11.04.2008

Demokratie zum Davonlaufen

zurück

Demokratie zum Davonlaufen

Die autoritären Regime der arabischen Welt haben gelernt, ihren Fortbestand mit demokratischen Versatzstücken zu sichern von Hicham Ben Abdallah El Alaoui

Seit dem Golfkrieg von 1991 haben die arabischen Länder des Nahen Ostens eine Reihe von Krisen erlebt, die die alten Eliten eigentlich hätten erschüttern müssen. Seit fast zwanzig Jahren waren sie mit ernsten politischen, ideologischen und sozialen Problemen konfrontiert. Dennoch gelang es den Regimen in der Region, die archaischen Strukturen, die schon den Zweiten Weltkrieg und die Entkolonisierung überlebt hatten, weiter aufrechtzuerhalten. Die potenziellen Träger eines Wandels, auf die sich viele Hoffnungen stützten, vermochten keine wirksame Opposition zu bilden, und so konnten die Regime, die kurz davor gestanden hatten, jede Glaubwürdigkeit zu verlieren, sich vor der Welt als geläutert präsentieren und weiter an der Macht halten.

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Golfkrieg von 1991 mangelte es nicht an optimistischen Prognosen. Saddam Hussein war aus Kuwait vertrieben worden, eine neue Weltordnung schien möglich: Nun sollte überall dem internationalen Recht und den UN-Resolutionen Geltung verschafft werden – selbst in Palästina.1

Wirtschaftlich sollten durch „strukturelle Anpassung“, also Privatisierung und den Abbau staatlicher Subventionen, durch Freihandelsabkommen und die Öffnung der Länder für Auslandsinvestitionen die Entstehung einer neuen Mittelschicht begünstigt werden. Demokratisierung sollte mit Wirtschaftswachstum einhergehen. Die Vordenker dieser Strategie setzten darauf, dass neue, fähige Eliten in der arabischen Welt wie schon in Lateinamerika und in Südeuropa den politischen Wandel brächten.2

Fast zwei Jahrzehnte sind seit jenen kühnen Erwartungen vergangen, und die Bilanz fällt dürftig aus, welchen Bereich man auch betrachtet.

In der Region existieren heute drei Formen der politischen Herrschaft: Völlig „geschlossene“ Regime (wie Libyen, Syrien und einige andere), die nicht einmal den Anschein von Pluralismus erwecken wollen; „hybride“ Regime (wie Algerien, Ägypten, Jordanien, Marokko, Sudan, Jemen), wo die autoritäre Herrschaft mit gewissen Formen von demokratischer Beteiligung koexistiert; und „offene“ Regime, wofür es aktuell nur ein einziges Beispiel gibt: Mauretanien, wo mit den Wahlen im März 2007 ein wirklicher Machtwechsel stattgefunden hat.

Wirtschaftspolitisch hat der Neoliberalismus zwar höhere Wachstumsraten bewirkt, doch die Länder der Region sind damit nicht zu dynamischen Akteuren in der globalen Wirtschaft geworden. Und ganz gewiss sind Elend und soziale Ungleichheit nicht gemindert worden. Die Ölstaaten konnten wegen der steigenden Rohölpreise große Devisenreserven anhäufen, aber dieser Reichtum bedeutete keine strukturelle Erneuerung. In einigen dieser Länder dienen die neu geschaffenen Staatsfonds auch dazu, dass man die finanziellen Muskeln spielen lässt und sich in krisengeschüttelte Unternehmen der großen Industriestaaten einkauft.

Aber dies ist eher Ergebnis der Schwäche des Nordens denn Ausdruck eines wirtschaftlichen Strukturwandels im Nahen Osten. Die anderen großen arabischen Länder kämpfen nach wie vor mit dem Problem einer wachsenden Bevölkerung und der fehlenden Perspektive für junge Menschen. Ägypten, das bevölkerungsreichste Land, bleibt auf Auslandshilfe angewiesen, und nur seine strategische Lage sichert ihm diese Einkünfte.

