Brief aus Paris
von Dominique Vidal
In dem Bistro vor den Toren von Chinatown, in dem ich seit gut zwanzig Jahren meinen morgendlichen Espresso und mein Sandwich zu mir nehme, haben sich mit Beginn des Jahres 2008 zwei Dinge grundlegend geändert: Zum einen geben sich – endlich! – die Raucher draußen ihrem Laster hin, und zum anderen sind drinnen die Sarkozisten mit einem Mal ganz kleinlaut geworden.
Überlassen wir die Ersteren, die überdies das für Februar erstaunlich sonnige Wetter genießen dürfen, ihrem Schicksal und sprechen wir von denen, die uns vor neun Monaten mit dem Triumph ihres Champions auf die Nerven gegangen sind. So sehr, dass die Linken unter den Gästen einen einigermaßen niedergeschlagenen Eindruck machten. „Der bleibt uns für die nächsten zehn Jahre erhalten“, wurde der Schnauzbärtige, der widerwillig Ségolène Royal gewählt hatte, nicht müde zu sagen. Ich konnte noch so energisch darauf hinweisen, dass jeder neue Präsident anfangs und vorübergehend in den Stand der Gnade erhoben werde, nichts schien meine Freunde aus ihrer Depression reißen zu können.
Ich habe mit meinen bald sechzig Jahren alle Präsidentschaftswahlen der V. Republik zwischen 1965 und 2007 miterlebt. Und ich erinnere mich nicht, dass jemals ein neu gewählter Präsident einen derart rapiden Umschwung in der Gunst der Franzosen erlebt hätte wie Sarkozy. Der beste Beweis dafür sind die Titelseiten der drei großen französischen Wochenzeitungen. Zeigen sie wie so oft seit einem Jahr das Gesicht von Nicolas Sarkozy, dann nur, um zu titeln: „Woran es hapert“ (Le Point), „Die Enttäuschung“ (L’Express) oder „Ein Präsident, der pffft macht“ (Le Nouvel Observateur).
Es ist müßig, nach Gründen für die Kehrtwende in der medialen Wahrnehmung zu suchen. In unserem von akuter Demoskopitis befallenen Land sind Meinungsumfragen Regen- wie Schönwettermacher: Ein Windstoß schlechter Zahlen hat ausgereicht, um den Herrn im Élysée-Palast sogar bei Magazinen, die ihn bis dahin vergöttert hatten, in Ungnade fallen zu lassen. Nicolas Sarkozy ist mit einer Popularitätsquote, die von 65 Prozent im letzten Juli auf aktuell 41 Prozent gesunken ist, in sechs Monaten rasanter abgestürzt als Jacques Chirac in einem und François Mitterrand in zwei Jahren.1
Die Frage ist: warum? Am Tresen meines Bistros vermag die Erklärung, alles läge am turbulenten Privatleben des Präsidenten, nicht zu überzeugen. Die Frau neben mir, eine zierliche Fünfzigjährige, bekennt freilich, von seiner „Blitzhochzeit“ ebenso „schockiert“ wie über seine Scheidung „betrübt“ gewesen zu sein. Und eine Gruppe von Müllmännern, die gerade Kaffeepause machen, lästern über die Reisen auf Staatskosten mit Carla Bruni: „Die hat doch Geld genug, um ihre Ausflüge selbst zu bezahlen“ – 18 Millionen Euro laut Le Figaro.
