Maoisten wagen Demokratie
Eine neue Verfassung für den Vielvölkerstaat Nepal von Marie Lecomte-Tilouine
Die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung am 10. April 2008 war in der Geschichte Nepals ein einschneidendes Ereignis. Diese Wahl, die von den politischen Parteien seit 1951 vergeblich gefordert und 2007 zweimal annulliert worden war, bedeutet einen wichtigen Schritt in Richtung partizipativer Demokratie.
Im Verlauf der kommenden zwei Jahre sollen die 601 Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung neben ihren parlamentarischen Aufgaben eine endgültige Verfassung aufsetzen. Das wird ein hartes Stück Arbeit. Denn die am 15. Januar 2007 verkündete vorläufige Verfassung enthält zwei umstrittene Grundsätze: Schon in der ersten Sitzung (drei Wochen nach Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses) soll es um das Schicksal der Monarchie gehen. Das zweite heikle Thema ist die Schaffung einer Föderation, die Aufteilung Nepals in Bundesstaaten.
In dem Land mit seinen 28 Millionen Einwohnern gibt es etwa hundert ethnische Gruppen und ungefähr sechzig registrierte Sprachen. Über 80 Prozent der Nepalesen sind Hindus, knapp 11 Prozent Buddhisten. Historisch ist Nepal aus mehr als fünfzig ehemals unabhängigen Königreichen entstanden, die zwischen 1769 und 1815 von der bis heute herrschenden Shah-Dynastie des kleinen Königreichs Gorkha in Zentralnepal annektiert wurden.
Von der Wasserkraft abgesehen, verfügt Nepal über wenig Naturressourcen. In vielen Regionen, wo es zum Teil weder Straßen noch eine Stromversorgung gibt, ist die Infrastruktur völlig unzureichend. Nach einer Föderalisierung des Landes wird die Grundversorgung für einzelne Bundesstaaten noch schwieriger werden.
Seit 1960 war die Bildung von Parteien im autokratischen Königreich Nepal verboten, bis es einer starken Demokratiebewegung im November 1990 gelang, dass das Mehrparteiensystem wiedereingeführt wurde. Es folgte eine Zeit politischer Unsicherheit. In immer kürzeren Abständen folgte eine Regierung der nächsten, und es kam immer häufiger zu politisch motivierten Gewaltausbrüchen.
Am 13. Februar 1996 rief die kleine Kommunistische Partei Nepals-Maoisten (CPN-M) den „Volkskrieg“ aus. Sie gründete eine rasch wachsende Armee, die in Kämpfen gegen Polizisten und Soldaten immer ausgefeiltere Waffen erbeutete. Als im Juni 2001 König Birendra, Königin Aishwarya und sechs weitere Mitglieder der Königsfamilie vom Kronprinzen Dipendra umgebracht wurden und im darauffolgenden Herbst die Armee intervenierte, stürzte das Land in einen Bürgerkrieg.1
Außerhalb der städtischen Zentren und der fruchtbaren Terai-Ebene im Süden hatte die Regierung das Land nicht mehr unter Kontrolle. Der größere Teil wurde von der CPN-M beherrscht, die in Dörfern und Distrikten Volksverwaltungen einsetzte, eine Kriegswirtschaft installierte und eine Kulturrevolution durchführte. Unter solchen Verhältnissen ließen sich keine Wahlen mehr organisieren. Die Mandate der 1999 gewählten Parlamentarier wurden einfach verlängert, bis am 1. Februar 2005 König Gyanendra, der sich wenige Tage nach der Ermordung seines Bruders Birendra zum König hatte ausrufen lassen, die Regierung absetzte und sich zum Alleinherrscher erklärte.
Er beseitigte die Versammlungs- und Redefreiheit und ignorierte den augenfälligen Wunsch seiner Untertanen nach politischer Partizipation. Dafür boykottierte man die ohne Absprache mit den Parteien einberufenen Kommunalwahlen. Im Dezember 2005 verbündeten sich die oppositionellen Parteien zu einer Sieben-Parteien-Allianz – vorweg die Nepalesische Kongresspartei (NC) und die Kommunistische Partei Nepals-Vereinigte Marxisten-Leninisten (CPN-UML) – und schlossen mit den Maoisten einen Pakt für die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse.
