11.04.2008

Ecuador: Angriff und Verteidigung

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Ecuador: Angriff und Verteidigung

Der Konflikt mit Kolumbien als Testfall für regionale Selbstbestimmung von Adriana Rossi

Der Angriff der kolumbianischen Armee auf ein Lager der Fuerzas Armadas Revolucionarias (Farc) auf ecuadorianischem Territorium war von langer Hand geplant. Und er stützte sich nur scheinbar auf die im Völkerrecht als hot pursuit bekannte Praxis der „Nacheile“, also der Verfolgung „auf heißer Spur“ von Feinden auf benachbartes Territorium. Dieses „Recht der Nacheile“ erlaubt einseitige Aktionen eines kriegführenden Staates unter besonders dringenden Umständen, ohne die vom Völkerrecht vorgesehenen Verfahren einzuhalten.

Bei der Militäraktion wurde Raúl Reyes, der dritte Mann in der Farc-Hierarchie getötet. Unter den weiteren 24 Todesopfern waren kolumbianische Guerilleros, zwei mexikanische Studenten, ein kolumbianischer Soldat und ein ecuadorianischer Staatsbürger. Drei Frauen wurden verletzt. Der 37-jährige ecuadorianische Schlosser Franklin Aisalla wurde erst nachträglich identifiziert. Er soll seit fünf Jahren für die Farc gearbeitet haben, bestätigte das Außenministerium in Quito. Das rechtfertigt aber keinesfalls den kolumbianischen Übergriff, erklärte Ecuadors Verteidigungsminister Sandoval.

Operative Basis für den Überfall war der Militärstützpunkt Tres Esquinas im kolumbianischen Departement Caquetá, der im Rahmen des „Plan Colombia“ (siehe Artikel auf S. 15) ausgebaut wurde. Tres Esquinas ist auch eine Basis für US-Militär und verfügt über eine Radaranlage, die zum Netzwerk des Karibikbogens (Caribbean Basin Radar Network, CBRN) gehört.1 An der nächtlichen Operation, die die Guerilleros im Schlaf überraschte, waren Soldaten und Einheiten der kolumbianischen Antidrogenpolizei beteiligt. Die ecuadorianische Regierung wurde erst verständigt, als alles vorbei war.

Die ersten Informationen, die Uribe an seinen ecuadorianischen Amtskollegen Rafael Correa über Telefon gab, wie auch die Erklärung von Verteidigungsminister Juan Manuel Santos in einer Pressekonferenz entsprachen nicht den Tatsachen, weil sie den Übergriff auf ecuadorianisches Territorium verschwiegen. Erst der Bericht der ecuadorianischen Streitkräfte sprach von der Präsenz kolumbianischer Uniformierter bei dem Angriff auf das Farc-Lager sowie von Bombardements aus der Luft und einer anschließende Bodenoffensive. Der ecuadorianische Präsident war darüber so verärgert, dass er Uribe als Lügner bezeichnete und damit eine Krise auslöste.

Die kolumbianische Regierung gab später zu, man habe zwar die ecuadorianische Souveränität verletzt, aber Kolumbien habe seine Interessen wahren und die Anführer der Farc verfolgen und ausschalten müssen. Mit Reyes traf die Armee ausgerechnet den Mann, der die Verhandlungen über die Freilassung der „austauschbaren Geiseln“ (so die Diktion der Farc) führte, zu denen auch die kolumbianisch-französische Politikerin Ingrid Betancourt gehörte.

Es war beileibe nicht das erste Mal, dass kolumbianische Truppen in Ecuador einfielen. Schon 2005 gab es aus Quito offizielle Protestnoten, die von Kolumbien mit Entschuldigungen beantwortet wurden. Aber der Umfang der Offensive im März, die Art des Vorgehens und die gravierenden Folgen veranlassten die ecuadorianische Regierung, die diplomatischen Beziehungen mit Kolumbien abzubrechen. Zudem protestierte man laut gegen die offene Verletzung der Souveränität und gegen das „Massaker“, wie Ecuadors Minister für innere und äußere Sicherheit, Gustavo Larrea, es nannte.

Die Gruppe von Rio2 , die Mitte März in Santo Domingo zu ihrer Jahrestagung zusammenkam, bestand auf der Geltung des Völkerrechts, das nach den Worten von Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández gerade beim Kampf gegen illegale Gruppen eingehalten werden müsse. Das Argument, es habe sich um einen Fall von hot pursuit gehandelt, sei hinfällig, da keine Verfolgung stattgefunden habe. Und die von Präsident Uribe vorgebrachte Begründung, er hätte Ecuadors Regierung nicht vorwarnen können, um den Erfolg der Operation nicht zu gefährden, sei eine Beleidigung Ecuadors.

