Aufklärer und Barbaren
Lektüren zur Geschichte der Sklaverei von Alain Gresh
In Voltaires Trauerspiel „Alzire oder Die Americaner“ (1736), dessen Handlung im 16. Jahrhundert in Peru angesiedelt ist, ruft ein „Americaner“ sein von den Spaniern versklavtes Volk zum Widerstand auf: „Die Arbeit unsrer armen Brüder, die hier die Sclaven-Kette preßt, / Macht zwar den Feinden, die sie zwingen, selbst die verhasste Zuflucht fest, / Mit einer Hand, die durch Gewalt in Niedrigkeit und Banden lieget, / Erbauen Sie der Tyrannen den Thron, worauf ihr Hochmuth sieget; / Doch glaube mir, kaum wird ihr Auge die Ankunft seiner Rächer sehn, / So wird die Krafft in ihren Händen sich wider ihre Herren drehn! / Gewiß sie werden selbst sodann dies fürchterliche Werk zerstören, / Krafft dessen sie bis diesen Tag die Zahl beschimpfter Sclaven mehren!“1
Voltaires Drama ist voller Empathie für das Schicksal der Sklaven aus der „Neuen Welt“, wie die spanischen Konquistadoren Südamerika nannten. Auch Joseph Mosneron, ein Sklavenhändler aus Nantes, der sich 1766 an Bord der „Comte d’Hérouville“ das Stück ansah, war von den Versen tief ergriffen – obwohl die Inka-Prinzessin Alzire von einem kräftigen Matrosen gespielt wurde. Während oben an Deck Voltaires Drama aufgeführt wurde, hockten unten im Frachtraum zusammengepfercht hunderte afrikanische Sklaven, die in die Karibik gebracht werden sollten.
Wie ist diese Schizophrenie zu erklären? Sie ist bereits in Voltaires Stück selbst angelegt: „Alzire“ hat zwar die Versklavung der „Americaner“ zum Thema. Der seinerzeit blühende transatlantische Handel mit Afrikanern findet jedoch keinerlei Erwähnung. In seinem soeben erschienenen Buch „The French Atlantic Triangle“ schildert der in Texas lehrende Historiker Christopher L. Miller die Episode auf der „Comte d’Hérouville“ und erklärt: „Die Seefahrer – und meiner Meinung nach auch Voltaire selbst – konnten das vollkommen unabhängig voneinander betrachten und sich einerseits vom Schicksal einer peruanischen Prinzessin rühren lassen, während andererseits unter ihren Füßen Afrikaner in Ketten lagen, auf die, falls sie die Überfahrt überlebten, ein Leben in der Sklaverei wartete.“2
Dieser Widerspruch verkörperte sich in der Person Joseph Mosnerons: Er handelte mit Sklaven und las, wie viele seiner Zeitgenossen, Jean-Jacques Rousseau und andere Aufklärer. Diese prangerten zwar die Ausrottung der Indianer durch die katholisch fundamentalistische Großmacht Spanien an.3 Doch an den stolzen Schiffen, die mit ihrer Ladung „Ebenholz“ von Bordeaux oder Nantes aus in See stachen und Namen wie „Le Voltaire“ oder „Le Contrat social“ trugen, hatten sie nicht viel auszusetzen.
Das Jahrhundert der Aufklärung, deren Vertreter gegen Königtum, Absolutismus und Kirche aufbegehrten, war zugleich das Jahrhundert der maximalen Ausbreitung des Sklavenhandels. Bis dieses „Geschäft“ 1831 endgültig verboten wurde – die Abschaffung der Sklaverei selbst erfolgte 1848 –, hatte Frankreich insgesamt fast 1,1 Millionen afrikanische Sklaven in seine Kolonien Guadeloupe, Martinique, l’Île de Bourbon (La Réunion), l’Île de France (Mauritius) und vor allem nach Saint-Domingue (Haiti) verschleppt. 90 Prozent der insgesamt über eine Million Sklaven wurden im 18. Jahrhundert deportiert, davon 270 000 in den 1780er-Jahren.