Im Winter 2006 verstärkte die Volksbefreiungsarmee ihre Aktionen. Schließlich zwang ein Volksaufstand, der teilweise von den Parteien unter Einschluss der Maoisten organisiert worden war, den König zu seiner Erklärung vom 24. April 2006, mit der er die Macht abgab und die Wiedereinsetzung des Parlaments verkündete.
Am 18. Mai proklamierte das Parlament das Ende der Monarchie und den Beginn der demokratischen und säkularen Republik Nepal. Der im November unterzeichnete Friedensvertrag beendete einen zehnjährigen blutigen Bürgerkrieg mit mindestens 13 000 Toten und tausenden Verletzten, Verschwundenen und Vertriebenen. Der Friedensvertrag beschloss die „Überwachung der staatlichen Armee und der Volksbefreiungsarmee der Maoisten und eine Kontrolle ihrer Waffen durch die UN“2 sowie eine Interimsverfassung und die Ausrichtung von Wahlen für eine verfassunggebende Versammlung.
Anfänglich konnten sich die Parteien jedoch weder über den Wahlmodus noch über den Zuschnitt der Wahlbezirke einigen. Zweimal wurden die (für Juni, dann für November 2007) angekündigten Wahlen annulliert, nachdem der Wahlkampf bereits begonnen hatte. Schließlich setzte sich ein Mischsystem durch: Von den 601 Abgeordneten sollten 240 direkt gewählt, 335 über die Wahllisten der Parteien ermittelt und 26 direkt vom Ministerrat ernannt werden.
Im April verteilten sich 90 000 nationale und 1 000 internationale Wahlbeobachter über das ganze Land. Die Grenze zu Indien wurde für drei Tage geschlossen, um Gewaltakten von Splittergruppen im Staat Bihar zuvorzukommen. Nachdem sogar der Einsatz der Armee erwogen worden war, übernahmen 135 000 Polizisten den Schutz der 9 821 Wahllokale, 9 648 Kandidaten und 17,6 Millionen eingetragenen Wähler. Die Wahlbeteiligung lag bei 60 Prozent, die Wahl verlief weitgehend ohne Zwischenfälle.
Ein Ergebnis war schwer vorauszusagen, denn die Maoistische Partei trat zum ersten Mal an, und viele Parteien waren nur im Hinblick auf diese Wahlen gegründet worden. Die Wahlkommission registrierte 54 Parteien. Eindeutige Sieger wurden entgegen allen Erwartungen die maoistischen Exrebellen der CPN-M, und zwar speziell bei der Direktwahl in den Wahlkreisen (wo sie 119 von 240 Sitzen errangen), aber auch bei der Listenwahl (wo sie rund 30 Prozent der Stimmen erhielten). Insgesamt errangen sie 220 Sitze und sind damit die stärkste Kraft in der verfassunggebenden Versammlung, während die Nepalesische Kongresspartei (NC) mit 108 Sitzen und die Kommunistische Partei Nepals (CPN-UML) mit 101 Sitzen weit hinter ihren Erwartungen zurückblieben. Den Erfolg der Maoisten erklärten Beobachter zum einen mit dem allgemeinen Willen zur Veränderung, zum anderen mit der Diskreditierung der Parteien, die in den 1990er-Jahren an der Macht gewesen waren, und denen es nicht gelungen war, die wirtschaftliche Situation des Landes zu verbessern.
Das Programm der drei wichtigsten Parteien enthält viele gemeinsame Punkte: Einig ist man sich beim Mehrparteiensystem, das bereits in der Interimsverfassung festgeschrieben wurde, beim Zweikammersystem der Legislative und bei einem föderativen System, das die ethnischen und regionalen Besonderheiten berücksichtigen soll.
Unstimmigkeiten gibt es hingegen beim Präsidialsystem, das nur die Maoisten verlangen. Und was die Zukunft der 20 000 Kämpfer der Volksbefreiungsarmee betrifft, befürwortet die CPN-UML ihre Integration in die Armee, während die Maoisten die Koexistenz von zwei getrennten Armeen planen.
Zwar hat die Sieben-Parteien-Allianz bereits erklärt, Nepal werde eine Republik sein, aber man muss bedenken, dass für einen Teil der Bevölkerung der Monarch noch immer symbolisch die Nation verkörpert. König Gyanendra war seit der Übergabe der Macht im April 2006 nicht mehr sehr gesprächig, doch kürzlich gab er zu bedenken, dass die Abschaffung der Monarchie eine Entscheidung sei, die vom Volk getroffen werden müsse, also durch ein Referendum. Dieser Prozess dürfte noch für einige Unruhe sorgen.
