Zwei Verbrecher und ein Hexer
Armenien hat einen neuen Präsidenten und eine neue Opposition von Jean Gueyras
Am Abend des 1. März 2008 wurden bei den Protesten gegen vermutete Wahlfälschungen während der Präsidentschaftswahlen vom 19. Februar in Eriwan acht Menschen getötet. Außerdem soll es 133 Verletzte gegeben haben. Diese offiziellen Angaben konnten allerdings bisher schwer überprüft werden, da bereits in der Nacht zum 2. März der noch amtierende Präsident Robert Kotscharjan den Ausnahmezustand in der Kaukasusrepublik verhängen ließ. Deshalb unterlag die Presse einer strengen Zensur.1
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat die Regierung zur Klärung der Vorwürfe aufgefordert. Denn die Polizei soll bei den Großdemonstrationen international geächtete tödliche Waffen eingesetzt haben. Mehr als hundert Demonstranten wurden verhaftet; ihnen droht eine Anklage wegen „Aufwiegelung und versuchtem Umsturz“.
Als Serge Sarkissjan am 9. April sein Amt antrat, war das Land noch schwer gebeutelt von den Repressionen des zwanzigtägigen Ausnahmezustands. Sarkissjan hatte die Präsidentschaftswahlen vom 19. Februar mit 52,9 Prozent der Stimmen knapp für sich entschieden – doch danach büßte er so sehr an Glaubwürdigkeit ein, dass sein Wahlerfolg nachträglich zum Pyrrhussieg geriet. Aram Abrahamjan, Herausgeber der einflussreichen Tageszeitung Arawot (in Eriwan) macht dafür Sarkissjans Vorgänger, Freund und gleichzeitigen Rivalen Robert Kotscharjan verantwortlich: „Es war Kotscharjan, der das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten angeordnet hatte. Das hat Sarkossjans Ansehen enorm geschadet.“ Allerdings pflegen die beiden Gegner weiterhin gute Beziehungen.
Serge Sarkissjan stammt aus Berg-Karabach, jener autonomen Region, die als Enklave in Aserbaidschan liegt und deren armenische Bevölkerungsmehrheit 1991 ihre „Unabhängigkeit“ mit Waffengewalt erstritt. Damals wurde auch aserbaidschanisches Territorium besetzt. Sarkissjan war erst 1990 aus Karabach ins armenische „Mutterland“ gekommen. Kurz danach trat er der Regierung bei und war seitdem zweimal Verteidigungsminister und je einmal Innenminister und Minister für nationale Sicherheit. Und nach dem überraschenden Tod von Andranik Markarjan im März 2007 setzte ihn Staatschef Kotscharjan übergangsweise als Ministerpräsidenten ein.
Die Gang aus Berg-Karabach
Auch Robert Kotscharjan stammt aus Karabach. Seit Ende der 1980er-Jahre war er einer der politischen Köpfe der Karabach-Bewegung. 1994 wurde er der erste Präsident der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach. Und 1997 wurde er Ministerpräsident von Armenien. Gemeinsam sorgten er und sein Gefährte Sarkissjan für die Absetzung des Mannes, der ihnen die politische Karriere in Eriwan ermöglicht hatte: Lewon Ter-Petrossjan, der 1991 in direkter Wahl zum ersten Präsidenten der souveränen Republik Armenien gewählt worden war, wurde 1998 wegen seiner kompromissbereiten Haltung im Karabach-Konflikt zum Rücktritt gedrängt.2 Die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen von 1998 gewann Robert Kotscharjan.
Es heißt, dass Kotscharjan und Sarkissjan auch bei dem Massaker von 1999 die Hand im Spiel hatten: Am 27. Oktober 1999 waren fünf Männer mit automatischen Gewehren in eine Sitzung der Volkskammer gestürmt und erschossen acht Menschen, darunter die beiden einflussreichsten Politiker der damaligen Zeit: Ministerpräsident Wasken Sarkissjan, der wegen seiner Rolle im Krieg um Berg-Karabach wie ein Volksheld verehrt wurde, und den populären und charismatischen Parlamentspräsidenten Karen Demirdjan.3
Das Attentat vom 27. Oktober wurde einer Bande nationalistischer Extremisten zugeschrieben. Das Resultat glich allerdings einer Palastrevolution, die dem zuvor auf eine rein repräsentative Rolle festgelegten Staatsoberhaupt mehr politische Macht verlieh. Als zum Beispiel Generalstaatsanwalt Gagik Jahangirjan4 die Ermittlungen ausweiten wollte, um möglicherweise den Hintermännern auf die Spur zu kommen, wurde ihm der Fall umgehend entzogen. Und Aram Sarkissjan, der eine Woche nach dem Attentat in einem symbolischen Akt für seinen toten Bruder Wasken von Kotscharjan zum Ministerpräsidenten berufen worden war, wurde bereits ein Jahr später wieder abgesetzt. Während Serge Sarkissjan, der als Minister für nationale Sicherheit eigentlich in der Verantwortung stand, zum Verteidigungsminister aufstieg.