Menschenverachtend, aber salonfähig
Der Sklavenhandel entwickelte sich unmerklich zu einer französischen Angelegenheit. In einem Edikt vom 3. Juli 1315 hatte Louis X. die Sklaverei in seinem Königreich eigentlich verboten.4 Als im 16. Jahrhundert in den Kolonien verstärkt Arbeitskräfte gebraucht wurden, beutete man zunächst die lokale Bevölkerung aus. Nur wenige überlebten die harten Bedingungen. Darüber hinaus wurden in Frankreich sogenannte Freiwillige für die Arbeit in den Kolonien angeheuert, die sich aus purer Not auf die Arbeit fern der Heimat einließen. Sie unterschrieben Verträge mit einer Laufzeit von drei Jahren und wurden kaum besser behandelt als die „Neger“. Dass Rassismus sich aus derselben Quelle speist wie die Verachtung für die unteren Klassen, zeigt etwa die anonyme Streitschrift von 1797: „Von der Notwendigkeit, in Frankreich die Sklaverei einzuführen“.5 Hier wird argumentiert, dass es vor allem darauf ankomme, Arme und Bedürftige in Arbeit zu bringen.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts veränderte sich die Situation allmählich. Der Nachschub an „Freiwilligen“ nahm beständig ab, da sich inzwischen herumgesprochen hatte, wie hart das Leben in den Kolonien war. Zugleich wurde der lukrative und arbeitsintensive Anbau von Zuckerrohr weiter ausgebaut – so dass Frankreich mit einiger Verspätung denselben Weg einschlug wie zuvor Spanien und Portugal.
Nun begann der transatlantische Dreieckshandel zwischen Frankreich, Afrika und der Karibik. Die mit Schießpulver, Schnaps, Stoffen und anderem beladenen Schiffe segelten von Frankreich nach Afrika. Hier wurden die Waren gegen Sklaven eingetauscht. Nach kurzer Liegezeit steuerten die Schiffe die Kolonien in der Karibik an, die im Austausch gegen die Arbeitskräfte den beim Adel heiß begehrten Zucker lieferten. Trotz heftiger Debatten über die sich ausbreitende Sklaverei, schreibt Miller, „war während des ganzen 18. Jahrhunderts das intellektuelle Klima in Frankreich für die Sklavenhändler nicht sonderlich unangenehm, auch wenn der Abolitionismus (die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei) Gestalt anzunehmen begann“.
Der Schriftsteller und Staatstheoretiker Baron de Montesquieu widmete Buch XV seines Hauptwerks „Vom Geist der Gesetze“ (1748) ganz dem Thema Sklaverei. Doch handelt es sich hierbei eher um historische Betrachtungen über Griechenland und Rom. In einem kurzen, ironischen Kapitel thematisiert er zwar den Handel mit Schwarzen, rechtfertigt dann aber ein paar Seiten später die Sklaverei mit Verweis auf die klimatischen Unterschiede zwischen Afrika und Europa. Und er warnt vor ihrer voreiligen Abschaffung. Nach Millers Einschätzung wollte „Montesquieu die Sklaverei von einer Ecke des Dreiecks (nämlich aus Frankreich und somit, allgemeiner gesprochen, aus Europa) verbannen, sie aber in Afrika und der Karibik durchaus beibehalten. Heute würde man sagen, dass er sich die Sklaverei für den Norden nicht vorstellen konnte, für die Länder des Südens aber sehr wohl.“
Auch bei Jean-Jacques Rousseau findet sich nur in der „Neuen Héloïse“ (1761) eine Bemerkung über den Sklavenhandel mit Schwarzen. Und im „Gesellschaftsvertrag“ (1762) heißt es: „Ihr, moderne Völker, ihr habt keine Sklaven, aber ihr seid Sklaven.“ Dazu konstatiert Miller: „Die Menschen, die im Wortsinne in Ketten liegen, kommen in Rousseaus Denken gar nicht vor.“ Erst mit Mirabeau, Bernardin de Saint-Pierre und der „Histoire des deux Indes“ des Abbé Raynal, die 1770 anonym in Amsterdam veröffentlicht wurde und an der auch Denis Diderot mitgeschrieben hatte, geriet die Unmenschlichkeit des Sklavenhandels deutlicher in die Kritik. Die gesellschaftliche Gleichstellung der Sklaven blieb gleichwohl in weite Ferne gerückt.
