Was kann Obama?
Er verspricht den Wandel und beschwört die großen Traditionen der Demokraten von John Gerring und Joshua Yesnowitz
Die Kandidatur von Barack Obama ist nicht nur eine typisch amerikanische Wahlkampagne mit lärmenden Versammlungen, tausenden freiwilligen Helfern und Anhängern, die kleine Geldsummen spenden (in seinem Fall über einer Million Menschen). Diese Kandidatur ist zugleich eine Bewegung, die sehr viele neue Wähler in den demokratischen Prozess hineingezogen hat, und zwar vor allem junge und parteipolitisch ungebundene Bürger. Dank der Begeisterung dieser Leute – und des Kopf-an-Kopf-Rennens mit Hillary Clinton – hat die Beteiligung an den Vorwahlen und den Caucus-Abstimmungen der Demokraten im ganzen Land einen historischen Höchststand erreicht.1 Offenbar hat Obama in den diesjährigen Präsidentschaftswahlkampf eine mobilisierende Unmittelbarkeit hineingebracht, die es lang nicht mehr gegeben hat.
Gleichwohl gehen die Meinungen darüber, was die Kandidatur Barack Obamas bedeutet, weit auseinander. In den Augen seiner Anhänger repräsentiert der Senator aus Illinois eine vollkommen neue Kraft in der US-Politik, weil er sich über die Lagermentalität zwischen den Parteien hinwegsetzt und uns auffordert, auf der road map in die Zukunft eine „neue Seite“ aufzuschlagen. Für seine Gegner in der Demokratischen Partei – zumal für die Gefolgsleute von Hillary Clinton – hat er außer Schwulst, jugendlichem Auftreten und politischer Unerfahrenheit nichts zu bieten. Und gestandene Republikaner finden ihn charmant, aber nicht weiter geheimnisvoll: ein Linker der alten Schule, der für mehr Steuern und höhere Staatsausgaben eintritt und sich von seinen demokratischen Vorgängern kaum unterscheidet.
Jede dieser drei Sichtweisen trifft einen wahren Kern. Obama wirkt so unverbraucht und sein Leben verlief so ungewöhnlich, dass er schier unerschöpflichen Stoff für die Kommentarspalten bietet. Obamas Vater stammt aus Kenia und seine Mutter aus Kansas; er selbst ist in Hawaii und in Indonesien aufgewachsen, wo seine Mutter für ihre ethnologische Doktorarbeit Feldforschung betrieb und zum zweiten Mal heiratete – so kam Barack zu seinem indonesischen Stiefvater. Nach seinem Studium am Occidental College in Los Angeles und an der Columbia University in New York arbeitete er in den schwarzen Elendsvierteln der Chicagoer South Side als Sozialarbeiter, bevor er sein Jurastudium an der Harvard University in Massachusetts abschloss. Bei einem solchen Lebenslauf verwundert es nicht, dass Obama zu allerlei Projektionen einlädt und die unterschiedlichsten Erwartungen weckt.
Barack Obama ist zwar kein Architekt, aber doch ein Heilsbote der modernen Demokratischen Partei. Seine Kandidatur setzt auf die bekannten demokratischen Themen. Vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre hinein war das Kennzeichen der Demokratischen Partei ihr Widerstand gegen die erkennbare Konzentration von Macht und Geld in der US-Gesellschaft. Demokratische Präsidentschaftsanwärter wie William Jennings Bryan (der 1896, 1900 und 1908 kandidierte), Woodrow Wilson (der 1912 und 1916 gewählt wurde), Franklin Roosevelt (der von 1932 bis 1944 amtierte) und der 1948 gewählte Harry Truman führten ihre Wahlkampagnen für das „Volk“ und gegen die „Interessen“ von Big Business. Sie hatten eine plebiszitäre Auffassung von politischer Macht, wonach die Menschen direkt (oder mindestens so direkt wie möglich) regieren sollten und „private“ Machtzirkel als korrupt und eigensüchtig galten. Sie ereiferten sich über die Machtkonzentration in der Hand der Kapitalisten, die mal als „Trusts“, mal als „Big Business“ firmierten. Die Demokraten kämpften gegen die Privilegien der Eliten und für die Rechte des „kleinen Mannes“ – der war damals weiß und hatte einen europäischen Stammbaum. In der Entwicklung der Parteiideologie der Demokraten war das die populistische Phase.2
Nach 1945 schwächte sich der klassenkämpferische Populismus allmählich ab. Das begann mit Adlai Stevenson (der 1952 und 1956 erfolglos kandidierte) und setzte sich in den Wahlkämpfen von John F. Kennedy (Wahlsieger 1960), Lyndon B. Johnson (Wahlsieger 1964) und Hubert Humphrey (erfolglose Kandidatur 1968) fort. Statt die Klassengegensätze zu betonen, formulierten die Demokraten nun ein anderes Selbstbild und neue politische Ziele. Natürlich verteidigte die Partei immer noch die New-Deal-Reformen der Roosevelt-Ära und versuchte noch mehr Gruppen in die sozialpolitischen Programme – und insbesondere in die Sozialversicherung – einzubeziehen. Doch bei öffentlichen Auftritten verzichtete man auf jede „klassenkämpferische“ Rhetorik. Stattdessen verlegten sich die Demokraten auf eine Ideologie des Universalismus, die alle Rassen, Klassen und Glaubensbekenntnisse vereinen wollte.
