlechtes Zeichen gelten.
Ist es nicht gut, wenn die amerikanische Zentralbank (Fed) ein weiteres Mal die Leitzinsen senkt? Nein, es ist nie genug. Hat die Fed nicht schon am 12. Dezember 2007, in Übereinstimmung mit den anderen großen Zentralbanken, großzügige Refinanzierungsmaßnahmen verkündet, um die Liquidität der privaten Banken zu sichern? Auch das zeigt nur, dass die Lage dramatischer ist als bislang angenommen.
Aber hat nicht am 17. Januar Ben Bernanke, der Präsident der Fed, erneut für ein verstärktes Ankurbeln der Wirtschaft plädiert? Nun, das heißt doch nur, dass die Zentralbank, nachdem sie ihren geldpolitischen Manövrierspielraum ausgeschöpft hat, den nächsten Schritt vom Staat verlangt. Und als wäre dies nur der erste Akt in einer freilich ernsten Komödie, kündigt George W. Bush tags darauf ein „Hilfspaket“ an, das punktgenau den Empfehlungen der Fed entspricht – wie zwei Schauspieler, die sich in einem Sketch versichern, dass die Lage sehr ernst ist.
Das hilflose Hantieren mit den klassischen Instrumenten der Wirtschaftspolitik ist das klarste Anzeichen für die tiefe Ratlosigkeit im globalen Finanzsektor, für eine Verunsicherung, der mit den bisherigen Prinzipien der Geldpolitik nicht mehr beizukommen ist.1
Die Nervosität sitzt tief. Auf einmal reden die Finanzauguren die Tageskurve der Börsenkursschwankungen – normalerweise ein chaotischer Informationsfluss, den die Informationsdienste unaufhörlich ausspucken – zu einem mittelfristig wirksamen Stabilisierungsprozess schön, der für die gegenwärtige Krise charakteristisch sei und eben seine Zeit brauche. Die bewährten Klopffechter des Systems sehen sich plötzlich genötigt, die angebliche Harmlosigkeit des Geschehens zu beschwören und für den Sommer des Jahres die Rückkehr zu normalen Verhältnissen zu prophezeien. Sicher ist freilich: Sie werden enttäuscht werden. Doch ihre falschen Prognosen werden uns genau so erhalten bleiben wie die Krise selbst.
Wer sich einzubilden vermag, dass deren epidemische Entwicklung wie ein leichter „Marktschnupfen“ vorübergehen könnte, muss schon völlig blind für ihre tieferen Ursachen sein. Es begann in den USA scheinbar harmlos mit der Anwerbung zahlloser an sich verarmter Haushalte für das Schuldenmachen in seiner übelsten Form: der Hypothekenanleihe. Am Ende verwandelte sich, in einem zynischer Akt ausgleichender „Gerechtigkeit“, dieselbe Zinskorrekturklausel2 , die vielen Menschen auf wundersame Weise ein Eigenheim in Aussicht gestellt und sodann (mit den steigenden Preisen) auch die Lust der Wohlhabenden auf rasche Spekulationsgewinne (mit Schuldtiteln) genährt hatte, in den jüngsten Alptraum der Finanzökonomie.
Seitdem müssen sich diejenigen, die gewöhnlich vom schnellen Geschäft leben, wohl oder übel mit der „armen“ Nachhut der insolventen Haushalte arrangieren. Denn deren Schulden kann man nicht mal so nebenbei loswerden wie andere schwächelnde Finanzprodukte. Der Scheitelpunkt der Welle von Wertberichtigungen, in deren Gefolge die Zinsen in die Höhe und zahllose Haushalte in die Zahlungsunfähigkeit getrieben werden, ist für März und April 2008 zu erwarten.
Zurück zur trägen Schönheit der festen Werte
Diesen Armen würde übrigens niemand aus der Finanzwelt auch nur eine Träne nachweinen, fiele ihre Massenpleite nicht mit dem Platzen der Spekulationsblase zusammen, die sich im Handel mit spekulativen, aus den Immobilienkrediten gebündelten Finanzprodukten gebildet hat. Das ist der Augenblick, in dem die Finanzwelt, die ansonsten die flüssigen Geldströme über alles liebt, wieder die träge Schönheit der festen Werte entdeckt. Und die Menschen, die zuvor als Fleischbrocken zum Anfüttern des Hypothekenmarkt benötigt wurden, sind nur noch lästige Bilanzposten, die der Rettung des Geschäfts im Wege stehen.