So betritt durch eine Nebentür das Geld die Szene. Vielleicht spielt es die Hauptrolle bei diesem Sturm? Mehr als den Präsidenten des „bling-bling flon-flon“, des Glitzerns und des schönen Scheins, als den Jean-Marie Le Pen ihn karikiert hat, beginnen die Franzosen Sarkozy als den Präsidenten der Reichen abzulehnen, und zwar zu Recht. Während seines ganzen Wahlkampfs hat er sich als „Kandidat der Kaufkraft“ präsentiert. Und als er erst mal gewählt war, ließ er die Katze aus dem Sack: „Was erwarten Sie von mir? Dass ich die Kassen leere, die bereits leer sind?“
Vorausgesetzt, die Republik wäre wirklich pleite, was noch zu beweisen wäre, unterschlug Nicolas Sarkozy, als er diesen Satz am 8. Januar 2008 von sich gab, trotzdem ein nicht unwichtiges Detail: Er war es nämlich, der die Kassen geleert hat, und zwar im vergangenen Juli. Indem er den „Steuerwall“2 einführte, die Erbschaftssteuer senkte und die Steuer- und Abgabenpflicht für Überstunden aufhob, machte er der Schicht der Vermögendsten das bescheidene Geschenk von 15 Milliarden Euro.
„Man leihe nur den Reichen“, sagt ein französisches Sprichwort. Das könnte auf dem Wappen des Nicolas Paul Stéphane Sarkozy de Nagy-Bosca stehen. Dabei leiht er gar nicht: Er gibt und zwar denen, die es nicht nötig haben. Die im CAC-40-Index notierten französischen Aktiengesellschaften machten im vergangenen Jahr einen Gewinn von 96 Milliarden Euro. Drei Viertel der Geschäftsführer der 130 größten Unternehmen Frankreichs genehmigten sich, ebenfalls 2007, Gehaltserhöhungen von 40 Pozent – Aktienoptionen inklusive. Der Staatspräsident ging mit gutem Beispiel voran und stockte sein Gehalt um 140 Prozent auf.
Des einen Freud, des andern Leid. Im letzten Jahr sind die Renten durchschnittlich um 1,7 Prozent gestiegen – deutlich weniger als die Inflationsrate. Und die mehreren hunderttausend Bezieher von Mindestrente werden 2008, selbst mit der vor den Wahlen versprochenen Erhöhung, gerade mal 621 Euro im Monat erhalten – was unterhalb der von der EU festgesetzten Armutsgrenze liegt. Und die erhöhten Zuzahlungen bei Medikamenten werden die Patienten, vor allem die chronisch Kranken, noch teuer zu stehen kommen.
Die junge Wirtin meines Bistros ist großzügig: Bei ihr darf man jeden Morgen die Libération lesen. Heute, am 4. Februar zeigt eine Umfrage, dass die Unzufriedenheit der Franzosen mit der Politik Nicolas Sarkozys und seiner Regierung größtenteils sozialer Natur ist: Sie bezieht sich auf die Kaufkraft (84 Prozent), das wirtschaftliche Wachstum (75 Prozent), die Beschäftigung (68 Prozent) und die soziale Gerechtigkeit (63 Prozent), weit mehr als auf internationale Aktivitäten Frankreichs (47 Prozent) und die Sicherheit (44 Prozent). Aber wie immer, wenn ein Politiker oder eine Partei im Sinkflug begriffen ist, kommen alle Kritikpunkte zusammen und verstärken die Tendenz.
Für Christine, eine Stammkundin im Bistro, droht unter Sarkozy der Ausverkauf der öffentlichen Medien. Der große Streik und die Demonstration am 13. Februar haben es gezeigt: Wenn es niemanden mehr gibt, der die Allgegenwart von Werbung in öffentlich-rechtlichen Sendern verteidigt, bekommen alle Angst, dass den von Werbung „befreiten“ Sendern das Geld ausgehen wird. Die Freunde Nicolas Sarkozys vom Kommerzfernsehen – wie die Heuschrecke Vincent Bolloré, der dem Präsidenten letzten Mai Ferien auf Malta spendierte – brauchen nur abzuwarten, dann wird ihnen ein Geldsegen von rund 1 Milliarde Euro zufließen.