Das größte Problem ist jedoch die Bildung einer Föderation. Grundsätzlich sind sich die drei größten Parteien zwar einig, aber das gilt nicht für die Aufteilung der künftigen Bundesstaaten. Zudem wollen bei diesen Entscheidungen zahlreiche ethnische, religiöse oder regionale Organisationen mitreden. Kein Distrikt und keine Bevölkerungsgruppe verfügt über eine absolute Mehrheit. Außerdem verlangen die zahlreichen indigenen Völker (wie der übliche Ausdruck lautet), die ein Drittel der Gesamtbevölkerung Nepals ausmachen, die Wiederherstellung der Territorien, die sie als Land ihrer Vorväter ansehen.
Vor allem geht es um die fruchtbare Terai-Ebene, wo nach fünfzig Jahren Zuwanderung – aus den Bergen im Norden und den indischen Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh im Süden – mehr als die Hälfte der Nepalesen leben. Die Madhesi, wie man die Völker der Ebene nennt, die ebenfalls ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, wurden lange als Bürger zweiter Klasse angesehen und als „Wilde“ (von den Europäern) oder „Angsthasen“ (von den Bergnepalesen) bezeichnet.
Die Madhesi scheinen seit kurzem entschlossen, sich politisch zu organisieren, um ihre Rechte mit Gewalt durchzusetzen. Sie fordern die Gründung eines eigenen Staats, der die gesamte Terai-Ebene umfasst, was nur schwer durchzusetzen ist, ohne den gesamten Bundesstaat aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die politische Partei, die diese Strömung vertritt, das Madheshi Janadhikar Forum, wurde von den Bewohnern der Region mit großer Mehrheit gewählt und hat in der verfassunggebenden Versammlung 40 Sitze errungen. Es ist also damit zu rechnen, dass die politische Gewalt, die sich von den Bergen in die Ebene verlagert hat, in dieser Region in den kommenden Monaten an Heftigkeit zunehmen wird.
Der Ablauf der Wahlen zeugt vom Wunsch nach Frieden in Nepal. Nachdem man jedoch vor den Wahlen befürchtet hatte, ein schlechtes Abschneiden der Maoisten könnte zum Wiederaufflammen des „Volkskriegs“ führen, scheint deren Sieg neue Risiken zu produzieren. Zum Beispiel ist der Vorsitzende der CPN-UML zurückgetreten, und andere Vertreter der Partei haben bereits erklärt, sie wollten aufgrund der schlechten Wahlergebnisse ihre Parlamentsmandate nicht wahrnehmen. Auch die Kongresspartei hat erklärt, sie sehe ihr Abschneiden als Resultat einer Einschüchterungskampagne der Maoistischen Partei und würde sich womöglich ebenfalls aus der Verfassungsversammlung zurückziehen.
Die Maoisten hatten die Abschaffung der „ungerechten“ Verträge mit Indien ins Zentrum ihrer Kampagne gestellt,3 weshalb auch hier Spannungen zu befürchten sind. Zudem steht die CPN-M in den USA auf der Liste der terroristischen Vereinigungen; wie der Botschafter der Vereinigten Staaten in Katmandu ankündigt hat, dürfte Washington sie jedoch demnächst von dieser Liste streichen.
Die beiden Parteiführer Pushpa Dahal – genannt Prachanda („der Schreckliche“) – und Baburam Bhattarai befürchten jedenfalls, dass man ihnen ihren Sieg auf die eine oder andere Weise noch entwenden könnte. Deshalb tun sie alles, um die Lage zu beruhigen. Dennoch bleibt zu befürchten, dass die Partei, die die meisten Wähler hinter sich gebracht hat, eine „DeMaokratie“ installieren und die Rechte jener missachten wird, die sie bis vor kurzem noch als Klassenfeinde bezeichnete. Es sei denn, die Maoisten vollziehen eine radikale ideologische Wende.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Marie Lecomte-Tilouine ist Anthropologin im Centre national de la recherche scientifique (CNRS) und Koordinatorin des Forschungsprojekts „Der Volkskrieg in Nepal“ der Agence nationale pour la recherche (ANR).