Kolumbien: Vernichten oder verhandeln
Die Regierung Uribe will eine militärische Lösung um jeden Preis von Carlos Gutiérrez
Hoffnung und Freude kamen am 27. Februar in Kolumbien auf, als weitere vier Kongressabgeordnete aus mehr als sechsjähriger Geiselhaft bei den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc) freikamen. Das galt zumindest für alle, die eine politische Lösung des jahrzehntealten Konflikts zwischen Regierung und Guerilla befürworten. Der „humanitäre Austausch“, wie man den von den Farc angestrebten Deal – Geiseln gegen inhaftierte Guerilleros – in Kolumbien nennt, schien eine neue Chance zu bekommen. Eine Einigung schien bevorzustehen, aber jetzt war die Regierung am Zug.
Zwei Tage später folgte eine angesichts des erwarteten Gefangenenaustauschs erstaunliche Aktion. Im Morgengrauen des 1. März drangen kolumbianische Truppen auf ecuadorianisches Territorium vor. Nachdem die kolumbianische Luftwaffe Lager der Guerilleros bombardiert hatte, stießen Bodentruppen nach und töteten unter anderem den Comandante Raúl Reyes.1 Wer gehofft hatte, die Zerschlagung der Guerilla stehe unmittelbar bevor, war über die Nachricht höchst erfreut. Und die Medien stimmten in das Triumphgeschrei ein und rechtfertigten die umstrittene Militäraktion.2
Kolumbien hat vier Jahrzehnte zwischen der Hoffnung auf eine politische Lösung und der Sehnsucht nach einer militärischen Niederlage der Guerilla hinter sich.3 Dabei verloren die gesellschaftlichen Kräfte, die auf Dialog setzen, immer mehr an Gewicht, womit die Befürworter einer militärischen Vernichtung des Feindes zur Mehrheit wurden. Dieser – anfangs auf Politiker, Intellektuelle und Militärs beschränkte – Streit hat inzwischen die ganze Gesellschaft erfasst. Das ist ein Ergebnis nicht nur der Übergriffe der Rebellen und der Berichterstattung in den Medien, sondern auch der Politik der Regierung Uribe, in ihre Strategie der „nationalen Sicherheit“ auch die Zivilbevölkerung einzubinden – egal ob als Verbündete oder als Feind.
Dass sich in den letzten zehn Jahren die Option der militärischen Aufstandsbekämpfung durchsetzen konnte, liegt zum einen daran, dass die Farc die Armee in die Defensive treiben konnten, ohne ihr allerdings eine taktische oder gar strategische Niederlage zu bereiten. Das Militär musste alle Stellungen aufgeben, die höher als 2 000 Meter ü. M. lagen. Und die Polizei, die in Kolumbien auch militärische Aufgaben wahrnimmt, musste sich aus rund 100 Posten in entlegenen Gemeinden und weiteren 100 frontnahen Positionen zurückziehen.
Bei dieser Offensive konnte die Guerilla etwa 1 000 Soldaten und Offiziere in ihre Gewalt bringen. Die meisten von ihnen wurden ohne Gegenleistung wieder freigelassen, nur Offiziere und Unteroffiziere blieben in Gefangenschaft. In diesem Bewegungskrieg, zu dem die Farc erstmals in fast vierzig Jahren ihres Bestehens4 übergingen, gelang es den Rebellen, Verkehrskorridore von strategischer Bedeutung unter ihre Kontrolle zu bringen, darunter die Autobahnen Medellín–Bogotá, Bucaramanga–Baranquilla und Calí–Pasto. Dabei begannen die Farc im Gefolge ihrer ständigen Angriffe auf Armeeeinheiten viele Zivilisten und vor allem Touristen und Urlauber zu verschleppen, was die besonders betroffene Mittelklasse in Panik versetzte.
Mit ihren erfolgreichen Schlägen gegen die Armee konnte die Guerilla jedoch ihre Popularität bei der Bevölkerung keineswegs steigern. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens hatten ihre Entführungen nur ökonomische Motive und waren insofern „unpolitisch“. Zweitens erwies sich ihre selbst gebastelte Artillerie als wenig zielsicher, was die Einwohner von Gemeinden mit Militäreinheiten auf fatale Weise zu spüren bekamen. Und drittens trafen die Farc bei ihren Bombenattentaten in den Städten keine Vorsorge, dass die Zivilisten verschont blieben.
