Rue Abderrahmane, Algier
Zu Besuch bei den letzten Franzosen, die geblieben sind von Pierre Daum
Algier, Januar 2008. Die Hausnummern an der Straße gehen wild durcheinander. Um herauszufinden, wo Cécile Serra wohnt, fragt man besser irgendeinen Nachbarn. „Frau Serra? Ganz einfach, das ist das Haus mit den Orangenbäumen und dem alten Auto davor!“
Cécile Serra bereitet jedem Besucher einen herzlichen Empfang. Mitten in ihrem wunderschönen Garten, der von einem hilfsbereiten Nachbarn in Schuss gehalten wird, thront das verrostete Wrack eines Simca Aronde aus dem Jahr 1961. „Oh! Was sind wir mit diesem Auto durch die Gegend kutschiert, mein Mann und ich! Jedes Wochenende fuhren wir raus zum Angeln, immer mit einer Gruppe von Freunden, Monsieur Gabrière und Monsieur Cripo mit ihren Frauen waren auch oft mit von der Partie. Das ging bis 1981. Dann haben bei meinem Mann die Kräfte nachgelassen. Aber wir hatten gute Zeiten, das muss ich sagen!“
Wenn man dieser reizenden alten Dame zuhört – sie ist neunzig, hellwach und voller Humor –, möchte man meinen, die „Revolution“ von 1962 habe ihr Leben als kleine Schneiderin im Regierungsviertel von Algier kaum verändert. „Warum glauben Sie das? Warum sollte sich da etwas geändert haben?“, fragt sie fast empört. „Ich habe mich mit allen gut verstanden. Die Algerier wollen nur respektiert werden, dann respektieren sie einen auch. Ich habe meinen Gemüsehändler nie geduzt. Ich duze ihn bis heute nicht.“
Céciles Großmutter mütterlicherseits kam 1858 in der neunzig Kilometer westlich von Algier gelegenen Hafenstadt Cherchell zur Welt. Ihr Vater, Steinmetz, zog in den 1920er-Jahren nach Algier. „1929 hat er dieses Häuschen gebaut, und ich bin immer hier geblieben.“ Wie kommt es, dass sie – anders als die meisten Franzosen – nach der Unabhängigkeit 1962 geblieben ist? „Aber warum hätte ich weggehen sollen? Hier ist unsere Heimat. Alles ist schön, die Sonne, das Meer, die Leute. Ich habe es keine Sekunde bereut, geblieben zu sein.“ Ihr Mann, Valère Serra, arbeitete als Drechsler in einem Betrieb von Pied-noirs1 .
„Während des Unabhängigkeitskriegs war er oft unterwegs, um Waren zu verkaufen. Wenn er wegfuhr, sagte er zu unseren arabischen Nachbarn: ‚Ich vertraue euch meine Frau und meinen Sohn an!‘ Da ist uns nie etwas passiert. Schwierig wurde es erst, als die OAS2 kam. In Wirklichkeit waren die es, die Unruhe gestiftet haben! Aber diese sprichwörtliche Alternative ‚Koffer oder Sarg‘, das stimmt einfach nicht. Meine Schwägerin zum Beispiel ist nach Frankreich zurück, weil sie Angst hatte. Doch ich kann Ihnen versichern, bedroht worden ist sie nie.“
Der Betrieb, in dem Valère Serra beschäftigt war, wurde 1962 aufgelöst. Er ging in den Ruhestand, während Cécile weiter schneiderte. „1964 haben wir mit unserem Simca eine Tour durch Frankreich gemacht. Nur so, um uns umzusehen, für den Fall der Fälle … Aber sobald wir Pieds-noirs trafen, bekamen wir unser Fett weg! ‚Wie? Sie sind immer noch dort? Und mit diesen Leuten leben Sie zusammen?‘ Da haben wir zugesehen, dass wir schnell wieder nach Hause kamen.“
Cécile Serra gehört zu den 200 000 Pieds-noirs, die 1962 nicht aus Algerien geflohen sind.3 Ist das so erstaunlich? Nein, eigentlich ganz verständlich, erklärt der Historiker und Algerien-Experte Benjamin Stora: „Die Repatriierten haben seit ihrer Ankunft in Frankreich immer behauptet, es gebe nur einen Grund für ihre Rückkehr: die Lebensgefahr, der sie und ihre Kinder ausgesetzt gewesen seien. Sie alle hätten keine andere Wahl gehabt, sie hätten Algerien verlassen müssen. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit.“4
Jean-Bernard Vialin, ehemaliger Pilot bei der Air Algérie, war 1962 zwölf Jahre alt. Er stammt aus Ouled Fayet, einem kleinen Ort in der Nähe von Algier, wo sein Vater Techniker in einem metallverarbeitenden Unternehmen war und seine Mutter Lehrerin. Zu unserem Gespräch empfängt er uns auf seinem Schiff, das im zauberhaften Hafen von Sidi Fredj (früher Sidi Ferruch) westlich von Algier vor Anker liegt.