Die neue Mittelschicht ist immer noch abhängig von den Öleinnahmen und muss sich in das alte System der Günstlingswirtschaft einfügen. Ob Monarchie oder Republik – die autoritär geführten Staatswesen haben Bestand und zeigen eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit. Die reichen Geschäftsleute verdanken dem Staat ihre Einflussmöglichkeiten und ihre Aufträge, die kleinen Unternehmen – bis hinunter zu den Straßenhändlern – müssen sich mit Erlassen der Ministerien und kleinlichen Vorschriften herumschlagen und natürlich auch Schmiergelder zahlen. Selbst Freiberufler und Intellektuelle bleiben abhängig von den staatlichen Institutionen. Wer sich nicht an die Regeln hält, zahlt einen hohen Preis.

Der Begriff „Mittelschicht“ ist natürlich sehr dehnbar. Unter diese Bezeichnung fallen viele soziale Gruppen: von Geschäftsleuten bis Lehrern, von Krankenschwestern bis Kleinhändlern, von Künstlern bis Beamten. Die einen kommen aus alteingesessenen Familien mit guten Beziehungen, die anderen sind vielleicht die ersten aus der Familie, die lesen und schreiben gelernt haben und mehr als das Existenzminimum verdienen – gerade sie müssen aber bei jeder Wirtschaftskrise den Absturz in die Verelendung fürchten. Inzwischen gehören auch hochrangige Militärs zur neuen Bourgeoisie, da sie wichtige Anteile an der nationalen Wirtschaft besitzen. Zusammen mit den Funktionären, die durch ihre Posten im Staatsapparat reich geworden sind, bilden sie eine Gruppe innerhalb der „Mittelschicht“, die an politischer Veränderung kein Interesse hat.

Es gibt es auch eine „globalisierte“ Mittelschicht, die aus zwei Fraktionen besteht: der der gebildeten Berufstätigen sowie der Geschäftsleute im Ausland, die ihrer Familie genug Geld überweisen können, um ihr die Eröffnung eines kleinen Ladens oder Betriebs zu ermöglichen; und der Fraktion derer, die an der Perspektivlosigkeit im Land verzweifeln und ihre einzige Hoffnung anderswo sehen.3

Beide Formen von Emigration sind Ausdruck derselben Misere: Der Staat kommt seinen Aufgaben bei der Beschäftigungs- und Sozialpolitik immer weniger nach. Also fühlen sich die Einzelnen nicht mehr mit einem von allen geteilten gemeinsamen nationalen Projekt verbunden.

Es kommt hinzu, dass all die unterschiedlichen „Mittelschichten“ in Ländern, in denen die Mehrheit am Rande des Existenzminimums lebt und es kein funktionierendes staatliches Bildungssystem gibt, nur einen winzigen Teil der Bevölkerung ausmachen. Und diese wenigen sind es, die sich für Demokratie und politische Freiheiten einsetzen: Studenten, Freiberufler, kleine Geschäftsleute, Anwälte und die marginalisierten Gruppen der Gesellschaft (Frauen, Vertreter bestimmter Ethnien, Sprachen oder Regionen). Aber wie soll man diese Forderungen den ärmsten Schichten in Stadt und Land vermitteln, die andere, ganz materielle Sorgen haben?

Ideologisch eint alle diese Gruppen die Forderung nach „Demokratie“, doch es ist typisch für die Nahostregion, dass sie in vielen Einzelfragen sehr unterschiedliche Positionen beziehen. Etwa seit 1990 lässt die Art der wirtschaftlichen und politischen Liberalisierung keine linken und weltlichen Fortschrittsideen mehr aufkommen. Stattdessen ist nun der Islamismus in seinen verschiedenen Formen Ausdruck der Unzufriedenheit und der Forderung nach Veränderung – selbst in traditionell linken und laizistischen Milieus wie dem studentischen.

