13.06.2008

Der Besitzer von Mexiko

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Der Besitzer von Mexiko

Wie Carlos Slim mithilfe des Staates der reichste Mann der Welt wurde von Renaud Lambert

Die zahllosen Porträts, die in der Presse über den zweitreichsten Mann der Welt erschienen, vermitteln den Eindruck, dass dieser Carlos Slim mehr Gemeinsamkeiten mit seinen gewöhnlichen Landsleuten hat als mit dem internationalen Jetset. Für deren Dekadenz hat er nämlich „nur Verachtung übrig“1 . Er „macht kein Gedöns um seine Person, steht auf Baseball, benutzt keinen Computer, isst lieber Chili als Kaviar und ist lange Zeit auch selbst Auto gefahren“2. Dieser Slim scheint ein sparsamer, wenn nicht gar „zutiefst bescheidener“ Mensch zu sein.3

Nach Angaben des Wirtschaftsmagazins Forbes betrug das Vermögen von Carlos Slim im März dieses Jahres 60 Milliarden Dollar. Laut Sentido Común, einer mexikanischen Website für Wirtschaftsnachrichten, ist diese Zahl viel zu gering, denn der oft „König Midas“ genannte Slim soll 2007 seinen Reichtum durch Börsengewinne auf über 67 Milliarden Dollar vergrößert haben. Insgesamt ist sein Vermögen seit der Jahrtausendwende, als er auf der Liste der reichsten Menschen erst an der 33. Stelle stand, damit um etwa 750 Prozent gewachsen.4

Das wahre Ausmaß dieses Reichtums wird erst deutlich, wenn man es vor dem Hintergrund der mexikanischen Verhältnisse betrachtet. In diesem Land müssen 40 Prozent der Bevölkerung mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Carlos Slim besitzt ein Vermögen, das sich auf mehr als ein Viertel des mexikanischen Staatshaushalts beläuft, und 40 Prozent des gesamten Kapitalaufkommens an der Börse von Mexiko gehören ihm. Ein absoluter Rekord ist auch sein 8-prozentiger Anteil am mexikanischen Bruttoinlandsprodukt.5 Zum Vergleich: John D. Rockefeller kam in den USA zeitlebens nicht über 2,5 Prozent hinaus.

So hat das Bild von Carlos Slim als „Sohn eines kleinen Gewerbetreibenden“6 vielleicht doch weniger mit der Wirklichkeit zu tun als damit, wie der moderne Kapitalismus sich selbst erzählt: nämlich anhand „beispielhafter“ Biografien vermeintlicher Durchschnittsmenschen. Solche Geschichten kometenhafter Karrieren nähren bei den Minderbegüterten die Hoffnung, dass ihr großer Tag vielleicht doch noch kommt. Das französische Wochenmagazin Le Point beginnt einen seiner zahlreichen Artikel über Carlos Slim7 mit den Worten: „Wer hat nicht schon davon geträumt, eines Morgens aufzuwachen und zur großen Familie der Millionäre zu gehören?“

Gemäß den Mythen des Kapitalismus sind es außerordentliche, oft schon in der Kindheit auffällige Veranlagungen, die das „Geheimnis“ dieser modernen Helden ausmachen. Nun ist Carlos Slim vermutlich tatsächlich sehr talentiert, doch er unterscheidet sich in anderer Hinsicht nicht allzu sehr von den meisten anderen Stammgästen auf der Forbes-Liste. Auch er verdankt seinen Reichtum weniger der Begabung für Zahlen als seiner familiären Herkunft und politischen Verbindungen.

Zunächst einmal kam Carlos Slim reich auf die Welt. Sein Vater, ein libanesischer Einwanderer, hatte in den Jahren der mexikanischen Revolution sein Glück mit Immobilien gemacht. Der Sohn entwickelte sich zu einem der wichtigsten Geldgeber der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die bis 2000 die Macht im Land allein ausübte. Im Gegenzug blieben Gefälligkeiten von politischer Seite nicht aus.

1982 führte der Sturz des Ölpreises zu einer schweren Wirtschaftskrise in Mexiko. Präsident López Portillo verstaatlichte daraufhin die Banken. Obwohl es ihm weniger darum ging, die Fundamente für einen „sozialistischen“ Staat zu errichten, als darum, „die privaten Schulden der Oligarchie zu sozialisieren“8 , bekamen die eingesessenen Eliten Angst um ihr Geld. Sie verschleuderten ihre Besitztümer, um so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Carlos Slim teilte ihre Sorgen nicht. Er war ja mit den Machthabern befreundet. In der allgemeinen Panikstimmung gelang es ihm, sich einige der bedeutendsten Firmen des Landes unter den Nagel zu reißen, vor allem solche, die von staatlichen Aufträgen lebten. So erwarb Slim die größte Versicherungsgesellschaft des Landes, Seguros de México, für 44 Millionen Dollar. Heute ist diese Firma 2,5 Milliarden wert.