Wo die Farc auftauchen, fallen bald die Paramilitärs ein
Mit dem Ziel, ihre zahlreichen gefangenen Genossen freizubekommen, entführte die Guerilla eine größere Anzahl von Lokal- und Regionalpolitikern, die sie in ihren Lagern festhielt. Mit Ausnahme von Ingrid Betancourt waren dies keine überregional bekannten Leute. Der Plan, die Gefangenen freizupressen, ging aber nicht auf. Die Regierung war immer weniger geneigt, ihre Soldaten, Offiziere und selbst Politiker auszulösen und nutzte die Entführungen im Gegenteil zu einer Propagandawelle gegen die „Terroristen“.
Als die Farc 1964 ihren bewaffneten Kampf begannen, lebten 65 Prozent der Bevölkerung auf dem Land. Dreißig Jahre später (1994 bis 1998) hatte sich das Verhältnis umgekehrt: 75 Prozent aller Kolumbianer lebten in den Städten. Die Farc hatten inzwischen ihre Logistik so weit entwickelt und so viele Leute rekrutiert, dass ihre Präsenz erstmals in den wichtigsten Großstädten und vielen mittleren Städte zu spüren war.
Das hatte jedoch andere als die beabsichtigen Wirkungen: Überall, wo die Farc in Erscheinung traten, fielen kurze Zeit später – im Windschatten der regulären Armee – die Paramilitärs ein. Die Aktionen dieser paramilitärischen Gruppen, die seit den 1980er-Jahren aufgebaut wurden,5 zielten auf mutmaßliche oder vermeintliche Helfer der Aufständischen, die sie anhand von Listen identifizierten. Die Überfälle der Paras hinterließen eine Spur der Verwüstung. Bei ihren zahlreichen Massakern kamen alle Techniken des Terrors zum Einsatz: Sie schlugen Köpfe ab, zerstückelten ihre Opfer mit Motorsägen, stießen sie in Säurebäder oder ließen die Leichen vor den Augen der Hinterbliebenen und Nachbarn tagelang liegen. Mit solchen Mitteln vertrieben sie Millionen von Kolumbianern. Mit ihren Verbrechen produzierten sie eine regelrechte „Landkarte des Terrors“.6
In den Dörfern – und auch in einigen Städten – griff die Panik um sich. In den entvölkerten Ortschaften wurden Sympathisanten der Paramilitärs angesiedelt. In großen Städten wie Medellín oder Barrancabermeja wurde die Ankunft von Binnenvertriebenen zum alltäglichen Anblick.
Mit der Ermordung ihrer Feinde und der Vertreibung tausender Bauern konnten die Paramilitärs ihre Operationsgebiete territorial, administrativ, wirtschaftlich und militärisch unter ihre Kontrolle bringen. Mit Unterstützung der großen Parteien, der Liberalen und der Konservativen (in unterschiedlichen Schattierungen), und mithilfe zahlreicher Tarnorganisationen konnten sie in Wahlen sogar Senatoren und Abgeordnete durchbringen. Über Gouverneure, Bürgermeister und Funktionäre mittleren Rangs erlangten sie Zugriff auf kommunale Finanzquellen. Am Ende ihrer Karriere konnten die Führer der Paramilitärs damit prahlen, dass sie 35 Prozent des Kongresses kontrollieren. Heute wissen wir, dass es in Wahrheit noch mehr waren.
„Parapolitik“ nennt man in Kolumbien diese enge Verstrickung von Politikern, Unternehmergruppen, Mafiosi und parastaatlichen bewaffneten Gruppen. Die gerichtliche Aufarbeitung dieser „Parapolitik“ brachte 44 Senatoren und Kongressabgeordnete, 5 Abgeordnete von Regionalparlamenten, 14 Gouverneure und Bürgermeister und den Chef der politischen Polizei in Untersuchungshaft. Bis heute ist ein rundes Dutzend Politiker rechtskräftig verurteilt. Sollten sich die Aussagen von Paramilitärs vor Gericht bestätigen, müsste die Hälfte des Establishments hinter Gitter wandern. Und sämtliche „Parapolitiker“ haben die Wahl von Präsident Uribe unterstützt. Diese territoriale Offensive der Paramilitärs versetzte die betroffene Bevölkerung in Angst und Schrecken. Niemand wagte es, öffentlich seine Meinung zu sagen oder gar gegen die Zustände zu protestieren. Die Unterwerfung der Bevölkerung war total, die soziale Bewegung wurde völlig zerschlagen. Und von den Repräsentanten des Staates war immer nur zu hören: „Ich weiß von nichts“; „Ich habe nichts gesehen“; „Alles gelogen“.
