09.05.2008

Aufbruch nach Frankreich

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Aufbruch nach Frankreich

Von einer Million Franzosen, die bei einer muslimischen Bevölkerung von neuneinhalb Millionen im kolonisierten Algerien lebten, haben 150 000 vor 1962 und 650 000 im Lauf des Jahres 1962 das Land verlassen. Was ist aus den 200 000 Pieds-noirs geworden, die 1963 noch in Algerien waren?

„Die Geschichte derer, die nach der Unabhängigkeit geblieben sind, ist noch nicht geschrieben“, stellt der Maghreb-Historiker Benjamin Stora fest. Gefangen in einer offiziellen, von der FLN diktierten Geschichte, haben die algerischen Historiker es nie gewagt, sich näher für diese Frage zu interessieren.

Nach Angaben von Bruno Etienne, der zwischen 1963 und 1974 als „Pied-rouge“1 in Algerien war, um beim Aufbau des neuen Staates mitzuwirken, hat es „nach 1962 zwar keine weiteren Aufbruchswellen mehr gegeben, aber einen beständigen Rückstrom nach Frankreich“. Es waren Menschen, die sich einsam fühlten, nachdem ihre Familien oder Freunde fort waren, oder Leute, die ihre Kundschaft verloren hatten und ihr Geschäft nicht wieder in Schwung bringen konnten, sowie Alte, deren Kinder in Frankreich lebten und die allein nicht mehr gut zurechtkamen.

„In den 1980er-Jahren hat das französische Konsulat sogar kräftig nachgeholfen und die Älteren gedrängt, nach Frankreich zurückzukehren und ihren Lebensabend in einem dortigen Altersheim zu beschließen“, erinnert sich Roby Blois, der von 1984 bis 1992 als Berater für soziale Angelegenheiten beim französischen Konsulat in Algerien tätig war. „Dabei kannte ich so viele alte Damen, die von ihren algerischen Nachbarn gehätschelt wurden, wie sie es in Frankreich nie erlebt hätten!“ Außerdem sind viele inzwischen gestorben.

Laut Hélène Bracco waren von den 200 000 in Algerien verbliebenen Pieds-noirs 1993 noch etwa 30 000 übrig. Dann begann der verdeckte Bürgerkrieg, das Schwarze Jahrzehnt brach an und trieb viele der „Algerier europäischer Herkunft“ in die Flucht. Schließlich galten sie als Zielscheibe des islamistischen Terrors – ohne dass übrigens auch nur einer von ihnen zu Tode gekommen wäre.2

Heute sind kaum zuverlässige Zahlen zu bekommen, die Angaben schwanken je nach Quelle. Guy Bonifacio, Präsident der Association des Français de l’étranger (Adfe) schätzt die derzeit noch in Algerien lebenden Pieds-noirs auf „etwa 4 500“, Francis Heude, der französische Konsul in Algier, dagegen spricht von lediglich 300.

Fußnoten: 1 „Pieds-rouges“ hießen die linken Franzosen, die sich leidenschaftlich für ein algerisches Algerien engagiert und 1962 beim Aufbau des sozialistischen Algerien mitgeholfen hatten. 2 Keiner der sieben aus dem Kloster Tibhirine entführten Mönche, die in der Nacht vom 26. auf den 27. März 1996 von Islamisten ermordet worden sind, war ein Pied-noir: Sie waren erst zwischen 1970 und 1990 nach Algerien gekommen.

Le Monde diplomatique vom 09.05.2008