Die Engländer protestierten entschiedener
Bei einer derart zaghaften Kritik ist es nicht verwunderlich, dass der Abolitionismus in Frankreich weniger verbreitet war als in England. Die Historikerin Françoise Vergès hält fest, dass „das Volk während der Französischen Revolution nicht gegen die Sklaverei aufbegehrt hatte. Verglichen mit den 102 abolitionistischen Petitionen, die 1788 an das englische Parlament ergingen, oder mit den 20 000 Unterschriften, die 1791 im Sklavenumschlagplatz Manchester (die Stadt hatte damals 75 000 Einwohner) gesammelt wurden, waren etwa die ‚Cahiers de Doléances‘ aus dem Dorf Champagney, in denen ein Ende der Sklaverei gefordert wurde, nicht mehr als eine Geste.“6
Während der Abolitionismus in Frankreich eine „humanitäre Bewegung war, die von einer Elite getragen wurde“, war sie in England, wo 1791 fast 13 Prozent der (männlichen) Bevölkerung Petitionen gegen die Sklaverei unterzeichneten, eine regelrechte Volksbewegung.
Millers Buch, dessen Untertitel ankündigt, die „Literatur und Kultur des Sklavenhandels“ zu untersuchen, macht nicht bei den Aufklärern halt. Vielmehr nimmt es die Repräsentanten der drei großen literarischen Strömungen in den Blick, die sich von 1800 bis heute mit dem Thema auseinandergesetzt haben: die Schriftstellerinnen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, wie Olympe de Gouges, Madame de Staël oder Claire de Duras, die zwar ihr Mitgefühl zum Ausdruck brachten, doch noch den zeitgenössischen Vorurteilen über „Neger“ anhingen; die Romanciers der nachrestaurativen Ära um 1830, wie Prosper Mérimée, Eugène Sue, Baron Roger oder Edouard Corbière, die mehr an abenteuerlichen Seefahrergeschichten interessiert waren als daran, Missstände zu kritisieren; und im 20. Jahrhundert sind es schließlich die karibischen Autoren wie Aimé Césaire7 , Edouard Glissant8 oder Maryse Condé9 , die die Geschichte des Sklavenhandels neu lesen. Sie wollen die Trennung zwischen Schwarz und Weiß überwinden und prägen das Konzept der „Kreolisierung“, der Vermischung von europäischen, afrikanischen und karibischen Sprachen und Kulturen.
Miller will nicht nur offenlegen, was uns all diese Bücher über den Sklavenhandel verraten. Er lässt auch die historischen Protagonisten mit den Autoren von heute in eine Art Dialog treten: Prosper Mérimée (1803–1870) trifft auf Edouard Glissant (1928 auf Martinique geboren), und Voltaire (1694–1778) trifft auf Aimé Césaire, der 1913 auf Martinique geboren wurde und dort am 17. April 2008 starb.
Miller versucht nachzuvollziehen, wie der kulturelle Austausch zwischen den am Dreieckshandel beteiligten Ländern konkret aussah. So wurde etwa „Alzire“, das eingangs erwähnte Theaterstück von Voltaire, zwischen 1765 und 1782 regelmäßig in Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, aufgeführt. Sklaven und Mulatten waren zwar auf die hinteren Plätze verwiesen, durften aber zuschauen. Anders als der Dichter Voltaire und der Sklavenhändler Mosneron werden diese Zuschauer das dargestellte Schicksal der kolonisierten Südamerikaner jedoch mit Sicherheit auf ihre eigene Situation bezogen haben. Die Ideen der Aufklärung hatten in Saint-Domingue sehr konkrete Auswirkungen: Zwischen 1778 und 1820 bekamen achtzig Sklavinnen den Vornamen Alzire. Und Toussaint Louverture (1743–1803)10 , der selbst erst Sklave war und 1793 auf Haiti zum Sklavenbefreier wurde, hatte die „Histoires des deux Indes“ des Abbé Raynal gelesen, der die Ankunft eines „schwarzen Spartakus“ vorausgesagt hatte.
