Koka ist nicht Kokain
Plädoyer für eine vielseitige Nutzpflanze von Johanna Levy
Kennen Sie viele Pflanzen, die mehr Kalzium liefern als Milch, mehr Eisen als Spinat und so viel Phosphor wie Fisch?, will Nieves Mamani wissen.
Sie ist Mitglied in der Kokabauern-Gewerkschaft in der bolivianischen Provinz Chapare. Arbeitslosigkeit und der Mangel an anderen konkurrenzfähigen Agrarprodukten haben sie gezwungen, den Anbau von Koka zu ihrer Haupterwerbsquelle zu machen – wie hunderttausende andere Bauern in den Anden. „Unsere Hoffnung ist, Koka in der ganzen Welt zu vermarkten“, sagt Frau Mamani. „Das würde nicht nur unsere wirtschaftliche Existenz sichern, wir würden auch nicht mehr von der Gunst der Drogenhändler abhängen.“
Doch der Internationale Suchtstoffkontrollrat (International Narcotics Control Board, INCB)1 hat in seinem Bericht vom 5. März dieses Jahres Koka abermals als illegal eingestuft. Er appelliert von Neuem an „Bolivien und Peru, ihre nationalen Gesetze zu ändern“, um auch „das Kauen der Kokablätter und die Herstellung von Tee“ zu verbieten.2
Für Präsident Evo Morales ist das ein harter Schlag: Seit er 2005 an die Macht kam, ist er fest entschlossen, der internationalen Gemeinschaft zu zeigen, dass das Kokablatt keine Droge ist. Würden die Länder des Nordens es nicht als Kokain konsumieren, wäre Koka nie so stigmatisiert worden, meint Emilio Caero, Kokabauer in den Yungas, einer anderen großen Anbauregion. „Wir zahlen den Preis für eine Praxis, die unserer Kultur völlig fremd ist.“
Die heilige Pflanze der Anden3, die „mama coca“, ist in der Tat im 20. Jahrhundert zum Opfer ihrer zahlreichen Vorzüge geworden. Das kleine grüne Blatt mit der botanischen Bezeichnung Erythroxylon coca, das seit Jahrtausenden von den Kulturen der Inka und deren Vorgängern und seit Jahrhunderten von den Völkern Amazoniens und den Guaraní zu religiösen und therapeutischen Zwecken verwendet wurde, ist vor allem für seine energiespendende Wirkung bekannt. Sicher, die Missionare hielten es schon im 16. Jahrhundert für Teufelszeug. Doch gekaut oder als Tee genossen, vervielfachte es den Gewinn aus der Arbeitsleistung der indianischen Zwangsarbeiter in den Minen. Später sorgte es dann für den Erfolg des berühmtesten Getränks der Welt: Coca-Cola.4
Vor allem seine betäubenden und schmerzlindernden Eigenschaften verhalfen dem Koka zu medizinischem Ruhm, nachdem Albert Niemann im Jahre 1858 das Alkaloid Kokain entdeckt hatte. Dabei macht das Kokain weniger als 1 Prozent der 14 Alkaloide aus, die aus dem Kokablatt extrahiert werden können. Bis der deutsche Biochemiker Richard Willstätter 1923 das synthetische Molekül entwickelte, war Koka ein wichtiges Medikament des modernen pflanzlichen Arzneibuchs – verwendet als Lokalanästhetikum in der Augenchirurgie, aber auch für die Behandlung von Atemwegserkrankungen wie Tuberkulose oder Asthma.5
Die einen koksen, und die andern dürfen nicht forschen
Dann büßte das Kokablatt in der westlichen Welt seinen guten Ruf ein. Es sei die Ursache für die Kokainsucht von Millionen von Konsumenten auf der ganzen Welt. Die UNO verhängte ein Vermarktungsverbot außerhalb der Grenzen der Erzeugerländer.