Die Forderung nach Demokratie wird heute also von Laizisten wie Islamisten vorgetragen, doch die Dissonanz in diesem gemischten Chor ist unüberhörbar. Die einen singen das Hohelied einer sozialen Ordnung, die sich auf universell gültige Rechtsgrundsätze und die politischen Formen der Moderne gründet, die anderen preisen eine Ordnung nach Maßgabe des Koran. Die einen wollen das Volk als Souverän in den Schranken des Rechts, die anderen die absolute Macht einer Glaubensgemeinschaft. Allerdings lassen sich neuerdings bei den ägyptischen Muslimbrüdern oder der marokkanischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) Anzeichen einer veränderten Haltung zu Demokratie und Volkssouveränität beobachten. Doch Ideologien sind zählebig.

Die „Reformen“, die wir – unter dem Druck des Westens – seit fünfzehn oder zwanzig Jahren in den Ländern des Nahen Ostens erleben, haben nicht dazu geführt, dass wir uns unaufhaltsam vom Wirtschaftsliberalismus hin zu Modernisierung und Säkularisation bis schließlich zur Demokratie bewegen. Sie machten vielmehr ganz klar, dass es eine zwangsläufige Verbindung dieser Stadien nicht gibt.

Warum ausgerechnet die akademisch gebildeten Schichten sich heute in großen Teilen dem Islamismus zuwenden, ist nicht einfach zu erklären. Vielleicht, weil diese Bewegung zwei entscheidende Themen zu verbinden versteht: religiöse Identität und Stolz auf die eigene Kultur. Die Regime in der Region glaubten lange Zeit, die kulturellen Angelegenheiten könne man konservativen Religionsgelehrten überlassen, die es am besten verstünden, die Gesellschaft zu kontrollieren.

Nach all den Demütigungen, die der arabische Nationalismus hinnehmen musste – vor allem die Niederlage von 1967 und die nachfolgende Zusammenarbeit arabischer Staaten mit Israel; zuletzt die Eroberung des Irak –, konnten sich die religiösen Bewegungen im Gegensatz zu den mit Schande bedeckten Machthabern als die wahren Hüter der arabischen Kultur präsentieren. Daraus entstand eine merkwürdige, machtvolle, aber auch gefährlich hybride Ideologie. Die arabische Sprache weist eine lange und vielfältige Tradition großer Werke auf, aber heute schreiben viele gebildete Araber auf Englisch oder Französisch – nicht zuletzt, weil sie mehrsprachig aufgewachsen sind und weil sie wissen, dass es an guten Übersetzern aus dem Arabischen mangelt. Es ist auch ein Bekenntnis zum Laizismus, diese Sprachen zu benutzen. Die Jugendlichen in den arabischen Staaten suchen sich aus dem großen Strom der Weltkulturen zusammen, was sie kriegen können und erzeugen – im Internet wie im Alltag – ihre eigene lokale kulturelle Mischung. Wenn sie Dateien von YouTube herunterladen, ist auch das ein Bekenntnis zum Laizismus. Die religiösen Eiferer dagegen üben großen Druck aus, um die „Profanation“ der arabischen Sprache zu bekämpfen.

Ironischerweise schwächen gerade diese Bemühungen die Bedeutung des Arabischen im internationalen Kontext, der bestimmt ist von den sehr lebendigen Kulturen des Westens und des Fernen Ostens. Genau darum wäre es notwendig, dass unsere Wissenschaftler, Intellektuellen, Künstler und auch alle anderen, ganz normalen Leute die „profanen“ Formen dieser Sprache nutzen, um auf genau diese Weise an der großen Kraft und den Möglichkeiten der arabischen Sprache teilzuhaben.