Die Gruppe von Rio wies damit indirekt auch die Militärdoktrin der USA zurück, wonach präventive Attacken oder Kriege als Reaktion auf Drohungen zulässig seien, auch wenn diese von Gebieten jenseits der nationalen Grenzen ausgehen.3 Diese Doktrin, die Anhänger in aller Welt gefunden hat,4 verletzt den Grundsatz der Souveränität, da jede terroristische Bedrohung naturgemäß grenzüberschreitend ist. Laut Uribe manifestiert sich eine solche Bedrohung in den Farc und im Nationalen Befreiungsheer ELN (Ejército de Liberación Nacional, ELN), der zweiten Guerillaorganisation, die das US-State-Department als internationale terroristische Organisationen führt.5

Die gefährliche Doktrin eingeschränkter Souveränität

Diese Doktrin war nicht akzeptabel, schon gar nicht in der aktuellen Situation, da die Interessen mehrerer Nachbarländer bedroht waren. Das gilt für Venezuela (das als Gegenspieler der USA von Washington einer erweiterten „Achse des Bösen“ zugerechnet wird), für Nicaragua, das wie Ecuador und Venezuela die diplomatischen Beziehungen zu Bogotá abbrach und mit Kolumbien eine Dauerfehde über einige karibische Inseln und angrenzende Territorialgewässer führt, und für Brasilien, das seit Beginn des „Plan Colombia“ seine Grenzen zu Kolumbien stärker absichert.6 Keiner dieser Staaten war daran interessiert, dass die US-amerikanisch-kolumbianischen Thesen allgemein verbindlich werden.

Das Ganze wiederholte sich beim Treffen der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) am 18. März in Washington, obwohl sich die USA bei diesem Anlass vehement in die Debatten einschalteten. Die geschlossene lateinamerikanische Front hinter der Position Ecuadors wurde jetzt durch Mexiko verstärkt. Obwohl hier eine Rechtsregierung an der Macht ist, war das nicht besonders überraschend. Jede andere Haltung wäre bei der öffentlichen Meinung übel angekommen, zumal die Bevölkerung bereits durch die katastrophalen Auswirkungen des Freihandelsabkommens Nafta mit den USA und Kanada7 tief verstört ist.

Kolumbien musste sich vor dem ganzen Kontinent rechtfertigen und bei Ecuador entschuldigen. Zwar blieb die von Correa verlangte Verurteilung der Aktion aus, aber Kolumbien blieb isoliert. Doch auf Ecuador und Venezuela kommen weitere Komplikationen zu.

Bei dem Angriff, der das Guerillalager zerstörte, blieben wundersamerweise drei Laptops unbeschädigt, behauptete die kolumbianische Regierung. Auf ihnen sollen sich Dokumente befinden, die Verbindungen der Farc zu Ecuador, Venezuela und selbst Nicaragua beweisen. Die Ausdrucke von 24 E-Mails, die Kolumbien der Regierung von Ecuador inzwischen hat zukommen lassen,8 sind über Zweifel an ihrer Echtheit allerdings nicht erhaben. Aus ihnen geht hervor, dass es Kontakte zwischen der ecuadorianischen Regierung und Raúl Reyes gab. Minister Larrea rechtfertigte sie als Kontakte, die der Vorbereitung des Gefangenenaustauschs dienten. Dagegen wies er die Behauptung zurück, er habe den Abzug seiner Armee und Polizei von der Grenze zum kolumbianischen Putumayo zugesagt, um den Farc das Eindringen und den Aufenthalt auf ecuadorianischem Territorium zu erleichtern.

Die Nordprovinzen Ecuadors sind schwer zu kontrollieren und waren seit jeher Rückzugsgebiet von kolumbianischen Guerilleros, die dort immer wieder kurzzeitig Schutz suchten. Dass diese sogar feste Lager anlegten, ist wahrscheinlich auf den starken militärischen Druck der kolumbianischen Armee auf das Department Putumayo, das Zentrum des „Plan Colombia“, zurückzuführen. Trotz der starken Armee- und Polizeipräsenz gilt das Departement als Niemandsland, wo der kolumbianische Staat kaum oder nur als Repressionsmacht präsent ist.

Der ecuadorianische Verteidigungsminister Sandoval hat im Hinblick darauf schon 2007 festgestellt: „Ecuador grenzt an die Farc, nicht an Kolumbien.“9 Während es Kolumbien nicht gelingt, die Grenze zu kontrollieren, weigert sich Ecuador, sich gegen Flüchtlinge abzuschotten und seine Grenze zu militarisieren. Denn es will den Frieden im Land bewahren und nicht in den fremden Konflikt hineingezogen werden.