Währenddessen schreitet die allgemeine Krise fort. Sie ereilt nun eine Gruppe von ökonomischen Akteuren, um die es bislang eher still gewesen war: die „Monolines“. Das sind spezielle Anleiheversicherer, bei denen sich die Inhaber kommunaler Schuldverschreibungen, in der Regel Vermögensfonds und Banken, gegen Schäden und Spekulationsrisiken absichern. Ursprünglich eher beschauliche Unternehmen, die kalkulierbare Risiken für Kommunalobligationen3 in den USA abzudecken pflegten, hatten auch diese Institute im allgemeinen Spekulationsfieber begonnen, noch verlockendere Finanzprodukte zu versichern, weil dieser explodierende Markt satte Umsätze versprach.
Die Folgen: Heute sind die beiden größten US-amerikanischen Anlagenversicherer, MBIA und Ambac, praktisch pleite; Banken und Vermögensfonds-Gesellschaften sind – soweit sie es noch können – zur Notoperation ihrer Rekapitalisierung „eingeladen“.4 Aber diese Affäre ist im Roman der Finanzkrise keine bloße Episode. Denn nach Herabstufung ihres Werts müssen die Monolines pflichtgemäß eine vergleichbare Überprüfung aller Titel vornehmen, die sie versichert haben. Deren alter Wert, der noch in den Bilanzen ihrer Klienten steht (das sind zumeist Banken, die riesige Mengen an Finanzderivaten versichert haben), wird nun deutlich herabgestuft werden müssen.
Bei diesem Stand der Dinge ist ein Ende der Krise kaum abzusehen, zumal das Gift der finanziellen Zusammenbrüche erst allmählich wirkt. Die Eintrübung der Bilanzen nach den Verlusten bei den Subprime-Derivaten, die fortwährenden Spannungen zwischen den Banken, deren Liquidität so ungesichert ist, dass sie einander voller Misstrauen beäugen und gegenseitig des finanziellen Pestbefalls verdächtigen – all das hat einen fatalen Rückgang ihrer Kreditausgabe zur Folge.
Das wiederum werden die Unternehmen der Realökonomie ausbaden müssen, auch wenn sie sich bislang von den spekulativen Umtrieben fernhalten konnten. Aber wie die wirtschaftsliberalen Ideologen haben auch die Akteure der Finanzwelt mehr als ein halbes Jahr gebraucht, um den Gedanken zuzulassen, dass das Wirtschaftswachstum nachlassen oder gar in eine Rezession münden könnte.
Der Stimmungsumschwung wird nun vieles ändern. Zunächst werden immer mehr Bereiche der Finanzökonomie von der Destabilisierung erfasst. Das zeigen schon die heftigen Erschütterungen der Aktienmärkte zu Beginn des Jahres 2008. Nun, da die Wachstumsschwäche endgültig gewiss ist, fragen alle Beteiligten viel kritischer und genauer nach den Perspektiven und der Profitabilität aller Wirtschaftssektoren.
Der wahrscheinliche Beginn einer länger anhaltenden Baisse am Aktienmarkt verheißt einige herbe Risiken und Nebenwirkungen. Sie treffen vor allem den im Geheimen wirkenden, störungsempfindlichen Sektor des privaten Beteiligungskapitals, der modernsten Form des Aktionärskapitalismus.
Die Private-Equity-Firmen pflegen die als profitabel ausgemachten Unternehmen vollständig und mit dem Ziel zu übernehmen, sie binnen zwei oder drei Jahren zu restrukturieren und dann mit fetten Gewinnaufschlägen wieder an die Börse zu bringen.5 Wenn nun aber ausgerechnet der Aktienhandel schlappmacht, können diese cleveren Firmen die angestrebten wunderbaren Kursgewinne vergessen.