Auch im Hinblick auf die Religion bedeutet die Verbindung von Islamismus und Nationalismus eine Verarmung. Zum einen liegt die Stärke des Islam darin, dass er, als die letzte große monotheistische Religion, Elemente weltlicher Ideologien rechter und linker Provenienz mit einem Heilsversprechen verbindet. Der Islam wendet sich gegen Individualismus und Konsumbegeisterung und betont die Werte der Gemeinschaft. Aber seine sozialen Ziele können, je nach Auslegung, sehr konservativ, strikt hierarchisch und ganz der Bewahrung von Ordnung und Tradition gewidmet sein. Aber zugleich richtet sich seine Botschaft an alle Menschen – und jede Bestrebung, den Islam ausschließlich an eine bestimmte (die arabische) Kultur zu binden, steht dieser universellen Dimension entgegen. Dass solche Tendenzen bestehen, zeigen zum Beispiel die Tiraden von al-Qaida gegen „die Perser“ oder die Anwürfe bestimmter Korangelehrter gegen „die Türken“.

Nationale Gründungsmythen und ethnische Ausgrenzung

Viele arabische Regime beziehen ihre Legitimation aus einem nationalen Gründungsmythos, in dem sie als Verteidiger der Nation oder Befreier von fremder Herrschaft erscheinen, manchmal auch als Verteidiger des Glaubens. Oft enthalten diese Geschichten einen Kern von Wahrheit: Viele Herrscherfamilien und regierende Parteien haben tatsächlich eine führende Rolle bei der Erringung oder Bewahrung der nationalen Unabhängigkeit gespielt. Doch die von den offiziellen Medien immer neu beschworenen „Einheitsmythen“ haben auch eine falsche Gleichsetzung von Regime und Gesellschaft bewirkt – nicht selten begeistert unterstützt von Intellektuellen, die glaubten, Dissidenz abwehren und Fügsamkeit bestärken zu müssen.

Aber in den großen Gründungsmythen fehlen immer welche: In Ägypten sind es die Kopten, in Marokko und Algerien die Berber, in anderen Ländern die Kurden oder die Schiiten. Die von der offiziellen Ideologie der Einheit verdeckten sozialen Spannungen existierten weiter und machten die Führung misstrauisch gegen das eigene Volk – an eine politische Öffnung war nicht zu denken. Manche autoritäre Regime gaben sich populistisch bis zur Verherrlichung des Staatsvolks, doch hinter der paternalistischen Fassade blieb die Arroganz sichtbar: Das Volk musste dankbar sein für die Unabhängigkeit und die Errungenschaften der Nation.

In den letzten zwanzig Jahren haben diese Ideologien der Einheit allerdings viel von ihrer Bindungskraft verloren. Heute müssen sich autoritär geführte Staaten mit einer Vielzahl neuer Gruppierungen auseinandersetzen, von denen jede mit etwas anderem unzufrieden ist. Es sind zu viele, um sie alle zu bestechen oder zum Schweigen zu bringen. Gleichzeitig misstrauen diese Gruppen einander zutiefst: Militante Arbeiter haben eben andere Vorstellungen von den dringlichsten notwendigen Veränderungen als die konservativen armen Bauern. Und den Unternehmern im industriellen Sektor fehlt das Verständnis für die Vorhaben der Geschäftswelt und der Experten, die mit internationalen Finanzinstitutionen zusammenarbeiten. Zu all diesen Differenzen kommt die Furcht vor dem radikalen Islamismus – die sogar von manchen Islamisten geteilt wird.

Die autoritären Regime haben gelernt, diese Uneinigkeit auszunutzen. Heute tritt die Staatsmacht nicht mehr mit dem Anspruch auf, über das unwissende gemeine Volk zu herrschen, sondern gibt sich als Verbündeter einer „gemäßigten“ Opposition gegen deren feindliche Brüder – die „Extremisten“.

