11.04.2008

Und morgen der Petropeso

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Und morgen der Petropeso

Es gibt mehrere Faktoren, die Südamerika zu einer Region mit hohem geopolitischen Konfliktpotenzial machen:

– In der Region lagern riesige Vorkommen fossiler Rohstoffe: Die gesicherten Ölreserven Venezuelas liegen derzeit bei 100 Milliarden Barrel, was 82 Prozent der gesamten südamerikanischen und 62 Prozent der kontinentalen Reserven ausmacht.1 Venezuela ist somit die fünfte Erdölmacht der Welt (knapp hinter Kuwait mit 101,5 Milliarden Barrel und Irak mit 115 Milliarden Barrel bekannter Reserven) und sechstgrößter Erdölexporteur der Erde. 2006 führte das Land täglich 1,735 Millionen Barrel aus2 .

In der Orinoco-Senke lagern zudem riesige Vorkommen als Ölsand, die nach venezolanischen Angaben etwa 1 400 Milliarden Barrel Rohöl entsprechen. Davon könnten 267 Milliarden Barrel beim gegenwärtigen Weltmarktpreis mit heutiger Technologie gefördert werden. Werden diese Reserven offiziell bestätigt und anerkannt, könnte Venezuela über die größten Ölreserven der Welt verfügen. Die neuen Reserven entsprächen 78 Prozent der gesicherten Reserven von Saudi Arabien und Irak zusammengenommen – der beiden derzeit größten Ölmächte.3

Die von Venezuela angestrebte „Union Südamerikanischer Nationen“, Unasur (Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru, Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay, Venezuela, Chile, Guayana und Surinam), deren Gründungscharta gerade erarbeitet wird, wäre die viertgrößte Erdgas- und Rohölmacht der Welt4 und zugleich der siebtgrößte Kohleproduzent (bei den bekannten Kohlereserven läge die Unasur an neunter Stelle).5

Brasilien und Argentinien verfügen über die Technologie zur Aufbereitung von Uran, wobei Argentinien seine Anlage aus den 1980er-Jahren nicht nutzt. Entscheidend ist, dass Unasur weltweit der einzige regionale Block wäre, der sich selbst mit Energie versorgen kann. Werden die politischen Probleme einer Kooperation auf dem Energiesektor gelöst, garantiert Unasur seinen Mitgliedern eine sichere, billige, dauerhafte und ausgewogene Versorgung mit Energie.

– Südamerikanische Länder stellen mit ihrer Erdölpolitik die von Großbritannien und den USA geschaffene Struktur der globalen Erdölwirtschaft infrage. Im Oil & Gas Journal, der wichtigsten Publikation des angelsächsischen und transnationalen Ölbusiness, heißt es: „Als Konsequenz der Verstaatlichungen (von 1950, 1970, 1980 und Anfang des 21. Jahrhunderts) kontrollieren die internationalen Ölkonzerne nur noch 16 Prozent der bestätigten Weltölreserven, während staatliche Ölkonzerne ihren Anteil auf 65 Prozent gesteigert haben.“6 Selbst vor der „bolivarischen Revolution“ (und natürlich danach) machte Venezuela auf Opec-Ebene bei praktisch allen Machtverschiebungen zugunsten der Staatskonzerne seinen Einfluss geltend, etwa bei der Preisgestaltung und der Bildung von Produzentenkartellen. Mit Saudi-Arabien war es Mitbegründer der Opec und wurde inzwischen zum Wortführer der Länder, die die Ölgewinne für Entwicklung und Industrialisierung der Erzeugerländer nutzen und den US-Dollar als Leitwährung für Öltransaktionen ersetzen wollen. Es sind also vor allem Venezuela und Russland, die auf die Ablösung der alten Energieordnung hinarbeiten.

– Südamerika ist als Energielieferant für die USA unverzichtbar. Nach den Daten der Energy Information Administration (EIA) in Washington wird die Abhängigkeit der Energieversorgung der USA von fossilen Brennstoffen noch wachsen.7 Doch wo sollen diese Ressourcen herkommen? Beim gegenwärtigen Exportniveau werden die konventionellen Ölreserven Kanadas in weniger als sechs Jahren erschöpft sein.8 Dann wird das Land neue Förderquellen erschließen oder seine großen Ölsandvorkommen nutzen müssen, was technisch schwieriger und teurer ist. Ähnliches wird für Mexiko vorausgesagt, das 2016 bestenfalls das Produktionsniveau von 2006 wird halten können.9

Ölsand am Orinoco

Von den fünf wichtigsten Öllieferanten ist einzig Venezuela in der Lage, auf drei entscheidende Faktoren zu bauen: Erstens wird die Produktion, nach einschlägigen Prognosen, von heute 3,1 Millionen auf 5,9 Millionen Barrel im Jahr 2012 ansteigen.10 Zweitens verfügt das Land über große Reserven, die derzeit nur auf niedrigem Niveau ausgebeutet werden. Und drittens sind die Transportwege zu den Abnehmerländern relativ kurz.

