09.05.2008

Die Schießerei in der Rue d’Isly

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Die Schießerei in der Rue d’Isly

Am 26. März 1962, fünf Tage nach Unterzeichnung des Abkommens von Evian, umstellte die französische Armee Bab el-Oued, ein lebendiges, armes Altstadtviertel von Algier: Man vermutete zu Recht, dass die Mörder von der OAS in dieser Gegend leicht Unterschlupf fanden. Im Lauf des Tages trommelte die OAS tausende Franzosen zusammen, um die Absperrungen zu stürmen. Als ein Schuss auf die Soldaten abgefeuert wurde, verloren die Militärs die Nerven und schossen in die von Panik ergriffene Menge. Die Bilanz waren 46 Tote und über 100 Verletzte. Für die meisten Anhänger Französisch-Algeriens bedeutete das Trauma dieser „Schießerei in der Rue d’Isly“ vor allem das Ende jeder Hoffnung, die Situation mit Unterstützung der französischen Armee doch noch umkehren zu können.

Dreieinhalb Monate später, am 5. Juli, als das algerische Volk in Oran seine Unabhängigkeit feierte, fiel ein Schuss in die Menge. Es folgte eine fünf Stunden lange Jagd auf Europäer durch die Straßen der Stadt, organisiert von unkontrollierten Elementen der Armée de Libération nationale (ALN), des bewaffneten Arms der FLN. Da es seitens der algerischen Behörden keine ernsthafte Untersuchung gegeben hat, wissen wir bis heute nicht, wie viele Tote – Europäer, aber auch Algerier – dieser blutige Tag gefordert hat. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 40 und 1 500 (Oran hatte damals 400 000 Einwohner).

Schließlich kam es in Reaktion auf die Anschläge der OAS im Verlauf des Frühjahrs 1962 zu einer Entführungswelle, die – mehr oder weniger gezielt – gegen die Europäer gerichtet war. Insgesamt sind während dieser Zeit etwa 3 700 Europäer entführt worden, 1 500 von ihnen wurden wohlbehalten wieder aufgefunden, die übrigen 2 200 blieben verschwunden.

So traumatisch diese Ereignisse auch gewesen sein mögen, unmittelbar betroffen waren davon nur einige Pieds-noirs, viele wussten vor ihrer Flucht überhaupt nicht davon. Und was die Schießerei in der Rue d’Isly betrifft, sei schließlich noch einmal klargestellt, dass die Demonstranten ausschließlich Sympathisanten der OAS waren – die Algerier hatten damit nichts zu tun.1

Fußnote: 1 Darüber hinaus gab es mehrere Dorfmassaker sowie zahlreiche Attentate an öffentlichen Orten. Insgesamt beläuft sich die Zahl der zivilen Todesopfer einschließlich der Verschwundenen bei den Europäern auf 5 000; aufseiten der Algerier sind es mehrere zehntausend.

Le Monde diplomatique vom 09.05.2008