„Meine Eltern gehörten zu den sogenannten Liberalen, auf keiner Seite engagiert, weder bei der Nationalen Befreiungsfront (FLN) noch bei den fanatischen Anhängern Französisch-Algeriens. Einfach Leute, die nicht einverstanden waren damit, dass die sogenannten Muselmanen Menschen zweiter Klasse waren und sich unglaubliche Ungerechtigkeiten gefallen lassen mussten. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, was für ein Rassismus damals hier herrschte. In Ouled Fayet wohnten die Europäer alle in festen Häusern im Stadtzentrum, während die ‚Muselmanen‘ irgendwo außerhalb in elenden Hütten hausten.“ Behelfsunterkünfte aus Schilfrohr, das in den Boden gesteckt und von Bindfäden zusammengehalten wurde, mit einem Stück Wellblech als Dach. „Nicht wie in Südafrika, aber fast.“
Die monatliche Altersbeihilfe gibt es beim Konsulat
Im Januar 1962 wurde der junge Vialin Zeuge einer Szene, die sich ihm tief ins Gedächtnis eingegraben hat: „Es war in El Biar, einem Viertel in der Oberstadt von Algier. Zwei Franzosen saßen auf der Terrasse eines Cafés und tranken Anisette. Ein Algerier ging vorbei. Einer der Franzosen stand auf, zog seine Pistole und schoss den Mann einfach nieder; dann setzte er sich wieder hin und leerte sein Glas, während der Getroffene im Rinnstein verblutete. Von da an wusste ich Bescheid. Dass diese Typen nach der Unabhängigkeit Angst hatten, im Land zu bleiben, wundert mich nicht.“
Aber für seine Eltern kam es nicht infrage, Algerien zu verlassen. „Keine Sekunde haben sie daran gedacht. Sie wollten Beständigkeit. Sie hatten sich immer Gleichheit für alle gewünscht und waren froh, endlich danach leben zu können.“
Im September 1962 waren – bis auf die Familie Vialin – alle zweitausend Europäer aus Ouled Fayet verschwunden. Wenig später hatten sich Algerier aus der Umgebung in den kleinen Kolonialhäusern niedergelassen – „was ja nur normal ist“, betont der ehemalige Pilot. Seine Mutter hat dann ganz allein die Schule wieder eröffnet. Seit 1965 haben die Vialins die algerische Staatsbürgerschaft. „Schließlich fühle ich mich in erster Linie als Algerier. Meine Karriere bei der Air Algérie ist unter vollkommen normalen Bedingungen verlaufen, ich galt immer als jemand, der andere Wurzeln hat, aber nicht, dass das von Belang gewesen wäre.“
Heute, mit siebzig Jahren, lebt Bouhana in einem verfallenen Haus am Cap Caxine, westlich von Algier. Umgeben von mehreren Hunden und Katzen schlägt er sich mit den monatlich zweihundert Euro Altersbeihilfe durch, die er – ebenso wie etwa vierzig weitere mittellose Pieds-noirs – vom französischen Konsulat bekommt.
„Aber vor allem habe ich algerische Freunde, frühere Nachbarn, die in Frankreich leben und mir etwas Geld schicken.“ Und seine repatriierte Familie? „Dass ich nicht lache! Keinen Euro bekomme ich von denen! Die reden gar nicht mehr mit mir. Sie haben mir nie verziehen, dass ich in Algerien geblieben bin.“
Auch der 77-jährige Felix Colozzi ist einer der Dagebliebenen, ein Kommunist, der an der Seite der FLN im Untergrund gekämpft hat, sechs Jahre in französischen Zuchthäusern saß – unter anderem im berüchtigten Gefängnis von Lambèse bei Batna – und schließlich Wirtschaftsingenieur bei staatlichen Unternehmen wurde.