Mit dieser rhetorischen Strategie wollte man zum einen der angeblichen Bedrohung durch kommunistische Unterwanderung entgegentreten (der Kalte Krieg hatte damals seinen Höhepunkt erreicht!) und zum anderen den Einfluss der zunehmend unpopulären Gewerkschaftsbewegung auf die Partei beschränken. Nach 1945 verzichteten die Demokraten auf die Forderung, private Unternehmertätigkeit durch staatliche Vorschriften zu regulieren, und anders als noch in New-Deal-Zeiten blieben die Großkonzerne von Generalangriffen verschont. Doch der Wir-ziehen-alle-an-einem-Strang-Geist sollte nicht nur den Verdacht entkräften, dass man sozialistische Ziele und unamerikanische Umtriebe verfolge. Der neue Universalismus formulierte auch eine grundsätzlich neue Politik.
Seit die Demokratische Partei 1948 erstmals den Kampf für mehr Bürgerrechte in ihr Wahlprogramm aufgenommen hatte, unterstützte sie die aktive Durchsetzung der Rechte von Frauen und ethnischen Minderheiten durch die Regierung, wobei das Wort Minderheit zunächst ausschließlich auf die Schwarzen bezogen blieb. Nachdem mit den Bürgerrechten für die Schwarzen ein Präzedenzfall gesetzt war, kämpfte die Partei weiter: für die Rechte von Frauen, Latinos und Schwulen; und sie engagierte sich für eine Vielzahl kleinerer Minderheiten und Gruppen mit besonderen Forderungen. Das Prinzip der „Rechte“ wurde auf alles Mögliche ausgeweitet. Man könnte sogar formulieren, das Leitbild von der „Herrschaft der Mehrheit“, das die Demokraten im Lauf des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, wurde durch die Ideologie der „Rechte der Minderheiten“ abgelöst.
Der letzte Schritt auf diesem Weg zu brüderlich-schwesterlicher Einigkeit stand aber noch aus. Bis dahin waren die Bannerträger der Partei, also die Präsidentschaftskandidaten, ausschließlich weiß und männlich gewesen. Man hatte Frauen und ethnische Minderheiten zwar als Wähler umworben, der höchste Job blieb ihnen jedoch verwehrt (obwohl sich zum Beispiel Geraldine Ferraro und Jesse Jackson darum beworben haben). Nachdem die Demokraten fünfzig Jahre lang der „Inklusion“ das Wort geredet haben, scheinen sie nun entschlossen, damit ernst zu machen. Wer immer auf dem Nominierungsparteitag im Juli das Rennen macht, der Sieger wird mit seiner beziehungsweise ihrer Lebensgeschichte die Mission der modernen Demokratischen Partei verkörpern.
Die Gegensätze in der US-Gesellschaft überwinden
Der einzige ernst zu nehmende Bewerber mit weißem Gesicht und Y-Chromosom war John Edwards, der aber nach den ersten Vorwahlen ausschied. Wobei festzuhalten bleibt, dass Edwards mit seiner im alten Sinne populistischen Wahlkampagne, die auf Klassengegensätze und Einkommensunterschiede abhob, nicht genug politische Zugkraft entwickeln konnte.