Vor zwei Jahren kam es zum ersten Mal zu Unstimmigkeiten unter den politischen Gefährten. Kotscharjan, der laut Verfassung nicht für eine dritte Amtszeit gewählt werden konnte, suchte einen gefügigen Nachfolger im Präsidentenamt, um dann als Ministerpräsident in spe alle Fäden in der Hand zu behalten. Doch Sarkissjan, der seit langem hoffte, die Präsidentschaft zu übernehmen, war für diesen Plan eines „Ämtertauschs“ nicht zu gewinnen.
Aus den Komplizen wurden Rivalen. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2007 traten sie erstmals gegeneinander an: Zunächst eroberte Verteidigungsminister Serge Sarkissjan in einer „freundlichen Übernahme“ die Republikanische Partei: Er trat ihr als einfaches Mitglied bei, ließ sich zu ihrem Vorsitzenden wählen und baute sie zur schlagkräftigen Wahlkampforganisation aus.
Kotscharjan setzte auf die Partei „Blühendes Armenien“, die er sich von seinem Freund Gagi Tsarukjan 2006 hatte gründen lassen. Tsarukjan, der im Volksmund „Dodi Gago“ (Blöde Kröte) genannt wird, ist Herr über rund 40 florierende Handelsunternehmen und besitzt ein Vermögen, das auf 500 Millionen Dollar geschätzt wird.
Trotz des zahlungskräftigen Wahlhelfers für Kotscharjan errang die Republikanische Partei von Sarkissjan am 12. Mai 2007 einen überwältigenden Sieg (64 von 131 Sitzen im Parlament) gegenüber der Partei Blühendes Armenien (24 Sitze). Da diese Wahlen als eine Art Vorwahlen für die Präsidentschaftswahlen im Februar 2008 angesehen wurden, musste der Staatschef wenigstens nach außen hin so tun, als würde er die Entscheidung der Wähler anerkennen: Sprecher der Regierung wie des Staatspräsidenten beeilten sich zu versichern, Sarkissjan sei der „favorisierte Kandidat“ des Präsidenten.
Der Erfolg von Sarkissjans Partei war nicht nur dem üblichen Wahlbetrug geschuldet, sondern auch dem Scheitern einer Opposition, die wie gelähmt war vom persönlichen Ehrgeiz ihrer Anführer. Einige hatten insgeheim sogar mit dem Ministerpräsidenten paktiert. Alles sah danach aus, als stünde Serge Sarkissjans sorgsam vorbereitetem Plan zur Eroberung der Staatsspitze nichts mehr im Wege.
So war es war für alle eine große Überraschung, als im September 2007 plötzlich Armeniens erster Präsident Lewon Ter-Petrossjan seine Kandidatur bekannt gab. Mit Petrossjan, der sich fast zehn Jahre lang völlig aus dem politischen Geschehen zurückgezogen hatte und sich nur noch seiner wissenschaftlichen Karriere widmete, hatte niemand mehr gerechnet.
Die Straße als einziges Forum
Freunde und Mitarbeiter hatten ihn schon länger dazu gedrängt, in die Politik zurückzukehren. Schließlich erklärte er sich dazu bereit, nach eingehender Prüfung der Lage eine Entscheidung zu treffen. Er unternahm eine mehrwöchige Rundreise durch das Land. Und gab danach bekannt, er wisse nun, wie unpopulär das herrschende Regime sei und dass man in der Bevölkerung seine Rückkehr in die Politik unterstützen würde. Also werde er als Präsidentschaftskandidat antreten – gegen eine „Verbrecherbande an der Macht“.