Für die Forscher des Transnational Institute, das sich unter anderem mit der kritischen Analyse der internationalen Drogenpolitik befasst, ist das Kokablatt Opfer eines doppelten Irrtums: Zum einen wurde seine Wirkung mit der des Kokains verwechselt, zum anderen wurde geglaubt, dass der Konsum von Kokablättern oder auch von Kokain zu ähnlicher physischer Abhängigkeit führt wie der Konsum von Opiaten.6 „Man könnte sagen, Koka wird dafür bestraft, die Basis des Kokains zu sein. Aber wie steht es dann mit den verschiedenen Arten von Ephedra (Meerträubel), von denen keine in den internationalen Abkommen vorkommt, obwohl das ihnen eigene Alkaloid Ephedrin die Grundlage eines immensen Markts von Amphetaminen ist. Und was ist mit der Rinde des Sassafrasbaums, aus der Safrol extrahiert wird, ein Vorprodukt von Ecstasy?“7 „Aus Kokablättern kann man Kokain gewinnen“, sagt Caero. „Doch dazu braucht man zig chemische Produkte, deren Patente den Unternehmen des Nordens gehören.“ Für die Fachleute vom Transnational Institute beruht das internationale Verbot des Handels mit Kokablättern „auf falschen wissenschaftlichen Daten, die nichts als kulturelle Vorurteile zum Ausdruck bringen.“
Seit Mitte der 1970er-Jahre haben Studien gezeigt, dass das reine Kokablatt keine Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem hat.8 Der geringe Gehalt an Kokain, der beim Kauen freigesetzt wird, wird im Verdauungstrakt vollständig abgebaut. Die nützlichen Eigenschaften der Pflanze wurden wiederholt von wissenschaftlichen Analysen bestätigt. Forscher der Universität Harvard haben 1975 gezeigt, dass Kokablätter als Nahrungsmittel ähnlich wertvoll sind wie Quinoa, Erdnuss, Weizen oder Mais. „Was die Ernährung angeht, gibt es keinen Unterschied zwischen dem Konsum von Koka und gewöhnlicher Nahrungsaufnahme.“9 Da Kokablätter reich an Mineralstoffen, Ballaststoffen und Vitaminen, aber arm an Kalorien sind, könnten sie eines der besten Nahrungsmittel der Welt sein. Ciro Hurtado Fuentes, Direktor des Instituts für Ernährungskultur der Anden, befürwortet daher ihre Verwendung in Form von Mehl.10
Inzwischen konnten auch die pharmazeutischen Qualitäten des Kokablatts nachgewiesen werden. Eine Analyse von dreien seiner Alkaloide durch das französisches Institut IRD und bolivianische Laboratorien haben gezeigt, dass Koka nicht nur das Leben in großer Höhe erleichtert, indem es die Sauerstoffaufnahmefähigkeit des Bluts verbessert und die Gerinnung reduziert, sondern dass es auch den Zuckerstoffwechsel reguliert.11
Bei diesen Eigenschaften wären Anwendungsmöglichkeiten bei der Behandlung von Diabetes oder gar zur Vorbeugung von Parkinson denkbar. Eine ausführlichere Erforschung aller 14 im Kokablatt enthaltenen Alkaloide könnte sich als durchaus nützlich erweisen, doch das Forschungsfeld ist durch internationale Verbote versperrt.
Ein kleiner Rückblick: 1949 reiste eine UN-Kommission nach Peru und Bolivien, um „die Folgen des Kokakauens zu untersuchen und die Möglichkeiten der Produktion von Koka zu beschränken und seine Verbreitung zu kontrollieren“. Wie ihr Auftrag erwarten ließ, bestanden die Autoren darauf, dass Kokakauen schädlich sei – für das Individuum wie für die produzierende Nation. Es führe zu Fehlernährung und habe „unerwünschte Auswirkungen auf Geist und Intellekt“ der Andenbewohner. „Acculico“, wie das Kauen von Kokablättern in den Anden genannt wird, wurde für die Armut des Subkontinents mitverantwortlich gemacht, weil es angeblich die Arbeitskraft der Bevölkerung vermindere. Es sei jedoch nicht mehr als eine „Gewohnheit“.
