09.05.2008

Der große Ruin

zurück

Der große Ruin

Die wahren Kosten des Irakkriegs von Joseph Stiglitz und Linda Bilmes

Der Einmarsch in den Irak hat weitreichende globale Folgen. Die Hauptlast hat natürlich der Irak zu tragen, aber da die dortige Zentralregierung in den meisten Bereichen zusammengebrochen ist, sind verlässliche Zahlen schwer beizubringen.

Vor dem Einmarsch war der Irak eine Diktatur, die vielen Einwohnern erbärmliche Lebensverhältnisse bot. Trotzdem hatte das Land zehn Jahre lang strenge Sanktionen überlebt; es war zwar zerrüttet, aber dennoch existenzfähig. Fünf Jahre nachdem die USA den Irak mit dem erklärten Ziel besetzten, das irakische Volk zur Demokratie zu führen, hat der Krieg im Grunde die Wirtschaft, die Gesellschaft und die Souveränität des Landes zerstört.

Global gesehen stellt die Verteuerung des Öls seit Kriegsbeginn alle anderen ökonomischen Kosten weit in den Schatten. In unserem „realistischen“ Szenario veranschlagen wir den Anteil des Irakkriegs am Steigen des Ölpreises auf zehn Dollar pro Barrel. Damit würden sich die gesamten makroökonomischen Folgekosten für die Weltwirtschaft auf etwa 1,1 Billionen Dollar belaufen. Auf menschlicher Ebene sind der Verlust von Leben und die Zerstörung der irakischen Gesellschaft die erschütterndste Bilanz. Unterdessen steigen die Kosten für das irakische Volk und dessen Wirtschaft wie für die übrige Welt weiter an.

Für die meisten Iraker ist das Alltagsleben inzwischen unerträglich geworden, und zwar so sehr, dass alle, die es sich leisten können, ihre Heimat verlassen haben. Bis September 2007 hatten nicht weniger als 4,6 Millionen Menschen – jeder siebte Iraker – ihren ursprünglichen Wohnorten den Rücken gekehrt. Dies ist die größte Migration im Nahen Osten seit der Gründung Israels 1948.1

Die Hälfte dieser Iraker – vor allem Frauen und Kinder – sind aus dem Land geflohen. Millionen Menschen haben vorübergehend Zuflucht in Syrien, Jordanien und anderen Nachbarländern gefunden. Die Iraker stellen auch die überwiegende Zahl der Asylsuchenden in Europa.

Der Krieg im Irak bedeutete einen schweren Schlag für die Wirtschaft des Landes, die bereits vor dem Einmarsch der Amerikaner erhebliche Schwierigkeiten zu bewältigen hatte. Der Irak hatte acht Jahre lang einen erfolglosen Krieg gegen den Iran geführt und im Golfkrieg von 1991 eine beschämende Niederlage einstecken müssen. Das Embargo auf irakisches Öl, das die Vereinten Nationen und die USA nach dem Ende des Ersten Golfkriegs 1991 verhängten, hatte ebenfalls seinen Tribut gefordert. Im Jahr 2001 war das irakische Bruttoinlandsprodukt (kaufkraftbereinigt) um 24 Prozent niedriger als zehn Jahre zuvor.2 Wie in vielen anderen Nahostländern wurde die irakische Wirtschaft überwiegend vom Öl beherrscht, das fast zwei Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmachte.3 Das Land verfügte über eine gesunde Mittelschicht, die meisten Iraker hegten große Hoffnungen und versprachen sich einiges von der Zukunft, sobald ihr Land von der Bürde des Embargos befreit worden wäre.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass das reale Bruttoinlandsprodukt des Irak nicht höher als 2003 ist, obwohl sich der Ölpreis beinahe vervierfacht hat, dass mindestens jeder vierte Iraker arbeitslos ist und dass in Bagdad nur neun Stunden am Tag Elektrizität verfügbar ist – weniger als vor dem Krieg.4 Wenn im Sommer in Bagdad – außerhalb der „Grünen Zone“, wo die Besatzungsbehörden residieren – Temperaturen von weit über 50 Grad Celsius herrschen, ist das Leben schier unerträglich. Die Ölexporte sind zurück gegangen und liegen noch immer unter Vorkriegsniveau.5