Da er von den staatlich kontrollierten Medien boykottiert wurde, äußerte er sich in zahlreichen öffentlichen Auftritten: Das schlimmste Vergehen der gegenwärtigen Führung sei es, zehn Jahre lang nichts unternommen zu haben, um das Karabach-Problem zu lösen. Ohne eine Regelung in dieser Frage könne sich Armenien nicht weiterentwickeln. Petrossjan erinnerte an seinen einstigen Kompromissvorschlag, der ihm zum Verhängnis geworden war. Er verwies auf die verpasste Gelegenheit, da inzwischen Aserbaidschan seine Ölförderung ausgebaut habe und daher immer weniger Konzessionsbereitschaft zeigen werde.
Und er äußerte sich auch zu einem besonders empfindlichen Thema – dem Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs: „Im Gegensatz zu Robert Kotscharjan halte ich es nicht für sinnvoll, dieses Thema zum Dreh- und Angelpunkt der armenischen Außenpolitik zu machen. (…) Die Türkei wird den Völkermord an den Armeniern irgendwann anerkennen, aber nur, wenn normale politische Beziehungen und ein Klima guter Nachbarschaft bestehen.“ Prompt verpasste ihm die Regierungspresse für diese angeblich türkenfreundliche Haltung den Beinamen „Lewon Efendi“. Doch Petrossjan setzte sogar noch eins oben drauf und meinte, dass sich Armenien nur dann zu einer modernen Nation entwickeln könne, wenn die Armenier endlich aufhören würden, sich immer nur als Opfer zu betrachten.
Seine öffentlichen Stellungnahmen – in hunderten Videos auf YouTube und tausenden DVDs festgehalten – klingen durchaus so, als würde er dem Duo Kotscharjan/Sarkissjan den Krieg erklären. Zum Massaker vom 27. Okto- ber 1999 sagte er etwa: „Dieses korrupte Regime hätte sich nicht durchsetzen können, wenn Karen Demirdjan und Wasken Sarkissjan nicht auf so tragische Weise ums Leben gekommen wären.“ Zu den wichtigsten Aufgaben des neuen Präsidenten gehöre die Suche nach den Auftraggebern des Mordes.
Petrossjan spricht aus, was man sich hinter vorgehaltener Hand in Armenien zuflüstert. Besonders hartnäckig kritisiert er „die Korruption, die wie ein Gift in alle Ebenen der Gesellschaft eingedrungen ist“, und „die gnadenlose Ausplünderung“ des Landes durch die Machthaber und Oligarchen, die sich die einträglichsten Wirtschaftssektoren untereinander aufteilen. Tatsächlich ist es dem früheren Präsidenten gelungen, nur durch die Macht des Wortes innerhalb weniger Monate eine Oppositionsbewegung von unten zu initiieren, der sich vor allem die Jugend angeschlossen hat.
So gab es vor der blutigen Niederschlagung vom 1. März elf Tage lang große friedliche Demonstrationen gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen. Aghwan Howsepjan, der mächtige Generalstaatsanwalt, hat Petrossjan unfreiwillig ein Kompliment gemacht, als er ihm vorwarf, die Massen „hypnotisiert“ zu haben. Er meinte das wörtlich und soll sogar mit einer Anklage wegen Hexerei gedroht haben.
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Proteste wollte Sarkissjan unbedingt im ersten Wahlgang den Sieg davontragen, um die Unwägbarkeiten eines zweiten Wahlgangs auszuschließen. So kam es zu noch mehr Fälschungen und Einschüchterungsversuchen.
Entgegen den Erwartungen waren die OSZE-Wahlbeobachter entweder nicht bereit oder in der Lage, festzustellen, in welchem Ausmaß es zu Unregelmäßigkeiten gekommen war. Sie begnügten sich mit dem Hinweis, man habe zwar „einige Verstöße“ beobachtet, doch könnten sie keinesfalls entscheidenden Einfluss auf das Wahlergebnis gehabt haben.
Diese vagen Formulierungen konnte man von der OSZE nach jeder Wahl in den letzten zehn Jahren hören. Seltsamerweise hinderte sie das nicht daran, zu behaupten, es dürfe nichts unternommen werden, was die kleinen Schritte Armeniens auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie gefährden könne.
Unter seinem neuen Präsidenten droht Armenien eine Ära der Instabilität. Jene von Lewon Ter-Petrossjan ins Leben gerufene „Zivilgesellschaft, die keine Angst mehr zeigt“ wird nicht so leicht Ruhe geben. Man wird sehen, ob Präsident Sarkissjan die Klugheit und das Geschick haben wird, mit der neuen Opposition in einen Dialog einzutreten.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Jean Gueyras ist Journalist und berichtete für Le Monde über den Nahen Osten.