Wie das funktioniert, zeigt sich in Ägypten. Im Rahmen ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik hat die Regierung die unter Nasser begonnene Landreform rückgängig gemacht und viele von ehemaligen Pächtern bewirtschaftete Grundstücke enteignet, um sie an Großgrundbesitzer zurückzugeben. Diese „Reform“ sollte eigentlich nur nach und nach umgesetzt werden, um den Bauern Zeit für die Umstellung zu geben, aber die Grundherren bezahlten Polizeikräfte dafür, die kleinen Landwirte sofort zu vertreiben.4 Eine Protestbewegung gegen die Vertreibungen formierte sich, und man hätte erwarten können, dass sich die Islamisten ihr anschließen. Die aber haben sich herausgehalten, denn an dieser Stelle waren sie mit Staatspräsident Mubarak einverstanden: Für sie waren Nassers Reformen einfach „Kommunismus“. So wurde die Hoffnung auf ernsthaften politischen Widerstand im Keim erstickt.

Das Szenario, „Extremisten gegen Gemäßigte“ ermöglicht den Regimen mehr taktische Raffinessen. Plumpe Wahlfälschungen sind nicht mehr nötig. Man kann mehr Oppositionsparteien zulassen, und die herrschende Partei begnügt sich mit 70 oder gar nur 60 Prozent der Stimmen statt der einst üblichen 90 Prozent. In den Medien, vor allem in der Presse, werden andere Meinungen zugelassen, auch wenn bei aller neuen Toleranz immer noch klare Grenzen des Erlaubten gelten. Man muss auch nicht mehr so viele Leute für so lange Zeit ins Gefängnis stecken – ausgenommen natürlich die „Extremisten“. Die Staatsmacht nutzt alle Mittel: Sie gründet ihre eigenen Medien und eigenen NGOs, sie simuliert eine Zivilgesellschaft nach eigenen Wünschen.

Es handelt sich um eine Inszenierung, eine Rationalisierungsmaßnahme im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung. Die autoritären Staaten haben keinen Wandel durch Demokratisierung erfahren, sie haben sich nur mit einigen Accessoires der Demokratie ausstaffiert. Wir erleben die Installation einer Version 2.0 der autoritären Herrschaft.

Geopolitik spielt eine wichtige Rolle bei dieser Entwicklung. Der Nahe Osten ist mit der Weltpolitik aufs engste verknüpft, seit US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der saudische König Abdelasis Ibn Saud 1945 ein geheimes Abkommen über Öllieferungen als Gegenleistung für Sicherheitsgarantien der USA schlossen. Nach dem Sechstagekrieg von 1967 ließen sich Ägypten und Jordanien auf eine Lösung der Palästinafrage durch Gründung eines Palästinenserstaats neben Israel ein; 1991 gelang es den USA, für die Verteidigung der Souveränität Kuwaits arabische Verbündete für die Militäroperation zu gewinnen, darunter Syrien; und in den folgenden Jahren drängte der Westen die arabische Welt zur politischen Öffnung und zur Umsetzung neoliberaler Wirtschaftskonzepte.

Ab 2001 allerdings drang die US-Regierung unter Präsident George W. Bush auf eine neue Lesart des Paktes: Im Nahen Osten sollte nicht länger Stabilität das oberste Ziel sein, sondern Demokratisierung, wenn nötig mit Gewalt. Einigen Regimen bereitete dieser Abschied von alten Prinzipien einige Probleme, aber in der arabischen Öffentlichkeit hatte man schnell verstanden, dass die plötzliche Begeisterung für Demokratie eigentlich nur als Tarnung für politische Eingriffsmöglichkeiten im Interesse der USA und Israels dienen sollte. Die Regime lernten die widersprüchlichen Signale aus dem Westen zu interpretieren und fassten neue Zuversicht. Es würde genügen, ein wenig Scheindemokratie zu installieren, sofern man seinen kleinen Beitrag zum „Krieg gegen den Terrorismus“ leistete und sich nicht allzu deutlich gegen die Interessen Israels und den Hegemonieanspruch der USA stellte.