Die wirtschaftliche Misere ist natürlich nur ein integraler Bestandteil des allgemeinen Debakels, in dem sich der Irak befindet. Sie ist zugleich Ursache und Folge; sie hat zu den Unruhen beigetragen, und die instabile Lage hat sich verheerend auf die Wirtschaft ausgewirkt. In einigen Orten schreitet die Zerstörung schneller voran als der Wiederaufbau. Etwa 59 Prozent der Iraker bezeichnen ihre derzeitige wirtschaftliche Lage als „schlecht“ und nur 11 Prozent als „gut“ oder „ausgezeichnet“.6 Weil die von den USA gestützte Regierung keine Arbeitsplätze und keine sicheren Einkommen bieten konnte, hat sie die geringe Akzeptanz, die sie überhaupt genossen hat, zu Recht eingebüßt. Schlimmer noch, die USA haben eine explosive Mischung aus hoher Arbeitslosigkeit unter Männern im Alter von 18 bis 35 Jahren und leichtem Zugang zu Waffen geschaffen.

Und da keine ausreichende Sicherheit gewährleistet wird, erweist sich der Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft als nahezu unmöglich. Ihr Verfall ist aber auch die Folge einer grundlegend falschen ökonomischen Strategie. Viel Aufmerksamkeit fanden die größeren militärischen und politischen Fehler der Regierung Bush, besonders während der entscheidenden Tage zu Beginn der Besatzung. Zu wenig Aufmerksamkeit schenkte man den mangelhaften Strategien zum Wiederaufbau der irakischen Wirtschaft.

Noch bevor das Land stabilisiert und ein gewisser Fortschritt beim Wiederaufbau erzielt worden war, versuchten die Vereinigten Staaten, die freie Marktwirtschaft im Irak einzuführen. Im September 2003 erließ Paul Bremer Gesetze, mit denen viele Einfuhrzölle abgeschafft und die Unternehmens- und die Einkommensteuer auf 15 Prozent gesenkt wurden.7 Wiederholt wurde auch davon gesprochen, staatliche Industrien zu privatisieren, obwohl es einer Besatzungsmacht gemäß der Haager Konvention von 1907 („Haager Landkriegsordnung betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs“) untersagt ist, die Wirtschaftsgüter eines Landes zu veräußern.8 Dieser Privatisierungsplan gehörte von Anfang an zum Mantra der Regierung Bush.

Die Privatisierungen im Irak verstoßen gegen internationales Recht

In seinem Buch „Imperial Life in the Emerald City“ schildert Rajiv Chandrasekaran von der Washington Post, wie der republikanische Parteispender Thomas Foley, der 2003 mit der Leitung der Entwicklung der Privatwirtschaft im Irak beauftragt wurde, damit prahlte, er werde innerhalb von dreißig Tagen sämtliche irakische Staatsunternehmen privatisieren. Auf den Einwand, dies widerspreche dem internationalen Recht, erwiderte Foley: „Das ist mir scheißegal. Ich pfeife auf internationales Recht. Ich habe mich gegenüber dem Präsidenten verpflichtet, die Unternehmen des Irak zu privatisieren.“9

Der Nutzen von Privatisierungen und freien Märkten in Transformationsländern ist umstritten. Doch Foley und andere Gleichgesinnte haben nicht erkannt, dass, solange der Irak nicht stabilisiert sein würde, jeder Käufer irakischer Betriebe und sonstiger Vermögenswerte Tiefstpreise bezahlen und die Firmen dann ausschlachten würde, anstatt längerfristig zu denken und trotz der riskanten Lage in das Unternehmen zu investieren. Und gerade als die irakischen Firmen am meisten Unterstützung brauchten, wurden sie durch Washington dem freien Wettbewerb ausgesetzt, ohne durch Schutzzölle im Geringsten abgeschirmt zu sein. Die US-amerikanische Wirtschaft hätte so etwas nie hingenommen. Die vorausgesagten Folgen traten denn auch umgehend ein. Es gab wenige ausländische Direktinvestitionen, außer in der Ölindustrie, und viele heimische Unternehmen konnten gegen die Flut von Importen nicht konkurrieren und mussten dichtmachen, was zu einer noch höheren Arbeitslosigkeit führte.

Das Finanzministerium in Washington trug zu diesem Debakel bei, indem es eine strenge Geldpolitik durchsetzte. Eine Flut von US-Dollar, die das Land überschwemmte, sorgte für Engpässe in bestimmten Bereichen der Wirtschaft. Die Preise stiegen. Das US-Finanzministerium reagierte auf fast mechanische Weise, indem es den Irakern nahelegte, die Zinsen zu erhöhen und die Kreditvergabe zu beschränken.

Der Irak litt jedoch keineswegs unter einer Kreditschwemme. Mitarbeiter der USAID, der staatlichen US-Entwicklungsbehörde, hatten sich lange bemüht herauszufinden, wie man die mittelständische Wirtschaft ankurbeln und dadurch Arbeitsplätze schaffen könnte. Sie stellten fest, dass ein großes Hindernis das unzureichende Kreditangebot war, und entwickelten deshalb einen Teilbürgschaftsplan, damit auch die mittelständische Wirtschaft an Kredite kam und auf diese Weise zur Schaffung von Arbeitsplätzen beitragen würde. Aber während ein Teil der US-Regierung versuchte, die irakische Wirtschaft durch die Bereitstellung von Krediten zu beleben, drehte ein anderer Teil aus Angst vor einer „Überhitzung“ den Kredithahn zu – obwohl die Arbeitslosenquote zwischen 25 und 40 Prozent lag.

Die Strategie Washingtons, sich auf private Auftragnehmer zu verlassen, trug ebenfalls ungewollt dazu bei, dass der Wiederaufbau des Irak scheiterte. Das US-Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge verlangt, dass (außer unter bestimmten Bedingungen) amerikanische Unternehmen beauftragt werden. Im Irak floss daher der Großteil der amerikanischen Gelder für den Wiederaufbau an teure US-Firmen, statt billigen einheimischen Arbeitskräften zugutezukommen. Der kalifornische Kongressabgeordnete Henry Waxman wies darauf hin, dass nichtirakische Unternehmer 25 Millionen Dollar für den Neuanstrich von zwanzig Polizeistationen in Rechnung stellten – einen Auftrag, den heimische Firmen dem Gouverneur von Basra nach für 5 Millionen Dollar ausgeführt hätten.10 Mit dieser Vergabepolitik wurden nicht nur Gelder verschwendet, sondern auch die Ressentiments der Iraker geschürt.

Es ging jedoch nicht nur um Ressentiments. Es wäre im Interesse der USA gewesen, Jobs für die vielen arbeitslosen jungen irakischen Männer zu schaffen (zumal viele von ihnen im Besitz von Waffen waren, nachdem Saddam Husseins Armee aufgelöst worden war – zornige bewaffnete junge Männer, die sich leicht für einen Aufstand gewinnen ließen). Zu einem gewissen Zeitpunkt nach der Invasion war mehr als die Hälfte der irakischen Männer ohne Beschäftigung. Sie bettelten förmlich um Arbeit. Doch die US-amerikanischen Privatfirmen waren bestrebt, ihre Arbeitskosten zu minimieren, und holten Arbeitskräfte aus Nepal und anderen Niedriglohnländern, die noch billiger waren als die Iraker.

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die Interessen der privaten Auftragnehmer in direktem Widerspruch zu den nationalen Interessen der USA standen, die darin hätten bestehen sollten, rasch Arbeitsplätze zu schaffen und die wirtschaftliche Stärke des Irak wiederherzustellen.

Es hätte noch schlimmer kommen können, falls die US-Regierung mit ihren Plänen für eine Liberalisierung und Privatisierung erfolgreicher gewesen wäre. Doch wie in so vielen anderen Bereichen ihrer Irakpolitik scheiterte die amerikanische Regierung nicht nur mit ihren Konzepten, sondern auch mit deren Umsetzung. Die Besatzungsgesetze versperrten den wichtigsten Bereich der US-Privatisierungspläne – die Ölbranche.

Niemand – kein Ausländer und auch kein Iraker – betrachtet das Land als sicheren Investitionsstandort.11 Solange diese Unsicherheit anhält, bleiben die Aussichten für die wirtschaftliche Zukunft des Irak düster. Dabei kann man sich Szenarien vorstellen, nach denen die irakische Wirtschaft ein starkes Wachstum erfahren hätte.

Nehmen wir etwa unsere „konservative“ Berechnung ernst, wonach mindestens 35 von den 90 Dollar, die Ende 2007 ein Barrel Öl kostete, auf die gestiegene Nachfrage Chinas und anderer Länder zurückzuführen sind. Gewiss hätte die Weltgemeinschaft dann mit einem „Deal“ reagieren können, der es dem Irak ermöglicht hätte, seine Produktion erheblich auszuweiten, mit einem Teil des Geldes seine Schulden zu tilgen und mit einem anderen Teil die Lebensmittel- und die medizinische Versorgung im Irak zu sichern. Höhere Ölpreise und eine höhere Produktion hätten in diesem Fall zu einem Boom in der irakischen Wirtschaft geführt statt zu dem derzeitigen Desaster.

Wir haben uns der ehrgeizigen Aufgabe, den Schaden für die irakische Wirtschaft zu errechnen, gar nicht erst gestellt. Auch diese Berechnung hinge von kontrafaktischen Überlegungen ab – was wäre, wenn es keinen Krieg gegeben hätte? Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass man sich – unabhängig davon, welche Annahmen man zugrunde legen mag – kaum eine trostlosere Situation vorstellen kann als jene, die zur Zeit herrscht.

Fußnoten: 1 UN-Flüchtlingskommissariat, „UNHCR Doubles Budget for Iraq Operations“, Pressemitteilung vom 12. Juli 2007, www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/media?page=home&id=469630434. 2 Gesamtbericht des Sonderberaters an den Direktor der CIA über Iraks Massenvernichtungswaffen vom 30. September 2004, S. 207, www.cia.gov/library/reports/general-reports-1/iraq_wmd_2004/index.html>. 3 O’Hanlon und Campbell, Iraq Index, 3.Dezember 2007, S. 40. 4 Landesweit sieht die Lage etwas besser aus; vor dem Krieg gab es nur 4 bis 8 Stunden Strom, im November 2007 dagegen bis zu 12,9 Stunden (nach Iraq Index, S. 36). Die aktuellsten Zahlen zur Arbeitslosigkeit stammen aus dem Iraq Index (Anmerkung 3), der weiterhin eine Arbeitslosenquote von 25 bis 40 Prozent ausweist. Auf Basis von Daten der „Economist Intelligence Unit“ schätzen wir den Rückgang von 2002 bis 2006 auf 13 Prozent; der IWF schätzt den Rückgang nur auf 8,3 Prozent. 5 Iraq Index, S. 34. 6 Iraq Index, S. 53. 7 Alan Beattie und Charles Clover, „Surprise Revamp for Iraq’s Economy“, in: The Financial Times, 22.September 2003, S. 1. Die plötzliche Privatisierung und Liberalisierung einer Volkswirtschaft wird auch als „Schocktherapie“ bezeichnet. 8 Die irakische Verfassung sah etwa vor, dass gewisse Teile der irakischen Wirtschaft nur eingeschränkt in ausländischen Besitz gelangen durften und wichtige Dienstleistungsbereiche gar nicht privatisierbar seien. Bremers neues Gesetz erlaubte jedoch die vollständige Übernahme staatseigener irakischer Firmen und Wirtschaftsgüter durch ausländische Eigentümer. 9 Rajiv Chandrasekaran, „Imperial Life in the Emerald City: Inside Iraq’s Green Zone“, New York (Knopf) 2006, S. 126. 10 Linda Bilmes, „Civil Service Has Morphed into U. S. Inc.“, in: The Los Angeles Times, 18. Juli 2004, S. M 1. 11 Angesichts des hohen Ölpreises besteht natürlich großes Interesse, in irakische Ölfelder zu investieren, andererseits sind die Ölkonzerne offensichtlich bereit, fast überall auf der Welt Produktionsstätten zu errichten, solange sie das Öl billig genug einkaufen können. Das Risiko gehen sie bereitwillig ein. Dies sollte nicht als Anzeichen wirtschaftlichen Erfolgs angesehen werden. Gekürztes Kapitel aus: Joseph Stiglitz und Linda Bilmes, „Die wahren Kosten des Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Konflikts“, Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt, München (Pantheon Verlag) 2008. Das Buch erscheint am 26. Mai. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. Joseph E. Stiglitz, Professor für Volkswirtschaft, erhielt 2001 den Nobelpreis für Wirtschaft. Er lehrt heute an der Columbia University in New York. Linda Bilmes lehrt Finanzwirtschaft an der Kennedy School of Government in Harvard und schreibt regelmäßig für die New York Times und den Atlantic Monthly.

© Pantheon Verlag, München und Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.05.2008, von Joseph Stiglitz und Linda Bilmes