Die dann notwendige „Glattstellung“ zahlreicher Private-Equity-Operationen wird heikle Folgen haben. Denn entweder wird der geplante Mehrwert nicht erreicht, oder die Aufkäufer zögern den Zeitpunkt ihres Weiterverkaufs hinaus und müssen die aufgenommenen Schulden viel länger als geplant schultern. Weil die Firmenaufkäufe wie zuvor die Subprime-Hypothekenanleihen mit enormen Kreditsummen unter entsprechend riskanten Konditionen finanziert worden sind, sehen nun die Banken mit Bangen der „Stunde der Wahrheit“ entgegen. Sie müssen befürchten, das selbst ihre nach Bonität gut bewerteten Private-Equity-Kredite nunmehr zu „schlechten Schuldforderungen“ herabgestuft werden. Diese Bewertungsbewegungen „nach unten“ verstärken sich bei verlangsamtem Wirtschaftswachstum wechselseitig. Sie bedrohen die finanzielle Stabilität der Banken und dämpfen deren Bereitschaft zur Kreditvergabe. In der wundersamen Finanzwelt nährt so eine Krise die jeweils nächste Krise.
All das ist natürlich nicht vom Himmel gefallen. Zwar gibt auch Leute wie den famosen Herrn Bouton, Präsident der Société Générale, der meint, die Vorkommnisse in seiner Bank als „ärgerlichen Zwischenfall“ verharmlosen und seinen verhaltensauffällig gewordenen Wertpapierhändler als „Terroristen“ ausgrenzen zu können. Demgegenüber muss man daran erinnern, wie viele der „Vorkommnisse“ nur der inneren Logik der liberalisierten Finanzmärkte folgen. Insofern ist es gar nicht verwunderlich, dass die Akteure allen Schnäppchen hinterherjagen, ja dass sie notfalls „Innovationen“ erfinden, die sie zeitweilig selbst glauben machen, alle Risiken seien beherrschbar.
Und wen wundert es, wenn sie, obwohl nicht einmal fähig, ihr individuelles Risiko einzuschätzen, sich keinen Dreck um die globalen Risiken ihres Tuns scheren? Es war doch klar, dass die Deregulierung der Finanzmärkte darauf abzielte, die Investoren von allen Fesseln zu befreien und ihnen die verlockendste, weil schrankenloseste Form des Profits zu sichern: die reine Macht zur Geldvermehrung.
Auch die gute alte Société Générale träumte von flimmernden Bildschirmen und der lukrativen Spezialisierung auf neue Finanzprodukte und wollte zur französischen Ausgabe von Goldman Sachs werden. Deshalb führte sie als Betriebssprache Englisch ein und schickte ihre Finanzboys nach London. Dort atmet man die Luft der großen Kapitalmärkte – was ist dagegen die dumpfe Aufgabe, den Kredit des Handwerkers aus der Provinz zu verlängern? Wenn Herr Bouton sich nun damit verteidigt, „dass das Modell der Société Générale weder Schaden erlitten hat noch in Zweifel zu ziehen ist“6 , dann müssen wir vom exakten Gegenteil ausgehen. Das Geschäftsmodell hat ein großes Leck bekommen, und zwar unterhalb der Wasserlinie.
Die anfangs so einträgliche Begeisterung der Bank für die neuen Märkte wird sie noch einiges kosten. Und auch der Versuch, den Kopf in den Sand zu stecken, ändert nichts daran, dass die Krise nunmehr ihren wahren Charakter enthüllt: Ein grandioses Experiment offenbart die zerstörerischen Folgen des Marktversagens und den Preis, der fällig ist, wenn die Marktakteure außer Kontrolle geraten.
Aber dies ist keineswegs das erste Experiment seiner Art, und aus dem Scheitern wurden bislang nie ernsthafte Schlüsse gezogen. Schon nach der Krise der New Economy im Jahr 2000 vernahm man allenthalben die feierliche Aufforderung zu mehr Transparenz, zur Regulierung der Rahmenbedingungen und konkret zur Wiederaufnahme aller wichtigen Kennziffern in die Unternehmensbilanz.