Von den beiden verbliebenen Kandidaten stellte einer das universalistische Motiv besonders stark in den Vordergrund. Während sich Hillary Clinton als Politprofi darstellt, als Vorkämpferin einer Krankenversicherung für alle und als Mit-Präsidentin der Clinton-Jahre, präsentiert sich Barack Obama als personifizierte Krönung der demokratischen Inklusionspolitik. Dabei trifft er die Stimmung seiner Partei in diesem postindustriellen Zeitalter nicht nur durch seine ermutigende Lebensgeschichte, sondern auch durch den hohen Ton seiner Reden.
Beim Nominierungsparteitag der Demokraten im Juli 2004 beeindruckte der Kandidat, der sich damals für einen Senatorensitz des Staates Illinois bewarb, die Delegierten durch seinen unideologischen Ruf nach Gemeinschaft und Vertrauen in die staatsbürgerlichen Tugenden. In dieser mittlerweile berühmten Rede sagte er:
„Es gibt nicht ein liberales Amerika und ein konservatives Amerika – es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt nicht ein schwarzes Amerika und ein weißes Amerika und ein Latino-Amerika und ein asiatisches Amerika, es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika … Wir beten zu einem Ehrfurcht gebietenden Gott auch in den blauen Staaten (mit demokratischer Mehrheit); und auch in den roten Staaten (mit republikanischer Mehrheit) mögen wir es nicht, wenn die Bundespolizei die Ausleihdaten unserer öffentlichen Büchereien durchschnüffelt … Es gibt Patrioten, die gegen den Krieg im Irak waren, und Patrioten, die dafür waren. Wir sind ein Volk: Wir alle bekennen uns zu den Stars and Stripes unserer Flagge, und wir alle verteidigen die Vereinigten Staaten von Amerika.“
Auf seinen Wahlveranstaltungen, die häufig mit religiösen Erweckungsfeiern verglichen werden, ruft Obama seinen Anhängern immer wieder in Erinnerung, dass alle Amerikaner, ungeachtet von Rasse, Klasse oder Geschlecht, es zu Wohlstand bringen können. Und er verweist auf seinen eigenen Namen, der ein Beleg für die typisch amerikanischen Möglichkeiten sei:
„(Meine Eltern) gaben mir einen afrikanischen Vornamen, Barack oder ‚der Gesegnete‘, weil sie glaubten, dass in einem toleranten Amerika der Name einem erfolgreichen Leben nicht im Wege steht. Sie malten sich aus, dass ich, auch wenn sie nicht reich waren, die besten Schulen des Landes besuchen würde, weil man in einem großzügigen Amerika nicht reich sein muss, um sein Potenzial auszuschöpfen.“
Obama stellt sich als Kandidat dar, der Parteien und Hautfarben überwindet und einen Konsens für den „Wandel“ herstellen will. Deshalb können seine Anhänger vieles in ihn hineinsehen, unabhängig von seiner tatsächlichen Haltung in konkreten politischen Fragen. Das liegt nicht daran, dass er sich nur ungern auf bestimmte Positionen festlegen würde – beim Thema Irak hat er früh und eindeutig Stellung bezogen3 –, sondern daran, dass seine Anhänger diese ignorieren und sich lieber an den Gesamteindruck seines Auftretens halten.
Die Verschmelzung von Form und Inhalt kommt nirgends deutlicher zum Vorschein als in der Formel „Yes we can“, die seine Reden wie eine Beschwörung von Inklusion und Toleranz durchzieht und in ihrer Dialogstruktur zwischen Prediger und Gemeinde an afroamerikanische Gottesdienste erinnert.
Deshalb ist es keineswegs überraschend, dass es die demokratischen Wähler bei den diesjährigen Vorwahlen zu diesem Verkünder des Wandels drängte. Schließlich verkörpert Obama das, wonach sich die Partei seit nunmehr fünfzig Jahren sehnt. In ihm findet der Universalismus der Demokraten seinen höchsten Ausdruck.