1952 korrigierte das Expertenkomitee für Drogenabhängigkeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese Einschätzung. Es kam zu dem Schluss, dass Acculico „alle Anzeichen einer Sucht aufweist“.12 1961 wurde auf Druck der USA, des weltgrößten Abnehmers von Kokain,13 der Kokastrauch im Einheitsabkommen der UN über Betäubungsmittel unter den „psychotropen Pflanzen“ aufgeführt. Koka wird somit einem Kontrollsystem unterworfen, das laut den Forschern des Transnational Institutes „weit über das hinausgeht, was bei anderen psychotropen Pflanzen üblich ist, von denen viele wesentlich besser geeignet sind, das Bewusstsein zu beeinflussen, wie Kawa-Kawa (Piper methysticum, auch Rauschpfeffer), das Kratom (Mitragyna speciosa, auch Roter Sentolbaum) und verschiedene Halluzinogene“.14
Somit waren fortan Produktion, Verarbeitung und Handel mit Koka verboten. Einzig ihr traditioneller Gebrauch blieb innerhalb der Grenzen jener Länder erlaubt, in denen es Beweise für den Konsum in früheren Zeiten gibt wie in Bolivien und in Peru. Auffällig ist, dass zwei Akteure von dem Verdikt ausgenommen sind: die Pharmaindustrie in den USA – und Coca-Cola. Da die Andenpflanze mit dem Kokain gleichgesetzt wurde, ihre Konsumenten mit Drogenabhängigen und ihre Erzeuger mit Drogenhändlern, erklärte die „internationale Gemeinschaft“ ihr den Krieg. Die Erzeugerländer setzten auf eine Politik der zwangsweisen Vernichtung von Kokakulturen. Während der riesige Schwarzmarkt für Kokain den Händlern Geld in die Taschen spülte, bezahlten die kleinen Erzeuger in den Anden als Erste den Preis für diese Politik.
Forschungsergebnisse unabhängiger Laboratorien wurden ignoriert. Die verschiedenen Anträge auf Revision des Status der Koka, die von den Regierungen Boliviens und Perus gestellt wurden, scheiterten. Die einzige bis heute angestellte Untersuchung, der Bericht von 1950, blieb die alleinige Beschlussgrundlage für die UNO.
In den 1990er-Jahren startete die WHO in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Forschungsinstitut der Vereinten Nationen für Kriminalität und Rechtspflege (Unicri) das ambitionierte Projekt „Kokain WHO/Unicri“. Die Studie war auf vier Jahre angelegt, unter Beteiligung von 45 internationalen Forschern, durchgeführt in 19 untersuchten Ländern auf fünf Kontinenten.
Das Ergebnis sorgte 1995 auf der WHO-Generalversammlung in Genf für einen Skandal: Es hob die gesundheitlichen Vorzüge des traditionellen Gebrauchs des Kokablatts hervor und empfahl weitere Forschungen über dessen therapeutische Eigenschaften. Neil A. Boyer, der Vertreter der USA bei der WHO, warf der Studie vor, für Kokain zu werben, indem sie bescheinige, dass der Gebrauch von Kokablättern keine wahrnehmbaren physischen und mentalen Folgen für die Gesundheit habe“.15 Er drohte, seine Regierung werde die finanzielle Unterstützung stoppen, falls das Ergebnis angenommen würde. Es wurde dann auch nie als offizielles Dokument veröffentlicht.