Wie den Schwur von Alkoholikern hört man das „Nie wieder“ in regelmäßigen Abständen aus der Finanzwelt tönen. Bis das Ganze wieder von vorn losgeht: in der Hausse die schamlos einseitige Bereicherung, beim anschließenden Ausbruch der Krise die erpresserische Aufforderung an den Staat, den Spekulanten nach den Pleiten wieder aus der Patsche zu helfen. Das ruft auf der anderen Seite die radikale Forderung auf den Plan, den unseligen Kreislauf zu durchbrechen und dem Treiben ein Ende zu bereiten.
In der Tat würde der genaue, kritische Blick auf die „Erfolgsbilanz“ der deregulierten Finanzökonomie zeigen, dass die von ihr verursachten Schäden den erbrachten Nutzen deutlich überwiegen. Dass es also überfällig wäre, wichtige Teile ihrer Mechanik zu zerstören. Entgegen der landläufigen Meinung fehlt es dazu keineswegs an Ideen, zum Beispiel die Tobin-Steuer, die vorschnell in Vergessen geraten ist. Ein ähnliches Konzept namens Slam (Shareholder Limited Authorized Margin) sieht die Begrenzung der Gewinne für das stimmberechtigte Aktienkapital mit dem Ziel vor, den ökonomischen Anreiz zur grenzenlosen Ausbeutung der Beschäftigten zu vermindern.
Eine dritte Idee ist der Plan einer „gespaltenen“ Geldpolitik, um die produktive Wirtschaft mit anderen Zinssätzen als die rein spekulativen Anlagen zu finanzieren.7 Wenn man bedenkt, wie wirksam in den USA der 1930er-Jahre der Glass Steagall Act8 gewesen ist, spricht nichts dagegen, eine solche strenge Trennung zwischen den Geschäftsbanken und den Investmentbanken erneut einzuführen. Das könnte auch dazu beitragen, die über die Kreditkanäle vermittelte Ansteckungsgefahr der Realökonomie durch Finanzkatastrophen merklich zu mindern.
Die Herrschaft der ewigen Lohn-Preis-Spirale
Die Tatsache, dass die Subprime-Krise die französische Wirtschaft noch nicht so stark wie andere erfasst hat, verweist darauf, dass hier der allgemeine Deregulierungswahn noch nicht so grassiert wie in anderen Ländern. Freilich drängen seit geraumer Zeit auch unsere „Reformer“ im liberalen wie im sozialdemokratischen Lager in diese Richtung. Das Bemerkenswerteste daran ist vor allem der hohe Eifer, mit dem sie seit nunmehr 25 Jahren eine „große Transformation“ betreiben, die immer wieder ihre schädlichen Wirkungen demonstriert.
Man wird dem entgegenhalten, dass die wirtschaftliche Deregulierung keineswegs allen in der Welt schadet. Das ist in der Tat richtig. Seltsamerweise bleibt aber auch nach 25 Jahren richtig, dass sie gerade diejenigen schädigt, denen die französischen Sozialistische Partei angeblich unter die Arme greifen will. Sie war in Frankreich von 1983 bis 1986 an der Macht und hat in einem unfassbar kurzen Zeitraum das Gesicht der französischen Gesellschaft radikal verändert: durch die Privatisierungspolitik des sozialistische Premierministers Fabius; durch den europäischen Gipfel von Fontainebleau, dem Startschuss zur europaweiten Inthronisierung des uneingeschränkten Konkurrenzprinzips; und schließlich durch die Deregulierung der Finanzmärkte im Jahre 1986.
Diese politisch gewollte Entwicklung hat schwerwiegende soziale Folgen. Weil die Konkurrenz einen permanenten, unaufhörlich wachsenden Druck auf die Preise und damit letztlich auf die Lohnkosten ausübt, begründet sie die öffentliche, wenngleich ideologische Herrschaft einer permanenten „Preis-Lohn-Spirale“. In deren Logik wird das Argument der fehlenden Kaufkraft sofort mit dem Hinweis auf die Folgen für die Preise ausgehebelt, nach dem Motto: Wenn die Menschen als Lohnempfänger etwas verlangen, appelliert man an sie als Konsumenten.
Aber gerade die niedrigen Preise sorgen zugleich dafür, dass auch die Nominallöhne der arbeitenden Menschen sinken. Mit dem ökonomisch erzwungenen Gang zum Superdiscounter stärken die konsumierenden Arbeitnehmer unwillentlich die Legitimation des Systems, das sie beutelt.9 Eine teuflische Endlosschleife hält den pausenlosen Druck auf die Massenkaufkraft aufrecht, der seinerseits die Flaute des privaten Konsum und der globalen Nachfrage nach sich zieht.
Nun rühmt sich die wirtschaftsliberale Politik, sie könne die von ihr eingebrockten Probleme wiederum selbst am besten lösen. Angesichts der Konsumschwäche, die dem skizzierten Konkurrenzverhältnis von Preisen und Löhnen innewohnt, tut sich wie eine Offenbarung ein Ausweg auf: die Verschuldung! Wenn einerseits die Kaufkraft der Haushalte stagniert oder gar schwindet und andererseits das Kapital dennoch seine Verwertungsansprüche geltend macht, dann erscheint der Versuch nur konsequent, mithilfe von Krediten die Konsumchancen der Beschäftigten über ihre eigentlichen Einkünfte hinaus auszuweiten.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass in den USA und in Großbritannien, die auf dieser schiefen Ebene in Führung liegen, der durchschnittliche Verschuldungsgrad der Haushalte (gemessen an ihrem verfügbaren Einkommen) 120 respektive 140 Prozent beträgt. Zwar rühmt sich Präsident Sarkozy, dass diese Rate in Frankreich nicht so hoch ist. Aber alles, was er derzeit wirtschaftspolitisch unternimmt, geht beschleunigt in dieselbe Richtung. Der fast explosionsartige Anstieg der Verschuldungsrate auf 68 Prozent im Jahre 2006 setzte mit dem Beginn der „freien Globalisierung“ ein und gehört zu deren klassischen Symptomen.
Das erklärt, warum heute die angloamerikanischen Ökonomien stärker unter den Druck der Krise geraten als die der übrigen Länder. Denn dort ist der Konsumentenkredit ein unverzichtbares Ventil, das sich nun plötzlich verschließt. Vor diesem Hintergrund erhöht sich der Druck auf die französischen Wirtschaftspolitik, möglichst rasch das angloamerikanische Modell zu imitieren. Besonders rührig ist in dieser Richtung die Attali-Kommission.10
Auf diesem Weg lässt sich das innerlich schlüssige neoliberale Konzept auf ungeahnte Weise weiter verfeinern. Zu seinem Motor wird nun, spiegelbildlich zum Schuldenmachen, das Sparen. Was ist seine ökonomische Rolle?
Geiselnahme der Arbeitnehmer über die Pensionsfonds
Letztlich sind es ja auch die Ersparnisse der Arbeitnehmer, die in der Finanzwelt verspielt werden.11 Die angloamerikanischen Ökonomien haben uns vorgeführt, wie man die Umverteilungssysteme für die Altersversicherung entsorgt, um damit Zugriff auf die enormen Ersparnisse der Arbeitnehmer zu bekommen und diese über die Pensionsfonds in die Finanzmärkte zu pumpen.
Der besondere Charme dieses neuartigen finanziellen „Universalismus“: Wenn die Märkte auf Tauchstation gehen, sind es nunmehr alle Arbeitnehmer, die den Schaden davontragen. Sarkozy wendet diese Strategie zwar noch nicht auf die Pensionsfonds an, aber die Grundidee der „Aktienoptionen für jedermann“ ist aus dem gleichen Holz geschnitzt.
Die Suche nach einem Ersatzstoff für das direkte Lohneinkommen ist schon an sich ein Betrugsmanöver. Es wäre vollendet, wenn man die Arbeitnehmer direkt den labilen Finanzmärkten aussetzen und sie damit zwingen würde, für die Kräfte, die sie ökonomisch unterjochen, auch noch die Haftung zu übernehmen. Dabei stecken die Arbeitnehmer bereits fest im Schraubstock einer Konkurrenz, deren Mechanik die Konsumentenpreise nur gemeinsam mit den Löhnen sinken lässt. Zusätzlich verfangen sie sich im Netz der Kreditschulden, die viele um des schieren Überlebens willen eingehen müssen. Und nun winkt ihnen noch die Chance, auf eigene Kosten tyrannisiert zu werden. Die Ersparnisse, die einem Aktionärskapitalismus, der dann unerbittlich steigende Renditen verlangt, die Schmiermittel liefern: Es sind ihre eigenen!