Im Lauf seines Wahlfeldzugs sah sich Obama allerdings wiederholt – zuerst von Hillary Clinton und dann von dem republikanischen Kandidaten John MacCain – dem Vorwurf ausgesetzt, er bleibe „rein rhetorisch“ und rede „eloquent, aber inhaltsleer“, sei also ein politisches Leichtgewicht. Und in der Tat befürchten einige, dass es ihm an politischer Substanz mangeln könnte und dass er kein klares Programm habe.
In solchen Angriffen artikulieren sich legitime Vorbehalte. Das „politische Geschäft“ braucht heute jedoch die großen Worte ebenso wie eine suggestive Sprache, die im gegenwärtigen Politlexikon oft als „Poesie“ gilt – auch die wurde Obama schon mehrfach vorgehalten. Die Fähigkeit, ein Publikum anzusprechen, gehören aber nun mal zu den Kernqualifikationen dieses Berufs. Politik hat nicht zuletzt mit rhetorischem Können zu tun. Auch bei Reagan haben die Menschen zugehört, und was er sagte, hat ihnen gefallen – von George Bush senior und George Bush junior lässt sich das nicht behaupten. Und auch Bill Clintons auffälligste Eigenschaft, die ihn von fast allen demokratischen Präsidentschaftsbewerbern der letzten Jahre (einschließlich seiner Gattin) unterschied, war seine fabelhafte Fähigkeit als Kommunikator. Ohne diese Fähigkeit kann es ein Kandidat oder eine Kandidatin nicht allzu weit bringen.
Hillarys Strategen reiten pausenlos darauf herum, dass die Kandidatur eine Sache der „Poesie“ sei, das Regieren dann aber in „Prosa“ stattfinde. Doch dieser Allgemeinplatz lässt außer Acht, dass die Politiker im heutigen Zeitalter permanenter Wahlkämpfe ihr Handwerk auf beiden Ebenen, und zwar ständig, beherrschen müssen. Nicht zufällig sind die Politiker, die als große Figuren in die Geschichte der Vereinigten Staaten eingingen, zugleich diejenigen, an deren Worte wir uns erinnern.
Auch Abraham Lincoln wurde seinerzeit, wie Obama heute, von seinen Gegnern vorgeworfen, er verberge sein wahres Programm in einem Nebel wohltönender, aber inhaltlich zweideutiger Worte. Im Kampf um die republikanische Kandidatur für die Präsidentenwahlen von 1860 wurde Lincoln wiederholt gedrängt, sich zur Abschaffung der Sklaverei zu bekennen. Lincoln führte seinen Wahlfeldzug damals unter dem Banner des Nationalismus und präsentierte sich als Retter der Union – also nicht als Retter der schwarzen Männer und Frauen. Er äußerte seine Abscheu gegenüber der Sklaverei, stellte dabei aber stets klar, dass dies nur seine persönliche Meinung und nicht die Position der Partei sei, weshalb sie im Fall seiner Wahl die Regierungspolitik kaum beeinflussen werde.
Dies ist ist gewiss eines der krassesten Beispiele für das ausweichend zweideutige Verhalten eines Politikers. Und doch würden höchstwahrscheinlich die meisten US-Wähler von heute Lincolns Verhalten richtig finden. Denn so sicherte er sich die Nominierung und später auch den Wahlsieg.
Sollten die Demokraten Barack Obama zu ihrem Kandidaten für die Wahl im November küren, wird es kaum seine ethnische Abstammung sein, die ihn politisch angreifbar macht. Eine kontroverse Figur wird er vielmehr deshalb bleiben, weil er seinem politischen Profil nach ein „Liberaler“, das heißt ein „Progressiver“ im europäischen Sinne ist. Denn sein Abstimmungsverhalten – anfangs in Illinois und seit 2005 als Senator im Kongress – wie auch seine politischen Verbündeten zeigen, dass er innerhalb der Demokratischen Partei auf dem linken Flügel steht.
Falls er nominiert wird, dürfte er einst als der linkeste Präsidentschaftskandidat seit George McGovern im Jahr 1972 gelten.4 Ob Obama als bekennender Linker antritt oder als der über allem Parteiengezänk schwebende Kandidat, wird sich dann auch zeigen.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke John Gerring lehrt Politikwissenschaften an der Boston University. Er ist Autor von „Party Ideologies in America, 1828–1996“, New York (Cambridge University Press) 2001. Joshua Yesnowitz ist Doktorand an der Boston University.