André Lopez, 78 Jahre alt, ist der letzte Pied-noir in Sig (ehemals Saint-Denis du Sig), fünfzig Kilometer von Oran entfernt. Er übernahm die von seinem Vater gegründete Olivenfabrik und produziert dort heute Pilzkonserven. Und Pater Denis Gonzalez, 76 Jahre alt, ein „echter Pied-noir“, dessen Familie seit Generationen in Algerien lebte, beschloss damals im Gefolge von Léon-Étienne Duval, dem berühmten, von der OAS gehassten Erzbischof von Algier, „dem algerischen Volk weiter zu dienen“.
Prosper Chetrit, auch er schon 78 Jahre alt und seit dem Tod seiner Mutter der letzte Jude in Oran, weist darauf hin, dass 3 000 Juden über 1962 hinaus in Oran geblieben waren: „Für sie wurde es erst nach 1971 schlimm, als ihre Synagoge in eine Moschee umgewandelt wurde und der letzte Rabbiner wegging. Aber ich kann nicht klagen, alle wissen, dass ich Jude bin, und alle schätzen mich.“
Es war also möglich, als Franzose oder Jude im unabhängig gewordenen Algerien zu leben! „Aber natürlich“, bestätigt die 82-jährige Germaine Ripoll, die gemeinsam mit ihrem Sohn bis heute das kleine Restaurant betreibt, das ihre Eltern 1932 in Arzew bei Oran eröffnet haben. „Und wissen Sie, ich würde sogar sagen: An unserer Situation hat sich kaum etwas geändert. Die einzig wirkliche Veränderung war das Alkoholverbot von 1966, als wir das Weinlager schließen mussten. Aber das hat mich nie daran gehindert, meinen Gästen Wein zu servieren.“
Im Lauf dieser Gespräche mit Pieds-noirs oder „Algeriern europäischer Herkunft“, wie manche sie lieber nennen, entsteht ein neues Bild, das die in Frankreich verbreiteten Vorstellungen über den Haufen wirft. War das bei den Europäern verbreitete Angstgefühl tatsächlich gerechtfertigt? Eine Frage, die schwer zu entscheiden bleibt.5
Die Verlautbarungen so mancher nationalistischer Anführer gaben sicherlich Anlass zur Besorgnis, vor allem die Proklamation vom 1. November 1954, in der die FLN ihren Willen bekräftigte, einen demokratischen Staat „im Rahmen der Richtlinien des Islam“ zu errichten. Die meisten der nach Frankreich zurückströmenden Pieds-noirs hatten offenbar völlig verdrängt, dass die FLN-Führung noch während des Krieges immer wieder beruhigende Appelle an sie gerichtet hatte.
„Ich habe mich gefreut, als ich die Appelle damals las“, sagt Jean-Paul Grangaud. Seine Großeltern waren protestantische Lehrer, die im 19. Jahrhundert in die Kabylei eingewandert waren. Nach der Unabhängigkeit wurde er Professor für Kinderheilkunde am Mustafa-Hospital in Algier und später Berater des Gesundheitsministers.
In dem bekannten Appell, der am 17. Februar 1960 vom provisorischen Regierungssitz in Tunis an die „Europäer Algeriens“ erging, heißt es: „Algerien ist unser aller Erbe (…) Die algerischen Patrioten wollen zwar nicht länger Menschen zweiter Klasse sein und euch als die Überlegenen anerkennen, aber sie sind doch bereit, euch als echte Algerier zu betrachten. Algerien den Algeriern, allen Algeriern, ungeachtet ihrer Herkunft! Das ist keine leere Formel, sondern Ausdruck der lebendigen Wirklichkeit auf der Grundlage eines gemeinsamen Lebens.“
Das Einzige, was die im Land gebliebenen Pieds-noirs enttäuscht haben mag, hatte mit der algerischen Staatsbürgerschaft zu tun: Als Europäer musste man sie erst beantragen, während sie den muslimischen Algeriern automatisch zufiel. Aber das war 1963, also lange nach dem großen Exodus.