Für die Andenländer hatte dies verhängnisvolle Konsequenzen. Die 1990er-Jahre stehen für die Durchsetzung einer immer repressiveren Politik zur Ausrottung der Kokakulturen. 1998 beschloss die Vollversammlung der Vereinten Nationen, den „Krieg gegen die Drogen“ zu verschärfen. Unter dem Druck Washingtons unterstützte sie auch den „Plan Dignidad“ für Bolivien. Dabei ging es unter dem Motto „Null Koka“, das der General und damalige Präsident Hugo Banzer ausgab, um die zwangsweise und entschädigungslose Zerstörung der Kokapflanzungen. Im selben Jahr billigte der Kongress der Vereinigten Staaten das „Projekt zur Eliminierung der Droge auf dem amerikanischen Kontinent“. Mit einem Budget von 23 Millionen Dollar sollten die Pflanzenvernichtungsmittel verbessert werden, die in Kolumbien zur Zerstörung der Pflanzen eingesetzt wurden, zudem Hubschrauber und verschiedene militärische Trainingsprogramme im Rahmen des „Plan Colombia“ bezahlt werden. Neue Mikroherbizide wurden erforscht, darunter ein unter Experten umstrittener, die Kokapflanze angreifender Pilz. Die Gefahren für die Umwelt wurden nicht beachtet.
In Bolivien und in Peru, ebenso wie später in Kolumbien, wurde der illegale Anbau für den Drogenhandel zu einer Überlebensstrategie in einer Zeit struktureller Anpassungen. In Peru verschärfte die zwangsweise Zerstörung der Kokapflanzungen die sozialen Konflikte und schadete der lokalen Wirtschaft. Die Pflanzungen wurden verlagert und versteckt und trugen so zur Zerstörung der Wälder bei.
In Bolivien kam es in jener Zeit regelmäßig zu Auseinandersetzungen. In der Provinz Chapare wurde zwischen einem Drogenhändler und einem Bauern kein Unterschied gemacht. In den Jahren 1998 bis 2002 gab es 33 Tote, 567 Verletzte und 693 Inhaftierte aufseiten der Cocaleros (Kokabauern) und 27 Tote und 135 Verletzte in den Reihen der Armee.16 „Kawsachun coca, wanuchun yanquis!“ wurde zum Schlachtruf der Kleinerzeuger: „Es lebe die Koka, raus mit den Yankees!“
„Die Demokratie war für uns nicht demokratisch, das war totalitär“, erinnert sich die Gewerkschafterin Mamani. „Viele von uns wurden umgebracht, gefoltert, eingesperrt. Sie wollten uns schwächen, uns auseinanderbringen, aber sie haben genau das Gegenteil bewirkt.“ Die von den internationalen Organisationen empfohlene Strategie des Kampfs gegen den Drogenhandel hatte zwar keine Auswirkungen auf den Weltmarkt für Kokain, aber sie beschleunigte die Bildung des mächtigen Gewerkschaftsverbands der Kokabauern vom Chapare. 2005 wurde mit Evo Morales der Anführer der Cocaleros ins Präsidentenamt gewählt. Auf ihm lastet nun die Aufgabe, die UNO davon zu überzeugen, dass die Kokapflanze neu bewertet werden muss.
Das Projekt „Kokain WHO/Unicri“ ist nicht vergessen. Aber die Warnrufe des US-Botschafters in La Paz lassen ahnen, wie die neue bolivianische Politik in Sachen Koka in Washington aufgenommen wird (siehe Kasten). Für Jorge Alvarado, Chefdiplomat Boliviens in Venezuela, ist die Erklärung einfach: „Die Forderung nach Zerstörung der Kokapflanzungen und die Behauptung, unsere Regierung unterstütze die Drogenproduktion, gestatten es den USA, sich weiterhin in unsere inneren Angelegenheiten einzumischen.“
Das reicht, um – mit impliziter Unterstützung der WHO und der „internationalen Gemeinschaft“ – an einem Irrtum festzuhalten, der seit einem halben Jahrhundert die Rechte und Traditionen der Ureinwohner eines Kontinents, der einst Abya Yala17 hieß, mit Füßen tritt.
Aus dem Französischen von Manuela Lenzen und Martin Klaus Johanna Levy ist Journalistin in Caracas.