In den 1780er-Jahren, als Olympes de Gouges und Madame de Staël ihre Romane und Stücke über die Sklaverei veröffentlichten, begann in Frankreich und Großbritannien ein intellektueller Feldzug gegen den Sklavenhandel und die Kolonien. Getragen wurde er von einer Generation liberaler Denker, wie dem schottischen Moralphilosophen Adam Smith (1723–1790) oder dem irischen Schriftsteller und Politiker Edmund Burke (1729–1797). Sie fragten sich, ob die koloniale Metropole nicht die Prinzipien des freien Marktes verletze, wenn sie ihre überseeischen Kolonien zwinge, die eigenen Erzeugnisse ins Mutterland zu exportieren, um umgekehrt von dort ihren Grundbedarf zu beziehen. Obwohl sie den freien Warenaustausch und die zentrale Bedeutung des Marktes weiterhin propagierten, verwarfen Anhänger des Liberalismus11 wie James Mill, John Stuart Mill oder Alexis de Tocqueville fünfzig Jahre später die Skepsis ihrer Vorgänger – und befürworteten die koloniale Expansion.
Um diesen „proimperialistischen Umschwung der Liberalen“ geht es Jennifer Pitts, die in Princeton Politikwissenschaft lehrt, in ihrem Buch „A Turn to Empire“.12 Diesen führt Pitts darauf zurück, dass damals „pluralistische und differenzierte Fortschrittstheorien allmählich an Bedeutung verloren und stattdessen abwertende Vorstellungen von ‚Rückständigkeit‘ und eine schärfere Dichotomie zwischen Barbarei und Zivilisation aufkamen.“
In diesem lehrreichen Buch kann man so manchen oft zitierten, aber selten gelesenen Theoretiker des Liberalismus wiederentdecken. Und man begreift wieder einmal, wie groß die Kluft ist zwischen dem klassischen Liberalismus und dem, was wir heute als Neoliberalismus bezeichnen.13 Adam Smith und seine Schüler widmeten sich mit großer Aufmerksamkeit dem Studium menschlicher Gemeinschaften. Niemals hätten sie Margaret Thatchers Diktum zugestimmt, „There is no such thing as society“. Im Gegenteil, in ihren Büchern beschäftigten sie sich nicht nur eingehend mit den europäischen, sondern auch mit jenen Gesellschaften, die die Alte Welt in Ozeanien oder Amerika entdeckt hatte.
Als Universalisten waren sie der Überzeugung, dass der Mensch vernunftbegabt sei und sich daher zur Lösung jeglicher Probleme dieser Vernunft bediene. Für den Moralphilosophen Smith war keine Kultur grundsätzlich über- oder unterlegen: Die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen und alltäglichen Praktiken spiegelten nur die unterschiedlichen Lebensumstände wider. In seiner „Theorie der ethischen Gefühle“ von 1759 erklärte er etwa, dass der von den Missionaren als sinnlos und barbarisch kritisierte Brauch der Indianer, die Köpfe der Neugeborenen zu formen, auch nicht sinnloser sei als das den Frauen aufgenötigte Tragen eines Korsetts, von dem man doch wisse, wie schädlich es für die Gesundheit sei, und es dennoch akzeptiere. Smith kritisierte all jene Auffassungen, die eine grundsätzliche Überlegenheit der europäischen Gesellschaften behaupteten.
Fünfzig Jahre später sah die Welt anders aus. Im 18. Jahrhundert hatte der Alte Kontinent noch nicht die globale Vormachtstellung erreicht – das Gros der weltweiten Manufakturproduktion lag im Jahre 1800 in China und Indien. Doch im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Verhältnisse. Die Eroberung Amerikas begann sich auszuzahlen, hinzu kam das im Dreieckshandel erwirtschaftete Vermögen sowie vor allem die Überlegenheit in der Kunst der Kriegsführung: Eine Vielzahl von Konflikten hatte dazu geführt, dass die Staaten der Alten Welt sich immer besser darauf verstanden, Ressourcen für längere militärische Auseinandersetzungen zu mobilisieren. Den Riesenreichen Indien oder China hingegen war das vollkommen fremd. Sie hatten die Verteidigung ihrer fernen Grenzen gewöhnlich lokalen Fürsten oder Stämmen überlassen.14
Die militärische Überlegenheit und die Eroberungen lieferten nun den nachträglichen Beweis für die „moralische“ und „kulturelle“ Überlegenheit des Alten Kontinents. Diese sei bereits in bestimmten philosophischen Entwürfen angelegt, deren Wurzeln manche sogar bis ins antike Griechenland zurückverfolgen wollten.15 Man begann fremde Zivilisationen immer öfter als „barbarisch“ oder „zurückgeblieben“ abzuwerten. Auf diese Weise bildeten sich laut Pitts „allgemeingültige theoretische Argumentationsmuster“ heraus, insbesondere „setzte sich die Ansicht durch, dass die Europäer aufgrund der Fortschrittlichkeit ihrer Zivilisation das Recht hatten, in ihren Beziehungen zu nichteuropäischen Gesellschaften die moralischen und politischen Wertmaßstäbe auszuklammern“, die sie für sich selbst in Anspruch nahmen.