Für Kolumbien kann der Schlag gegen die Guerilla bewirken, dass das Freihandelsabkommen mit den USA endlich durchkommt. Dieses Abkommen wird von den Präsidenten Uribe und George W. Bush energisch unterstützt, steckt aber im Kongress in Washington fest. Hier wollen die Demokraten so lange nicht zustimmen, bis die behaupteten Verbindungen des kolumbianischen Präsidenten zu den Paramilitärs untersucht sind und sich die Menschenrechtslage in Kolumbien substanziell verbessert hat. Präsident Bush hat erklärt, dieser Vertrag sei „mehr noch als eine Frage kluger Wirtschaftspolitik, (…) eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit“.10 Das könnte in der Konsequenz bedeuten, dass der Kampf gegen die Farc weiter verstärkt wird, was eine politische Lösung des Konflikts, die Uribe ohnehin ausschließt, noch unwahrscheinlicher machen würde.

Die Lage ist auch deshalb prekär, weil sich die Haltung der Farc nach dem Tod zweier ihrer wichtigen Komman-danten11 verhärten könnte, obwohl das ihren Ruf weiter ramponieren dürfte. Ohnehin sehen sich die Farc dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie mit den Drogenhändlern kooperiert oder direkt am illegalen Geschäft beteiligt sind. Ihre Politik der Verschleppungen ohne Ansehen der Person haben sie in Kolumbien bereits äußerst unpopulär gemacht (siehe nebenstehender Artikel). Uribe wiederum könnte durch den Popularitätsschub, den ihm der Tod von Reyes verschafft hat, eine zweite Wiederwahl sicherstellen.

Aber der Übergriff in Ecuador könnte auch ein erster Versuch gewesen sein, die ganze Region in den Konflikt hineinzuziehen und diesen zu internationalisieren, um die Strategie der USA zu unterstützen. Washington hat dabei nicht nur den erklärten Feind Venezuela im Auge, sondern schielt auch nach Ecuador. Die Regierung in Quito hat angekündigt, dass sie die Lizenz für die Nutzung der Militärbasis von Manta, wo die USA ihren größten Stützpunkt des Antidrogen- und Antiterrorkampfs in Südamerika haben, nicht verlängern wird. Sie will dort einen zivilen Flughafen sowie einen Hafen einrichten, da der Handelskorridor, der Brasilien mit Ecuador verbindet, an dieser Stelle in den transozeanischen Handelsweg nach Asien mündet.

Correa will sich auch Udenor verweigern, einer autonomen Institution, die von den USA Hilfsgelder für die Sicherung der ecuadorianischen Nordgrenze bezogen hat. Udenor ist Teil der Andeninitiative, dem Teil des „Plan Colombia“, der eine Befriedungsstrategie für die angrenzenden Länder vorsieht. Die Absagen aus Quito behindern das Sicherheitskonzept der USA für den Subkontinent und zwingen diese, für einen zentralen Stützpunkt ein anderes Gastland zu finden. Die USA könnten dank ihrer über den Kontinent verteilten Militärbasen die Kontrolle über die Anden-Amazonas-Region behalten.

Der Versuch, den kolumbianischen Konflikt auszuweiten, zielt auf eine „Amerikanisierung“ ab. Die Absicht ist, die linksnationalen Regierungen der Region zu spalten, zu isolieren und zu destabilisieren und die regionalen Einigungsbestrebungen in die Falle des Antiterrorkampfes zu locken. So wurde es mit Ecuador versucht, das beinahe vom Opfer zum Täter gemacht worden wäre.

Die Regierung Correa stand im Kreuzfeuer nicht nur der internationalen Medien.12 Auch in Ecuador selbst, wo Presse und Fernsehen die Interessen jener Eliten vertreten, die sich derzeit von der Macht ausgeschlossen fühlen und trotz eines oberflächlichen Pluralismus ein Informationsmonopol haben, versuchte man die Regierung in die Defensive zu drängen und öffentlich zu diskreditieren. Dieselben Medien versuchten auch, einen Bruch mit Venezuela zu provozieren, indem sie dessen Unterstützung für Ecuador als überzogen und kriegslüstern darstellten. Die Verantwortung Kolumbiens für die Krise wurde kleingeredet.

Aber die Regierungen – und die öffentliche Meinung – der Mehrheit der lateinamerikanischen Länder konnten sich auf der OAS-Konferenz durchsetzen.13 Die lehnte nach 14-stündigen Beratungen den kolumbianischen Truppeneinfall in Ecuador ab. Zuvor hatte sich Kolumbien einen kolossalen Fauxpas geleistet, indem es aller Welt ein – auf einem Computer von Raúl Reyes gefundenes – Foto präsentierte, das Ecuadors Minister Larrea in Gesellschaft des Guerilleros in einem Farc-Lager zeigen sollte. Doch der angebliche Larrea war Patricio Echegaray, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Argentiniens.