Hinzu kommen politische Faktoren, die sich im Fluss befinden und das Gesamtbild verändern können: der in den Anfängen steckende Prozess der autonomen regionalen Integration auf dem Gebiet der Entwicklung und Industrialisierung; die Stärkung der Demokratie auf regionaler Ebene; die Existenz von „Statthalterregierungen“ wie in Kolumbien; und massive interne Konflikte, die den Vorwand für einen „Krieg gegen den Terror“ auch in Südamerika liefern.

Der Konflikt zwischen Kolumbien auf der einen und Ecuador und Venezuela auf der anderen Seite ist zwar vorerst beigelegt, aber er hat deutlich gemacht, dass auch in Südamerika die alte und die neue Weltenergieordnung miteinander kollidieren.

Die USA, die diesen Konflikt angeheizt haben, betreiben die politische Balkanisierung und die Destabilisierung der Regierungen von Ecuador und Venezuela, die sich den Interessen Washingtons widersetzen. Deswegen wäre ein Verteidigungsmechanismus, der die Staaten der Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur, der südamerikanischen Union Unasur und der Rio-Gruppe11 zusammenschließt, die beste Antwort, um zu verhindern, dass wir in Lateinamerika Konflikte erleben, wie wir sie bisher nur aus dem Nahen Osten kennen.

Damit ein solches Chaos nicht eintritt, sollten die Mitgliedsländer des Unasur ihre allgemeine Sicherheitspolitik eng mit ihrer Energiesicherheit verknüpfen. Mit anderen Worten: Die Energiereserven der Region müssten gemeinsam verteidigt werden. Gleichzeitig sollte Druck zugunsten einer politischen Lösung des internen Konflikts in Kolumbien ausgeübt werden. Damit würde einer der wichtigsten Vorwände für militärischen Interventionen in der Region ausgeschaltet.

Lateinamerika muss eine koordinierte Strategie finden und gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um die größten potenziellen Gefahren für seine Stabilität zu neutralisieren: erstens die militärische Bedrohung, mit oder ohne Beteiligung ausländischer Armeen; zweitens die sezessionistische Gefahr im Sinne einer „Balkanisierung“ der Region und der Destabilisierung der demokratischen und legitimen Regierungen; und drittens die energiepolitische Bedrohung, sprich die Behinderung der Erschließung, des Transports oder Verteilung der Ressourcen in der Region.

Auf der internationalen Szene ist die Entwicklung in Südamerika derzeit einer der Faktoren, die den USA ihre globale Hegemonie am stärksten streitig machen. Die wichtigsten Rohölreserven der Welt, die in den Dienst der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung wie auch der Industrialisierung der Region gestellt werden, beschleunigen unaufhaltsam den Übergang von der Unipolarität zur Multipolarität. Es gibt kein schlagenderes Argument für das Ende der angelsächsischen Dominanz als ein energiepolitisch autarkes, geeintes und emanzipiertes Südamerika.

Federico Bernal

Fußnoten: 1 Oil and Gas Journal, Houston (Texas), 24. März 2008; www.ogj.com. 2 Opec-Jahresbericht, www.opec.org/library/Annual%20Statistical%20Bulletin/ASB2006.htm. 3 Oil and Gas Journal, 24. März 2008. 4 Oil and Gas Journal, 24. Dezember 2007. 5 Statistischer Jahresbericht von BP (British Petroleum), 2007. 6 Oil and Gas Journal, 26. März 2007. 7 Energy Information Administration – Annual Energy Outlook, 2006. 8 Statistisches Jahrbuch 2006 der Opec. 9 Ministerio de Energía de México, Informe 2006–2016, México, März 2008. 10  PDVSA, Caracas, 2007. 11 In der 1986 gegründeten Rio-Gruppe treffen sich zwanzig Staaten Lateinamerikas (Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Guatemala, Guyana, Honduras, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay, Peru, Uruguay und Venezuela) zu Konsultationen, die mittlerweile regelmäßig stattfinden.

Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard © Le Monde diplomatique, Edition Cono Sur

Le Monde diplomatique vom 11.04.2008, von Federico Bernal