Was den Besitz betrifft, wurden die Europäer nur selten belästigt. „Niemand hat je versucht, uns aus unserer Villa zu vertreiben“, sagt Guy Bonifacio, dessen Familie seit drei Generationen in Oran ansässig ist. Ähnliches hörten wir von allen anderen, denen wir begegnet sind. Das Dekret, das der neue sozialistische Staat 1963 zur Verstaatlichung von Grundbesitz erlassen hat, bezog sich nur auf große Ländereien und kleine unbewirtschaftete Parzellen sowie schließlich auch auf den Besitz von Franzosen, die geblieben und trotzdem nicht bereit waren, die algerische Staatsangehörigkeit anzunehmen.
Jeanine Degand, eine alteingesessene Oranerin, die immer noch auf die Algerier schimpft, aber sachlich zu bleiben versucht, erinnert sich: „Ich habe einen Onkel, der in der Gegend von Boutlélis etwa dreißig Hektar Land besaß. 1963 hat man ihm gesagt: ‚Entweder du nimmst die algerische Staatsbürgerschaft an und behältst deine Farm, oder du weigerst dich und wir nehmen sie dir weg.‘ Er hatte seinen Stolz, er weigerte sich, und die Farm war weg. Klar, wäre er Algerier geworden, hätte er sie noch, das steht fest.“
Es ist nie genug betont worden, wie schnell nach dem Befreiungskrieg wieder Frieden im Land herrschte. Der Historiker Jean-Robert Henri von der „Maison Méditerranéenne des Sciences de l’Homme“ in Aix-en-Provence berichtet über seine Eindrücke vom Sommer 1963: „Mit meinem alten Auto bin ich von Osten nach Westen quer durchs ganze Land gefahren und habe die Nächte an den entlegensten Orten verbracht. Aber obwohl man mir den Franzosen schon von Ferne ansieht, ist mir nicht nur nichts passiert, sondern ich habe auch nirgendwo die geringste Feindseligkeit gespürt. Und ich bin Pieds-noirs begegnet, die wie von der Welt abgeschnitten auf ihren Farmen lebten und kein bisschen Angst hatten.“
Nach Auskunft eines algerischen Historikers, der sich intensiv mit dieser Zeit befasst hat, ist ab August 1962 in Algerien „kein einziger Schuss“ mehr gefallen.6
„Es war, als hätten die Algerier sich nach der Unabhängigkeit gesagt: Wir haben bekommen, was wir wollten, jetzt vergessen wir die Vergangenheit und kümmern uns nur noch um die Zukunft.“ Marie-France Grangaud bestätigt: „Wir haben nie etwas von Rachegelüsten gespürt, obwohl fast jede Familie betroffen war. Im Gegenteil, die Algerier zeigten sich uns gegenüber dankbar und anerkennend, als wollten sie uns sagen: ‚Danke, dass ihr bleibt, um uns zu helfen!‘ “
Am Ende fragt man sich, warum so viele Algerienfranzosen beschlossen haben, ein Land zu verlassen, dem sie sich so innig verbunden fühlten. Wenn man sie in Frankreich darauf anspricht, berufen sie sich fast alle auf die Angst, genährt vom Klima allgemeiner Gewalt, das in den letzten Kriegsmonaten in Algerien herrschte. Dabei werden immer wieder drei traumatische Vorkommnisse des Jahres 1962 angeführt: die Schießerei in der Rue d’Isly vom 26. März in Algier, das Massaker vom 5. Juli in Oran und die zahlreichen Entführungen von Europäern (siehe Kasten).
„Die Welle der Gewalt Ende 1961, Anfang 1962 ging hauptsächlich von der OAS aus“, stellt André Bouhana klar. „Diese hat Araber und Europäer gegeneinander aufgehetzt und einen Hass geschürt, den es sonst nicht gegeben hätte.“ Alle weisen darauf hin, dass die Reaktionen der FLN auf die Morde der OAS ausgesprochen maßvoll ausfielen.
Germaine Ripoll erinnert sich an die Situation in Arzew, wo die OAS ihr Unwesen trieb, „aber kein Algerier ist je auf einen Franzosen losgegangen“. Und die Entführungen – von den insgesamt eine Million Europäern, die in Algerien lebten, sind zwischen 1954 und 1962 2 200 verschwunden – waren zumindest teilweise gezielte Aktionen. „In meinem Dorf wurden ausschließlich OAS-Aktivisten entführt“, sagt Jean-Bernard Vialin.