Das Ganze war zweifellos ein Counterinsurgency-Projekt, in das auch die Drogenkartelle eingebunden waren, die ebenfalls mit den Farc um die Kontrolle des Territoriums kämpften. Die Aufständischen mussten ihre Kräfte aufteilen, um der regulären Armee wie den paramilitärischen Truppen die Stirn bieten zu können. Zugleich machten sich die USA daran, die kolumbianische Armee zu reorganisieren. Der sogenannte Plan Colombia diente als Vehikel, mit dem 5 Milliarden Dollar, 140 Kampfhubschrauber, 45 Kleinflugzeuge für die Polizei und zum Einsatz von Herbiziden gegen die Kokafeldern ins Land gebracht wurden.
Dazu kamen 800 US-Offiziere sowie hunderte „Vertragsangestellte“, das heißt Söldner für geheimdienstliche Aktivitäten und die Wartung der elektronischen Geräte, der Überwachungssatelliten im Southern Command und der US-Basis in Manta, Ecuador. Zu dieser Zeit wurde Álvaro Uribe zum Präsidenten gewählt, der versprochen hatte, die Guerilla zu vernichten und dafür zu sorgen, dass „alle Kolumbianer sich auf den Straßen des Heimatlandes mit Ruhe und Gelassenheit bewegen können“.
Der Krieg, der Kolumbien schon so lange im Griff hielt, hat sich damit entscheidend verändert. Die Polarisierung ist mittlerweile so extrem, dass man heute von zwei verschiedenen Welten in Kolumbien sprechen kann: der städtischen, in der die Bevölkerung überwiegend zufrieden ist mit der Entwicklung des Krieges und mit Uribes Politik; und der ländlichen, wo die Menschen den Konflikt mit allen Konsequenzen und in voller Härte zu spüren bekommen. Dort hofft man auf eine politische Lösung.
Die Farc, die kaum noch Rückhalt in den Städten haben, werden jetzt mit Radar, Spionageflugzeugen und Elitetruppen mit Nachtsichtgeräten und Präzisionsgewehren bekämpft. Die Soldaten, die sie aufspüren sollen, wurden von US-Ausbildern trainiert und von einer kolumbianischen Armee ausgebildet, die für die Bereiche politische Kriegsführung und nachrichtendienstliche Spezialaufgaben Berater aus Israel und Großbritannien engagiert hat.7
In diesen Krieg wird auch die Zivilbevölkerung voll einbezogen. Die Armee rekrutiert Informanten, sie engagiert Försterfamilien, Soldaten mit Abitur, die ihren Wehrdienst in der Heimatgemeinde ableisten und Kokabekämpfer, ja sie siedelt sogar komplette neue Dorfgemeinschaften an. Dieses Netz, das die Armee betreibt und kontrolliert, erfordert viel Geld für die Entlohnung von Informanten und Denunzianten.
Es ist dieser Krieg auf vielen Ebenen und mit allen Mitteln, der in der Bevölkerung Kolumbiens so große Verwirrung stiftet. Und dabei gibt es immer mehr Stimmen, die nach mehr Krieg rufen. Doch die Befürworter des Krieges sehen nicht, dass die Vernichtung der Farc – selbst wenn sie wie geplant bis 2010 erreichbar wäre – die Ursachen des Konflikts nicht beseitigen wird. Ohne eine politische Lösung, die auch den Gesellschaften von Venezuela und Ecuador, ja allen Ländern der Region zugutekäme, wird dieser Krieg vielleicht an Intensität nachlassen, aber aufhören wird er nicht.
Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard Carlos Gutiérrez ist Redakteur der kolumbianischen Ausgabe von Le Monde diplomatique. © Le Monde diplomatique, Edition Cono Sur