Dies belegt auch die britische Politik in Indien: Mitte des 19. Jahrhunderts nahm das Interesse für die Kultur des Subkontinents allmählich ab. „Zuvor gab es“, schreibt Pitts, „in den höchsten Kreisen der Administration, selbst unter den Briten, die für die Expansion des Empires verantwortlich zeichneten, eine gewisse Bewunderung für die Errungenschaften der indischen Kultur. Auf vielen wichtigen Posten der Kolonialverwaltung saßen im 19. Jahrhundert Orientalisten, die die indische Zivilisation verehrten.“ Diese Verwalter neigten sogar zu einer regelrechten „Indisierung“ (sie kleideten sich wie die Einheimischen, nahmen ihre Gewohnheiten an, heirateten Inderinnen etc.). Nach 1850 jedoch wich die Bewunderung zunehmend einer von Verachtung geprägten Wahrnehmung der Einheimischen. Und bei der blieb es bis zur Unabhängigkeit Indiens.
In Frankreich verkörperte Alexis de Tocqueville in unterschiedlichen Zusammenhängen diese „Wende zum Empire“. Er setzte sich nicht nur theoretisch für die Kolonisierung ein. Als Abgeordneter versorgte er in den Jahren zwischen 1839 und 1851 die Regierung mit Berichten und Empfehlungen zur Eroberung Algeriens. Tocqueville fürchtete außerdem, dass der Individualismus die Demokratie gefährde. Daher betrachtete er die kolonialen Unternehmungen in Übersee als geeignetes Mittel, um beim Volk das stolze Gefühl zu wecken, einer großen Nation anzugehören – und es so davon abzulenken, soziale Forderungen geltend zu machen.
Bereits 1550 lieferte der im Dienst der spanischen Krone stehende Humanist Juan Ginés de Sepúlveda die theoretische Rechtfertigung für den Anspruch europäischer Mächte auf die Versklavung fremder Völker. In dem berühmten Disput von Valladolid – zu der Frage „Darf man die Indios versklaven?“ – verteidigte er gegen den Dominikaner Bartolomé de Las Casas das Recht Spaniens, die Bevölkerung Südamerikas zu unterwerfen.
In seinem Essay „Die Barbarei der anderen“ erinnert Immanuel Wallerstein an die Wirkungsgeschichte von Sepúlvedas Argumentation.16 Die Indios, so lautete das erste Argument des Spaniers, seien „Barbaren, einfach, ungebildet und unerzogen, (…) voller Laster, grausam und so geartet, dass es ratsam war, dass sie von anderen regiert wurden.“ Das spanische Joch sei notwendig „zum Ausgleich und zur Strafe für ihre Verbrechen gegen das Naturrecht und die göttliche Ordnung.“ Letztere verpflichtete die Spanier geradezu, „den Schaden und das Unheil abzuwenden“, das die Indios „einer großen Anzahl unschuldiger Menschen (…) bereitet haben.“ Und schließlich, letztes Argument, werde die spanische Herrschaft die Christianisierung erleichtern.
Diese vier Hauptargumente werden laut Wallerstein immer wieder angeführt, „um ‚Interventionen‘ von ‚Zivilisierten‘ in ‚nicht-zivilisierten‘ Regionen in der Moderne zu rechtfertigen – die Barbarei der anderen, die Pflicht, sich der Verletzung universeller Werte entgegenzustemmen, die Verteidigung Unschuldiger inmitten der grausamen Anderen sowie die Notwendigkeit, die Durchsetzung der universellen Werte zu erleichtern.“
In welchem Verhältnis stehen nun die Vorstellungen von der „Überlegenheit“ Europas zum optimistischen „Fortschrittsglauben“ im 18. Jahrhundert? Der Mathematiker und Philosoph Marie Jean Antoine Nicolas de Caritat, Marquis de Condorcet (1743–1794), kämpfte Zeit seines Lebens für die Gleichberechtigung der Frau und geißelte den Rassismus. Er war einer der schärfsten Kritiker der Kolonisierung und einer der konsequentesten Verfechter der Idee von der Einheit des Menschengeschlechts. Und doch fasste er den Fortschritt, wie Pitts anmerkt, „als den universellen Prozess auf, in dessen Verlauf die Irrtümer in dem Maße überwunden würden, wie sich die Gesellschaften in ihrer wissenschaftlichen und moralischen Entwicklung der Wahrheit mehr und mehr annähern“. Aus dieser linearen Entwicklungstheorie folgte, dass er „die früheren Praktiken eher als eine Form des Irrtums oder der Verkommenheit“ betrachtete – und etwas Wichtiges außer Acht ließ: „nämlich dass diese Praktiken in ihrem ursprünglichen Kontext allgemein für vernünftig gehalten wurden, weil sie Probleme des sozialen Lebens lösten, die sich aufgrund der jeweiligen Überlebenstechniken entwickelt hatten“.