Lieber nicht auf Augenhöhe
Benjamin Stora will es genauer wissen: „Es stimmt, die Europäer hatten große Angst. Aber wovor? Vor allem vor blinden Racheakten, denn die Pieds-noirs wussten schon damals ganz genau, dass auf jeden Toten in ihren Reihen mindestens zehn tote Algerier kamen!7 Dann kam die OAS, der sich viele Pieds-noirs anschlossen. Deshalb hatten sie Angst vor Ausschreitungen, mit denen FLN-Leute auf den Terror der OAS reagieren könnten. Doch die große Mehrheit der Algerier war gar nicht auf Rache aus und staunte nur über die Massenflucht der Europäer.“
Wenn also der wirkliche Grund dieses umfassenden Exodus weder die Gefahr für Leib und Leben noch die Sorge um den Besitz war, was dann? Jean-Bernard Vialin hat die Antwort schon auf den Lippen: „Die allermeisten sind nicht gegangen, weil sie direkt bedroht gewesen wären, sondern weil sie die Aussicht nicht ertrugen, auf Augenhöhe mit den Algeriern zu leben!“
Andere äußern sich etwas vorsichtiger, so etwa Marie-France Grangaud, die der protestantischen Bourgeoisie von vor 1962 entstammt und später in der staatlichen Statistikbehörde den Bereich Sozialstatistik leitete. Aber was sie sagt, geht in dieselbe Richtung: „Vielleicht war es die Aussicht darauf, von Arabern herumkommandiert zu werden, was die meisten Pieds-noirs erschreckt hat. Unser Leben hier war geprägt von einem eindeutigen Überlegenheitsgefühl. Wir hielten uns für zivilisierter. Und vor allem hatten wir einfach kein normales Verhältnis zu Muslimen. Sie waren da, um uns herum, aber als reine Dekoration. Dieser Dünkel war eine Selbstverständlichkeit. Im Grunde steckt darin die ganze Kolonialherrschaft. Ich selbst musste mich auch anstrengen, um diese Einstellung abzuschütteln.“
Zwischen 1992 und 1993 ist die Historikerin Hélène Bracco auf der Suche nach den verbliebenen Pieds-noirs durch Algerien gereist. Sie hat etwa sechzig Zeugnisse zusammengetragen und die Ergebnisse später in einem Buch veröffentlicht.8 Ihr Fazit lautet: „Dass die Pied-noirs damals fast alle nach Frankreich zurückgingen, lag in Wahrheit an ihrer Unfähigkeit, eine geistige Kehrtwende zu vollziehen. Die Europäer in Algerien, egal wer, auch die am untersten Ende der sozialen Stufenleiter, fühlten sich den ranghöchsten Muslimen überlegen. Bleiben konnte man nach 1962 nur, wenn man von heute auf morgen bereit war, alles mit den Leuten zu teilen, die man zuvor gewohnheitsmäßig herumkommandiert oder verachtet hatte.“
Die Wirklichkeit ist bekanntlich für Überraschungen gut: Wir sind in Algerien auch Pieds-noirs begegnet, die immer noch kolonialistische und rassistische Reden schwingen. Sie sind geblieben, um ihren Besitz zu schützen und weil „Algerien ihre Heimat“ ist.
Aufgrund all dieser unterschiedlichen Einstellungen haben die meisten Pieds-noirs, die heute noch südlich des Mittelmeers leben, kaum Kontakt zu den zurückgekehrten Algerien-Franzosen. Jean-Bernard Vialin, der mit einer Algerierin verheiratet ist, hat 1979 mit seiner neugeborenen Tochter eine Reise nach Frankreich unternommen und bekam von seiner eigenen Familie zu hören: „Du willst uns doch nicht etwa dazu nötigen, eine kleine Araberin in den Armen zu wiegen?“
Guy Bonifacio vermeidet bei seinen Frankreich-Aufenthalten die Begegnung mit bestimmten Repatriierten. „Sie halten uns für Kollaborateure“, seufzt er. „Und immer diese Sprüche: ‚Wie kannst du nur mit denen leben, das sind Wilde!‘ “ Dennoch kann sich Marie-France Grangaud ein Lächeln nicht verkneifen: „Seit einigen Jahren kommen viele Pieds-noirs auf den Spuren ihrer Vergangenheit wieder nach Algerien. Ein Bekannter hat mir vorigen Sommer bei der Abreise gesagt: ‚Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich damals vielleicht doch geblieben.‘ “
Aus dem Französischen von Grete Osterwald Pierre Daum ist Journalist.