Während sich Kolumbien mit Rückendeckung der USA und einiger karibischer Staaten auf Artikel 22 der OAS-Charta über die legitime Verteidigung berief, stützte sich Ecuador auf Artikel 21, der die Unverletzbarkeit des staatlichen Territoriums garantiert. Die USA fanden sich nach ihrem einsamen Kampf weitgehend isoliert und stimmten dem Schlussdokument nur unter Vorbehalten zu. Einige in der Debatte eingebrachte Vorschläge blieben bestehen, wie Brasiliens Initiative für eine multilaterale Konfliktpräventionstruppe ohne Beteiligung der USA und Kanadas oder die Anregung Ecuadors, die OAS solle zu einer rein lateinamerikanischen Organisation werden.14

Doch trotz aller Rückschläge konnten die Präsidenten Bush und Uribe mit ihrem „Plan Colombia“ einen begrenzten Erfolg verbuchen: Die Krise strapazierte die Beziehungen zwischen den beteiligten Ländern und bewirkte, dass länderübergreifende Projekte in den Grenzregionen eingefroren wurden. Der „Plan Ecuador“, der auf Entwicklung und Frieden setzt, wird in einer zunehmend militarisierten Region schwierig umzusetzen sein. Und Gelder, die für Wirtschafts- und Sozialprojekte bestimmt sind, dürften jetzt eher in die Stärkung der Militärapparate fließen.

Diese Krise war ein inszeniertes Machtspiel auf Messers Schneide. Und vielleicht war es die erste größere Schlacht in einer Konfrontation zwischen einer imperialen Strategie und alternativen Konzepten, die auf nationale Souveränität und regionale Zusammenarbeit setzen.

Fußnoten: 1 „Base Aérea Ernesto Esguerra, Tres Esquinas, Caquetá, Colombia“, in www.globalsecurity.org. 2 Im Rahmen der 1986 gegründeten Rio-Gruppe treffen sich zwanzig lateinamerikanische Staaten zu regelmäßigen Konsultationen. 3 PNAC, „Rebuilding America’s Defenses“, in Project for the New American Century, September 2000, www.newamericancentury.org; „The National Security Strategy of the United States of America. September 2002“, in www.whitehouse.gov. 4 Zum Beispiel Russland für die Begründung des Kampfs gegen den „tschetschenischen Terrorismus“. 5 Auf der Liste stehen auch die paramilitärischen Autodefensas Unidas de Colombia, die angeblich demobilisiert wurden, Sendero Luminoso und Movimiento Revolucionario Túpac Amaru (MRTA) in Peru. „List of Known Terrorist Organizations“, Center for Defense Information, www.cdi.org. 6 Der „Plan Kobra“ beinhaltet vor allem die militärische Grenzsicherung Brasiliens im Amazonasgebiet. Siehe Adriana. Rossi, „Mercosur: entre doctrinas, mercado y seguridad“, TNI Briefing Series, Nr. 2006/3, TNI, Amsterdam 2006, auch: www.tni.org. 7 Vgl. Anne Vigna, „Böses Erwachen in Mexiko“, Le Monde diplomatique, März 2008. 8 Veröffentlicht auf der Website der ecuadorianischen Regierung: www.presidencia.gov.ec/notici as.asp?noid=13176. 9 www.publijoa.com. 10 „Bush apoya a Colombia como su mayor aliado en la región“ unter: www.elcomercio.com. 11 Einige Tage nach dem Tod von Reyes wurde ein weiterer Anführer, Iván Ríos, von seinem eigenen Sicherheitschef ermordet. Siehe El Comercio, Quito, 8. März 2008. 12 Siehe zum Beispiel den Artikel „Las FARC encuentran refugio en Ecuador“, (Die Farc finden Unterschlupf in Ecuador) in der spanischen Tageszeitung El País, 12. März 2008: www.elpais.com. 13 Die OAS wurde von der Rio-Gruppe beauftragt, einen Bericht über die Ereignisse zu erstellen. Zu diesem Zweck besuchte eine Kommission beide Seiten der Grenze. 14 „El Grupo de Rio: de la práctica agonía al estrellato diplomático“, El Comercio, Quito, 9. März 2008.

Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard Adriana Rossi ist Professorin an der Universität von Rosario, Argentinien, Spezialistin für politische und soziale Auswirkungen von Drogenhandel. © Le Monde diplomatique, Edition Cono Sur

Le Monde diplomatique vom 11.04.2008, von Adriana Rossi