In seinem „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“ (1794) verkündete Condorcet, der Augenblick sei nahe, in welchem wir Europäer für jene Nichteuropäer „nützliche Helfer oder edelmütige Befreier“ würden. Diese Völker würden „rascher und sicherer fortschreiten als wir, weil sie von uns all das empfangen haben, was wir erst erfinden mussten, und weil sie, um die einfachen Wahrheiten, die sicheren Methoden kennenzulernen, auf die wir erst nach langem Irren gekommen sind, bloß deren Darlegungen und Beweise in unseren Abhandlungen übernehmen brauchten.“17
Das Bild von Europa (und ganz allgemein von der westlichen Welt) als der fortschrittlichsten und zukunftweisenden Zivilisation sowie die Überzeugung, es gebe eine lineare Entwicklung von der „Barbarei“ zur „Zivilisation“, verdienen eingehend diskutiert zu werden. Die angelsächsischen Historiker tun dies bereits seit Jahren im Rahmen der „Postcolonial Studies“ und „Subaltern Studies“. Einer der renommiertesten Vertreter ist der indische Historiker Dipesh Chakrabarty. In seinem anregenden und klugen Buch mit dem provokanten Titel „Provincializing Europe“18 kommt er auf die Vorstellung zu sprechen, die es einem erlaubt, „zuerst Europa, dann anderswo“ zu sagen. Sie habe auch Karl Marx die Rechtfertigung für seine Behauptung geliefert, dass „die am weitesten industrialisierten Länder den weniger entwickelten das Bild ihrer eigenen Zukunft zeigen“. Die nichteuropäischen Länder würden, so Chakrabarty, in einen „imaginären Wartesaal der Geschichte“ verwiesen, einer Geschichte, die auf diese Weise zum Maßstab werde für die kulturelle Distanz zwischen Okzident und Orient.
Man sollte sich allerdings nicht täuschen lassen. Es geht diesem Autor nicht darum, die Marx’sche vorausschauende Analyse der Globalisierung zu revidieren, die in der Tat alle Völker der Welt immer näher zusammenrücken lässt. „Europa im historischen Denken zu provinzialisieren“, resümiert Chakrabarty, „meint, dafür zu kämpfen, eine Spannung zwischen zwei widerstreitenden Standpunkten aufrechtzuerhalten. Auf der einen Seite die zwangsläufige und universelle Geschichte des Kapitalismus. (…) Diese Geschichte ermöglicht uns, den kapitalistischen Imperialismus zu kritisieren und zugleich an einer Vision festzuhalten, die das Versprechen der Aufklärung von einer abstrakten, universellen, aber niemals verwirklichten Humanität freisetzt. (…) Auf der anderen Seite eine Philosophie über die verschiedenen Weisen, Mensch zu sein, über die unendlich vielen Arten, in denen wir mit unseren unterschiedlichen Zugehörigkeiten konkret zu leben versuchen.“
Es geht also nicht darum, sich vom europäischen Denken zu lösen, sondern darum, dieses von seinem imperialistischen Impetus zu befreien, ihm seine Kraft zurückzugeben und es zum „Geschenk für uns alle“, im Norden wie im Süden, zu machen, einem Geschenk, das zahlreiche Kämpfer für die Freiheit angenommen haben, von Ho Chi Minh in Vietnam bis Sun Yat-sen in China, von Simón Bolívar in Südamerika bis Mehdi Ben Barka in Marokko.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver