Das Nächste wird noch höher
Hochhäuser und moderne Urbanität von Thierry Paquot
Ende des 19. Jahrhunderts trat die Hochhausarchitektur in Erscheinung. Sie entstand dank einer neuen Konstruktionstechnik (Metallgerüst), der Entwicklung des Aufzugs und des Telefons sowie vor allem dank des unvorstellbaren Reichtums von Unternehmern, die sich durch ein emblematisches, allseits Neid erregendes Gebäude repräsentiert sehen wollten.
Das erste Hochhaus war 40 Meter hoch und wurde 1868 in New York errichtet, das zweite in Minneapolis und das dritte von William Le Baron Jenney 1884 in Chicago. Das Hochhaus wurde zum Ausdruck des Kapitalismus schlechthin.
Wenn es nicht immer schon veraltet wäre: Stets wird es in der Höhe vom Gebäude eines noch leistungsfähigeren Unternehmens übertroffen, das so seine Vormachtstellung markiert. Dem unersättlichen „immer mehr“ der Industriekapitäne oder der Hochfinanz entspricht das „immer höher“: Das Hochhaus ist gleichzeitig Firmensitz, Aushängeschild und Marke. Es liegt etwas Infantiles in diesem Wettkampf um Höhe, sieht man von der Handvoll Architekten ab, die im Hochhaus den Ausdruck der Zukunft sehen, der Zukunft freilich eines vergangenen Jahrhunderts.
Die wahre Herausforderung für die Zukunft besteht allerdings darin, eine architektonische Form zu finden, die die unterschiedlichen Erwartungen der Stadtbewohner an ihren Wohnraum erfüllen kann; und zwar zu Bedingungen, die die Umwelt ebenso berücksichtigen wie die Veränderungen des städtischen Lebens. Menschen ohne festen Wohnsitz brauchen erst einmal einen Anker zum Überleben, die erste Stufe hin zu einer anständigen Unterkunft. Menschen mit schlechten Wohnungen wünschen sich komfortablere, die ihrer Familiengröße angemessen sind oder die ihrer Vorstellung von sinnlicher Annehmlichkeit entsprechen. Auch der soziale Wohnungsbau fordert neue Lösungen und urbanere Ansätze. Kurzum, die Herausforderungen sind enorm und verlangen mutige Schritte bei der Finanzierung, der Verteilung, der Architektur von Wohnraum – und auch die Einbeziehung künftiger Mieter in die Planung. Aber das Hochhaus ist nicht die Antwort auf die Wohnungsfrage.
Hochhäuser sind teuer, die Nebenkosten so hoch wie eine zweite Miete, sie besitzen keinen öffentlichen Raum, das ganze Leben dreht sich um den Aufzug, die Lieferung nach Hause, die Isolation von der „realen“ Stadt. Das Hochhaus ist eine Sackgasse in der Höhe, wie es Paul Virilio sagt.
Und was das Arbeiten in Hochhausbüros anbelangt, so ist zwar wenig über den genauen Krankenstand bekannt, der durch das Eingesperrtsein in einer klimatisierten Umgebung verursacht wird, aber zahlreich sind die Berichte über immer wiederkehrende Anginen und andere Atemwegserkrankungen. Die Angestellten der Firmen, die im World Trade Center ihren Sitz hatten und nach dem 11. September 2001 Büros in kleinen, in New Jersey verstreuten Gebäuden bezogen, äußern Zufriedenheit mit ihrem neuen Arbeitsplatz und vermissen einzig die Atmosphäre von Manhattan.2
Gleichwohl behaupten einige Stararchitekten, sekundiert von der Immobilienlobby und ohne Beweise dafür zu liefern, Hochhäuser seien die Lösung für das Problem des knappen Baugrunds (was nur teilweise stimmt), sie erhöhten die Bebauungsdichte (was nicht erwiesen ist), seien energiesparend (die Zahlen sind widersprüchlich) und trügen zum städtischen Ambiente bei (was nicht immer offensichtlich ist).
Auf der internationalen Immobilienmesse Mipim 2007 in Cannes konnten die Besucher die Modelle der zukünftigen Wolkenkratzer bewundern. Sie entstehen in Moskau (Federation Tower, 448 Meter, Fertigstellung 2010), Warschau (Zlota 44, 54 Stockwerke, 192 Meter), New York (Freedom Tower, 541 Meter; New York Times Tower, 228 Meter), Dubai (sicher an die 800 Meter), Paris La Défense (Granite von Nexity, das Christian de Portzamparc baut; Generali von Valode und Pistre; Unibail von Tom Mayne, 300 Meter, Fertigstellung 2012), London (London Bridge Tower von Renzo Piano, 300 Meter). Le Corbusier forderte schon 1936 für Paris ein 2 000 Meter hohes Hochhaus. Bislang arbeiten allerdings nur die Japaner an dem Projekt eines 4 000 Meter hohen Wolkenkratzers sowie einer 2 004 Meter hohen Pyramide (TRY 2004) für rund 700 000 Bewohner.
Frank Lloyd Wright dagegen verurteilte die Hochhausarchitektur bereits 1930: Wolkenkratzer „besitzen kein eigenes Leben – sie haben kein Leben zu geben, da sie keines aus der Natur der Konstruktion erhalten. (…) Äußerst barbarisch erheben sie sich ohne Rücksicht auf Umgebung und aufeinander. (…) Die Wolkenkratzerhülle ist weder sittlich, schön noch beständig. Sie ist eine kommerzielle Tat oder ein bloßer Notbehelf. Der Wolkenkratzer besitzt kein höheres Ideal der Harmonie als den kommerziellen Erfolg.“3 Wright sah freilich nicht den Siegeszug der Shopping Malls voraus mit ihrer – in manchen Megalopolen – spezifischen Form.