Also übten sich die Machthaber in der neuen Politik des Lavierens: Dem Volk versicherten sie ihre Entrüstung über die ausländische Invasion, zugleich kooperierten sie mit den USA bei der Verhaftung von Islamisten, der illegalen Entführung von Terrorismusverdächtigen in ihre erprobten Folterkeller und dabei, den Widerstand gegen die „Umgestaltung“ der Region niederzuhalten.

Zum Arbeiten nach Frankreich, zum Kämpfen in den Irak

Die zunehmende Internationalisierung der Auseinandersetzung – die oft mit al-Qaida verbundenen Dschihadisten aus vielen Ländern gegen die von den USA gelenkten Regime – trägt zur Entmachtung und Lähmung der lokalen politischen Kräfte bei. Einerseits begrenzt die Globalisierung die ökonomischen Handlungsmöglichkeiten der Nationalstaaten und zwingt viele Bürger zur Auswanderung, um ihre materielle Existenz zu sichern. Zum anderen ist im Kontext des „Kriegs gegen den Terrorismus“ ein internationales imaginäres Schlachtfeld entstanden, auf dem sich die Kämpfer tummeln. Wer im eigenen Land keine Perspektive mehr hat, kann in Frankreich Arbeit suchen – oder zum Kämpfen in den Irak gehen. Viele der spektakulärsten dschihadistischen Anschläge wurden von Leuten aus dem Ausland verübt, und sie kamen oft aus Regionen, die vom Nahostkonflikt relativ unberührt geblieben waren – zum Beispiel aus Marokko.

Generell führt das soziale Elend zur Entpolitisierung: Entweder zur Resignation oder zur Radikalisierung. In Algerien kann man diese Entwicklung exemplarisch verfolgen. Zunächst war die Islamische Heilsfront (FIS) als Reformbewegung aufgetreten, dann rief die Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) zum Sturz des Regimes auf, und nun führt die noch radikalere „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (GSPC), die inzwischen als „al-Qaida im Maghreb“ auftritt, einen Kampf gegen die „Glaubensabtrünnigen“. Wer nicht außer Landes gehen kann, kämpft vor Ort, und das mit dem glaubhaft vorgetragenen Anspruch, einer internationalen Organisation anzugehören, auch wenn die Beziehungen der GSPC zu al-Qaida gespannt sein mögen. Das dschihadistische Netzwerk kann auf diese Weise seine Omnipräsenz beweisen, denn jeder kann ihr Vertreter sein. Umgekehrt kann jeder unzufriedene Muslim als potenzieller Terrorist verdächtigt werden. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ wird auf diese Weise in jeden Winkel getragen.

Man darf die Propaganda nicht für Wirklichkeit nehmen. Zweifellos gibt es weltweit Menschen, die gefährlich sind, bereit, zu töten und getötet zu werden, und einige von ihnen lassen sich von islamistischen Ideologien leiten.

Aber der „Krieg gegen den Terrorismus“ hat inzwischen Branchen hervorgebracht, die mit dem Terror Geschäfte machen und völlig überzogene Schreckensszenarien entwerfen.

Nach der Statistik von Europol gab es 2006 in Europa 500 Terroranschläge – nur einer davon (der scheiterte) wurde Islamisten zugeschrieben.5 Und eine neuere Studie aus den USA berichtet, dass es den Beamten des Transportation Security System bei sechs von zehn Versuchen gelang, Bombenattrappen durch die Sicherheitssysteme an Flughäfen zu schleusen, am Flughafen Los Angeles sogar bei drei von vier Versuchen.6 Dennoch hat es in den USA seit 2001 keinen einzigen Terroranschlag gegeben. Wenn tatsächlich hunderte dschihadistischer Zellen existierten, „Schläfer“, die bereit sind, jederzeit zuzuschlagen – dann müsste man das schon gemerkt haben.