Gilles, ein anderer Stammgast am Tresen, ist empört über die Jagd auf Illegale. Mitte Februar ist die Polizei bei uns im XIII. Arrondissement in ein Wohnheim für Immigranten eingefallen und hat 110 „Sanspapiers“ festgenommen. Es ist wahr, dass Brice Hortefeux, der Minister für Einwanderung, Integration, nationale Identität und Ko-Entwicklung (sic!), 2007 „nur“ 23 000 der von Sarkozy verlangten 25 000 Ausländer ausgewiesen hat. Will er allerdings 2008 gute Zensuren bekommen – alle Regierungsmitglieder werden in Zukunft von einer privaten Beraterfirma evaluiert – dann hat er noch allerhand zu tun.
Alice, die fast jeden Morgen da ist, verteidigt vor allem die Trennung von Staat und Kirche. Der Mieter des Élysée-Palastes wurde am 20. Dezember 2007 im Vatikan vom Papst zum „Ehrenkanonikus der Lateransbasilika“ ernannt und zeigte sich erkenntlich gegenüber Benedikt XVI.: „Der Laizismus besitzt nicht die Macht, Frankreich von seinen christlichen Wurzeln abzuschneiden. Er hat es versucht. Das hätte er nicht tun sollen.“ Im Januar in Riad griff Sarkozy das Thema noch einmal auf. „Der transzendente Gott ist im Herzen eines jeden Menschen“, beteuerte er und forderte die monotheistischen Religionen auf, sich im Kampf „gegen den Verfall der moralischen und spirituellen Werte“ zu verbünden.
Bernard, der König des Espressos, flucht im Namen der Volkssouveränität auf die Verabschiedung des europäischen „Minivertrags“, der nur dem Namen nach „mini“ ist. Mit Komplizenschaft der sozialistischen Partei hat die Rechte die französische Verfassung geändert. Und zu welchem Zweck? Um die parlamentarische Ratifizierung der wesentlichen Punkte jenes Textes zu ermöglichen, zu dem die Franzosen beim Referendum 2005 ein lautes „Non!“ gesagt hatten.
Nicole, glühende Anhängerin von heißer Schokolade, ist eher allgemein beunruhigt über die proamerikanische und proisraelische Wende im Élysée-Palast. Die junge Führungskraft ist eine Verfechterin der französischen Eigenständigkeit, wie General de Gaulle sie repräsentierte. Das Plädoyer für die Nato, das der neu gewählte Präsident vor dem US-Kongress gehalten hat, und die martialischen Worte seines Außenministers gegenüber dem Iran passen ihr überhaupt nicht, ebenso wenig die Verstärkung der französischen Präsenz in Afghanistan und die fast schon rassistische Rede Sarkozys im Senegal.
Wie fern scheinen sie zu sein, die Bilder vom Abend des 6. Mai 2007, als Sarkozy den zehntausenden jubelnden Menschen auf dem Place de la Concorde zurief: „Ich werde euch nicht verraten, ich werde euch nicht belügen, ich werde euch nicht im Stich lassen.“ Versprechungen, heißt es, sind nur für diejenigen da, die an sie glauben. Meine einst gutgläubigen Tresennachbarn im Bistro genieren sich wie alle andern auch, zugeben zu müssen, dass sie verarscht wurden.
Zweifellos aber werden sie am 9. und 16. März dem, der sie getäuscht hat, die Quittung präsentieren. Die Umfragen für die Gemeindewahlen sagen einmütig Stimmenverluste für die Rechte voraus; sogar einige Großstädte werden wohl an die Linke gehen. Wenn sich diese Tendenz bewahrheitet, wird dies den Präsidenten der Republik noch ein bisschen mehr aus dem Gleichgewicht bringen.
Der Herr im Élysée-Palast weiß jedoch, dass er einen wichtigen Verbündeten hat: die zerstrittene Linke, die unfähig ist, sich eine andere Politik auszudenken und ihre Spaltung in machtlose Sekten zu überwinden. Solange Sarkozy diesen Trumpf in der Hand hat, wird er standhalten – falls er die Kraft dazu hat.
© Le Monde diplomatique, Berlin