Der Irrsinn wäre auf diese Weise vollkommen: Auf der einen Seite fallen die Steinlawinen, die sich in der Finanzwelt lösen, den Arbeitnehmern auf die Füße, auf der anderen Seite können es die Betroffenen nicht mehr wagen, die Strukturen des Finanzsystems auch nur anzutasten, weil das unter den herrschenden Verhältnissen einem Attentat auf ihre eigene Altersversorgung gleichkäme.
Nur ausgemachte Esel oder die dressierten Affen des Wirtschaftsliberalismus beten pausenlos die Glaubensartikel der Marktevangeliums herunter. Währenddessen bleiben, wie so oft, die eigentlichen Stützen des Systems eher im Dunkeln. Sie überlassen es den einfältigen Ökonomen vom Dienst, die Verklärung des Marktes in reine Naturwissenschaft zu verwandeln, in der es, scheinbar ideologiefrei, nur noch um „Angebot“ und „Nachfrage“ geht – und das inmitten einer Transformationsphase des Kapitalismus, die in reinster Form ideologisch und politisch ist.
Diese klugen und emsigen Zyniker, die das politische Projekt vorantreiben, während die ökonomistische Ideologie die sozialen Probleme hartnäckig leugnet und das Marktgeschehen stets nur als neutrale „Verwaltung der Dinge“ darstellt, diese Zyniker haben ganz genau begriffen, welche Art von Wirtschaftspolitik den Prozess der „Finanzkapitalisierung“ vorangetrieben hat.
Die dahinter stehende Strategie ist im Kern der Versuch, die gesamte Arbeitnehmerschaft umfassend in die Finanzsphäre einzubinden – eine wahrhaft furchterregende Strategie. Wie könnte man den Kapitalmarkt sakrosankter machen als durch eine Strategie, mit der die Masse der abhängig Beschäftigten untrennbar an ihre „Wohltaten“ gekettet wird? Diese Strategie läuft darauf hinaus, praktisch alle Lohnabhängigen als Hilfstruppen für eine Politik der Finanzkapitalisierung zu rekrutieren.
Diese Art der „Solidarität“ stellt sich dar wie das Verhältnis von Pferde- und Lerchenfleisch in der gleichnamigen Pastete: Mit den „Krümeln“ ihrer Finanzanteile handeln sich die Arbeitnehmer ihre dauerhafte Abhängigkeit vom gesamten Finanzsystem ein. Wobei diese „aktionärskapitalistische“ Form des Zwangs auf abstrakten und fast unsichtbaren Mechanismen beruht. Dagegen haben besagte Krümel, wie gering auch immer, ein jeweils genau messbares Gewicht. Genau genug jedenfalls, um den Glauben zu festigen, dass alles, was den Finanzmärkten schadet, zugleich den Interessen der Arbeitnehmer schadet.
Nur vor diesem Hintergrund wird verständlich, wenn gewisse Leute, die eher den Zynikern als den Trotteln des Finanzkapitals zuzurechnen sind, davon träumen, nunmehr die in Frankreich bislang unvollkommene Finanzfalle zu vollenden. Und deshalb mit den Pensionsfonds das raffinierteste, bislang noch fehlende Bauelement einführen wollen.
Weit weniger verständlich ist allerdings, warum die sozialistische Präsidentschaftskandidatin von 2007, die sich in Fragen der Finanzmarktpolitik auf eine honorige Bilanz der Linken hätte stützen können, dennoch keine Bedenken hatte, eine Ausweitung der Arbeitnehmerbeteiligung am Aktienkapital und der kapitalisierten Altersrente beim gesetzlichen Reservefonds für die Altersrenten (FRR) vorzuschlagen, den die Regierung von Lionel Jospin 1999 eingerichtet hatte. Ganz offensichtlich hat seitdem in der Sozialistischen Partei die politische Bewusstseinsbildung in dieser Frage keinerlei Fortschritte gemacht.
Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke Frédéric Lordon ist Ökonom und schrieb zuletzt „Après la débacle financière, le salut par ‚l’éthique‘?“ Paris (Raisons d’agir) 2003.