Außerhalb von Kampfzonen sind gezielte islamistische Terroraktionen äußerst selten. Und dass in den Kriegsgebieten bisher unbekannte Taktiken des Widerstands und neue Organisationsformen auftauchen – darunter auch Ableger oder Nachahmer von al-Qaida – ist eine Folge der Invasion durch fremde Truppen. Alles Geld, alle Waffen und alle Unterdrückung der Welt können einen entschlossenen Selbstmordattentäter nicht aufhalten. Tatsächlich bestehen auch außerhalb der Kampfzonen ernste Gefahren, doch Polizei und Geheimdienste haben bewiesen, dass sie die Situation im Griff haben. Kurz gesagt: Das Ziel müsste es sein, den Terrorismus zu kriminalisieren, und nicht, den Dschihad zu politisieren.

Aber die Terrorismusbranche ist inzwischen integraler Bestandteil der Beziehungen zum Westen. Stiftungen und Thinktanks des Westens geben gewaltige Summen aus, um in der Nahostregion denen zu politischer und medialer Präsenz zu verhelfen, die zur Hysterie des „Kriegs gegen den Terrorismus“ beitragen. Die Sicherheit wird dadurch kein bisschen größer, nur die Angst. Gleiches gilt für alle die internationalen Kontrollmechanismen, die nur die autoritären Regime in ihrem Fortbestand unterstützen. Einst dienten nationalistische Argumente dazu, die Demokratisierung bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszuschieben, heute kommt die Furcht vor dem Terrorismus gerade wie gerufen.

In anderen Teilen der Welt ist die Demokratie zweifellos deshalb in die Krise geraten, weil sie nicht hielt, was sie versprach.7 Im Nahen Osten hat sie schon an Glaubwürdigkeit verloren, bevor sie eingeführt wurde. Schon der Begriff ist verrufen: In der Öffentlichkeit der arabischen Länder steht „Demokratie“ für die verlogenen Parolen autoritärer Regime, für das neokonservative Programm militärischer Präventivschläge und für die Interventionen des Auslands im Allgemeinen.

Sogar die NGOs sind diskreditiert. Manche von ihnen handeln inzwischen nach wirtschaftlichen Grundsätzen und haben zudem den Kontakt zur Wirklichkeit vor Ort verloren. Ihre Mitarbeiter orientieren sich an ihren Geldgebern im Westen – ihre Ziele und ihr Engagement sind irgendwann weniger wichtig als die Karriere. Und wenn eine NGO gute Arbeit leistet, heißt das nicht, dass sie Gehör findet: Das Carter Center hatte im Januar 2006 Beobachter zu den Wahlen in Palästina entsandt, aber die internationale Gemeinschaft ignorierte dessen Berichte über die weitgehend korrekt verlaufene Wahl. Sie verhängte Sanktionen, weil die Wähler sich mehrheitlich für die Hamas entschieden hatten. Die tragischen Folgen sind bekannt: Heute leben anderthalb Millionen Palästinenser im Gazastreifen im Belagerungszustand und müssen ums Überleben kämpfen.

Kaum jemand in der Nahostregion setzt noch Hoffnungen auf eine Demokratisierung. Die traditionellen Akteure des Wandels – Gewerkschaften, Oppositionspolitiker, Studenten – sind schwächer als je zuvor. Und die neuen Akteure – regionale und sprachliche Minderheiten, unabhängige Journalisten und Intellektuelle – haben bislang nicht zu einer gemeinsamen Form gefunden, die der langfristigen Politik der autoritären Machthaber etwas entgegensetzen könnte.

Überall gibt es einzelne Formen von Dissidenz, ob aber aus diesem wachsenden Widerstand eines Tages eine Bewegung zum Wandel entsteht, bleibt ungewiss. In Ägypten wie in Pakistan haben Richter und Anwälte sich mutig den Angriffen auf die Unabhängigkeit der Justiz entgegengestellt. In Marokko und Algerien setzen sich Journalisten für die Pressefreiheit ein.