Für diesen Stadt-Ersatz genügt eine Gestalt, in der das Hochhaus die entscheidende Rolle spielt. In der Zeitschrift Potlatch warf Guy Debord4 dem „Oberbullen“ Le Corbusier vor, die „Straße abschaffen“ und die Bevölkerung in Hochhäuser einsperren zu wollen, während es ihm selbst um die „Spiele und Erkenntnisse“ geht, „die wir von einer wirklich aufrüttelnden Architektur erwarten dürfen“.5 Debord entwickelte in der Folge die Psychogeografie, den unitären Urbanismus sowie die Theorie des Umherschweifens und kritisierte unentwegt die kalte Geometrie der großen Gebäudekomplexe mit ihren Türmen und Häuserriegeln, die ein spielerisches Vagabundieren nicht zulassen.
Der chinesische Urbanist Zhuo Jian6 hat in Schanghai 7 000 Hochhäuser gezählt (davon etwa zwanzig höher als 200 Meter) und festgestellt, dass sich der Erdboden dort jedes Jahr um mehrere Zentimeter absenkt. Experten halten Hochhäuser für sehr energieintensiv sowohl in der Konstruktion (die verwendeten, immer höherwertigen Baustoffe Stahl und Glas schlucken in der Herstellung große Mengen Energie) als auch im Unterhalt (Klimaanlage, Beleuchtung, Aufzüge etc.), selbst dann, wenn andere Lösungen ins Auge gefasst werden (wie zum Beispiel bei dem einfallsreichen Hochhaus „Hypergreen“ von Jacques Ferrier). Dazu kommt die begrenzte Lebensdauer (etwa zwanzig Jahre) dieses kostspieligen und in der Nutzung wenig flexiblen „Produkts“. Zu glauben, dass es leicht sei, in einem Hochhaus eine Universität, eine Bibliothek, Luxuswohnungen und ein Fünfsternehotel unterzubringen und zu ganz unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedlichen „Kunden“ zur Verfügung zu stellen, ist ziemlich vermessen.
Die Schönheit einer Skyline
Und Paris? Der Front de Seine, Les Olympiades, das Quartier Italie, Flandres und der Tour Montparnasse (1973, 209 Meter) sind nicht gerade ein Anreiz, weitere Hochhäuser zu bauen. 1977 legte der Stadtrat von Paris die maximale Gebäudehöhe auf 37 Meter fest. Eine Anhörung im Jahr 2003 ergab, dass 63 Prozent der Pariser gegen Hochhäuser sind. Nichtsdestotrotz haben im Juni 2006 Architekten siebzehn mögliche Orte in Paris bestimmt, die für den Bau von 100 bis 150 Meter hohen Hochhäusern sowie Wohnhäusern mit einer Höhe von 50 Meter (17 Stockwerke) infrage kämen.
Im Januar 2007 ist die Auswahl auf drei Gebiete beschränkt worden (Porte de La Chapelle, Bercy-Poniatowski und Masséna-Bruneseau), und zwölf Architektenteams haben sich daran gemacht, für diese unwirtlichen, von großen, lauten und verschmutzten Straßen zerfurchten Areale bis zu 210 Meter hohe Häuser zu entwerfen. Die meisten Projekte sehen grüne Plätze und öffentliche Orte vor, schaffen eine Anbindung an die benachbarte Banlieue und setzen auf den öffentlichen Verkehr. Dennoch halten sie an einer vertikalen Monofunktionalität fest und berücksichtigen zu wenig den Effekt der Gebäude auf die Sonneneinstrahlung und die Windbeschleunigung im Viertel sowie die Umweltverträglichkeit und die Energiekosten der Bauten. Und was die Ästhetik angeht, so hat die Debatte gerade erst begonnen.
Es ist folglich absurd, stur „dafür“ oder „dagegen“ zu sein: Es gibt großartige Hochhäuser, die der Stadtlandschaft alle Ehre erweisen und sie verschönern – wer ist nicht fasziniert von der Schönheit von Skylines wie der von New York oder Chicago? Abwegig ist es, ein einzelnes Hochhaus zu errichten, ohne die Stadtplanung einzubeziehen, das heißt: Verkehrsanbindung, Beziehung zum Grund, auf dem das Gebäude steht und zur Straße, Größenverhältnis zum Rest der Bebauung, Spiel der Proportionen von Fassaden, Plätzen, Bepflanzungen.
Stadtentwickler und Planer könnten ihre Intelligenz darauf verwenden, anstelle lebensfeindlicher Hochhäuser Ökoviertel zu entwerfen, die nicht nur die gegenwärtigen hohen Umweltstandards erfüllen, sondern auch hohe Standards an Lebensqualität, indem sie für die Menschen, die Orte und die „Dinge der Stadt“ (zum Beispiel eine angenehme und beruhigende Beleuchtung) Sorge tragen. Dann wäre Urbanität weniger selektiv und Anderssein weniger diskriminierend.
Das Hochhaus erlaubt keine Begegnung. Und weder in der Literatur noch im Kino stellt es einen magischen Ort dar – es nährt eher Katastrophenszenarien. Wir sollten architektonischen Moden misstrauen. Wichtiger ist die Vielfalt der städtischen Landschaften, kontrastreiche Formen und eine reiche Palette an Materialien und Farben.