Und überall in der islamischen Welt bemühen sich junge Korangelehrte, neue Verbindungen zwischen Islam, Demokratie und Moderne zu erfinden. Der autoritäre Staat, dem es bislang gelingt, Veränderungen abzufangen und an sich abgleiten zu lassen, ist keine perfekte und undurchdringliche Maschine. Die neuen Handlungsspielräume, die er sich zu seinen eigenen Gunsten geschaffen hat, bieten auch ein Feld für tatsächliche politische Aktivität. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts fanden die meisten erfolgreichen demokratischen Entwicklungen in den „hybriden“ autoritären Ländern statt.8

Um zu diesem Prozess der Veränderung beizutragen, muss die Botschaft des Fortschritts in die Begriffe der einzelnen Länder übersetzt werden. Wir müssen das Gefühl für unser gemeinsames Ziel wiederbeleben, das die Nation und den Islam umfasst, aber sich nicht auf sie beschränkt: eine Zukunftsvision, die auf die konkreten Bedürfnisse der Menschen eingeht, um sie in in die größeren Projekte Frieden und Demokratie einzubinden. Unterstützung aus Europa und den USA wird mit Dankbarkeit entgegengenommen, aber um der Demokratie im Nahen Osten eine Chance zu geben, müsste der Westen zunächst einmal die Probleme vor Ort ernst nehmen. Es hilft überhaupt nicht, „Demokratie“ zu predigen, solange geopolitische Interessen den Vorrang haben und nicht die Zusammenarbeit mit den fortschrittlichen Bewegungen in der Region.

Die Menschen brauchen Chancen und offene Perspektiven. Das ist ihre große Hoffnung. Das müssen die fortschrittlichen Kräfte aufgreifen und in konkrete Politik übersetzen. Nur so kann, in der Form wie in der Substanz, eine demokratische Ordnung entstehen.

Fußnoten: 1 Die Formulierung „Welle der Demokratisierung“ taucht erstmals bei Samuel Huntington auf: „The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century“, University of Oklahoma Press, 1991. US-Präsident George Bush legte am 11. September 1990 in einer Grundsatzrede seine Vision einer neuen Weltordnung dar. 2 Siehe dazu Guillermo O’Donnell und Philippe C. Schmitter, „Transitions from Authoritarian Rule: Tentative Conclusions about Uncertain Democracies“, Baltimore (Johns Hopkins University Press) 1986. 3 Siehe Shana Cohen, „Searching for a Different Future: The Rise of a Global Middle Class in Morocco“, Durham (Duke University Press) 2004. 4 Siehe Beshir Sakr und Phanjof Tarcir, „Landnahme am Nil“, Le Monde diplomatique, Oktober 2007. 5 „500 Terror Attacks in EU in 2006 – But Only 1 by Islamists“, Der Spiegel, 11. April 2007, www.spiegel. de/international/europe/0,1518,476599,00.html. 6 Thomas Frank, „Most fake bombs missed by screeners“, USA Today, 17. Oktober 2007, www.usa today.com/news/nation/2007-10-17-airport-securi ty_N.htm. 7 Siehe Larry Diamond, „The Democratic Rollback: The Resurgence of the Predatory State“, Foreign Affairs, New York, März/April 2008. 8 Siehe Steven Levitsky und Lucan Way, „The Rise of Competitive Authoritarianism“, Journal of Democracy (The Johns Hopkins University Press), Band 13, Nr. 2, April 2002, S. 51–65.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Prinz Hicham Ben Abdallah El Alaoui, Cousin des marokkanischen Königs Mohammed VI., ist Gastdozent am Center on Democracy, Development and the Rule of Law (Stanford University). Der vorliegende Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 11. März 2008 beim Conseil des relations internationales de Montréal.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2008, von Hicham Ben Abdallah El Alaoui