Monopolist in der Telekommunikation

Doch erst mithilfe seines guten Freundes Salinas de Gotari, der 1988 zum Präsidenten gewählt wurde, erreichte Slims Vermögen astronomische Ausmaße. Unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank schlug damals die Stunde der „wirtschaftlichen Öffnung“. Präsident Salinas erwies sich zwar als deren eifriger Befürworter, doch er begünstigte zugleich die Konsolidierung eines nationalen Kapitals, das den Angriffen US-amerikanischer Firmen widerstehen konnte. Salinas de Gotari ging es dabei weniger um Nationalisierung als um gute Verbindungen zu profitablen Wirtschaftszweigen. Der Präsident war um so emsiger bemüht, sich die großen Wirtschaftsbosse zu verpflichten, als allgemein bekannt war, dass er sein Amt nur durch Wahlbetrug erlangt hatte.

Hunderte staatliche Betriebe wurden damals verkauft, bevorzugt an die Freunde des Präsidenten. Die Zahl mexikanischer Milliardäre stieg von zwei im Jahr 1991 auf 24 bis zum Ende von Salinas’ Amtszeit drei Jahre später. Und Carlos Slim war immer vorneweg. 1990 kaufte er gemeinsam mit Southwestern Bell und France Telecom die Firma Teléfonos de México (Telmex) unter mehr als dubiosen Umständen. Nicht nur waren die mexikanischen Behörden so feinfühlig, den Kaufpreis kundenfreundlich zu kalkulieren (rund 2 Milliarden Dollar für einen Anteil von 20 Prozent). Sie ersparten Slim auch unschöne Auseinandersetzungen mit der Konkurrenz. „Während Länder wie Brasilien und die Vereinigten Staaten ihre Monopolbetriebe in untereinander konkurrierende Firmen aufspalteten“, so das Wall Street Journal, „verkaufte Mexiko sein Monopol als Ganzes und untersagte sogar für weitere sechs Jahre jede Konkurrenz.“9

Telmex wurde außerdem noch mit der einzigen landesweiten Mobilfunklizenz Mexikos belohnt, während die Konkurrenten sich mit regionalen Sendebereichen begnügen mussten. Die Firma kontrolliert heute 90 Prozent des mexikanischen Festnetzes und ist das zweitgrößte börsennotierte Unternehmen in ganz Lateinamerika. Seine Mobilfunktochter América Móvil hält dank ihres Lizenzmonopols heute 70 Prozent Marktanteil in Mexiko und hat mehr als 120 Millionen Kunden in über einem Dutzend weiterer Länder. Damit ist sie der fünftgrößte Mobilfunkanbieter der Welt. Doch Telmex und América Móvil sind nur ein Teil des Imperiums von Carlos Slim.

Ob man in Mexiko Strom benutzt, seinen Tank füllt, eine Platte, ein Buch oder einen Schokoriegel kauft, ob man ein Einkaufszentrum betritt oder in einen Zug steigt, ob man raucht, Sport treibt oder fernsieht, ob man im Internet surft oder Klopapier benutzt: Man kann gar nicht anders, als die – sehr geräumigen – Taschen von Carlos Slim mit Pesos zu füllen. Sein Konzern Grupo Carso umfasst mehr als 250 Unternehmen der verschiedensten Branchen: Kaufhäuser (Sanborns), Zigaretten (Cigatam), Bergbau und Chemie (Empresas Frisco), Eisenbahnen (Ferromex), Unterseekabel und PVC-Rohre (Condumex), Ölleitungen und Bohrplattformen. Beteiligungen hält Slim auch in der Computerbranche, darunter einen 3-prozentigen Anteil an Apple, den er – was für ein glücklicher Zufall – ein paar Tage vor der Rückkehr von Steve Jobs an die Firmenspitze erwarb und der seither um 480 Prozent zugelegt hat. Slim ist in fast allen lateinamerikanischen Ländern aktiv. Neuerdings soll er sich vermehrt in der Landwirtschaft engagieren und zum Beispiel in Paraguay in Biosprit investieren. Insgesamt erzielt Grupo Carso Jahresumsätze von über 150 Milliarden Dollar im Jahr und beschäftigt über 220 000 Menschen, denen in einer Broschüre die Firmenstrategie eingehämmert wird: „Produktivität steigern, Wettbewerbsfähigkeit steigern, Kosten und Ausgaben senken.“10 Diese Maßgaben werden in allen Bereichen pflichtschuldig umgesetzt. Der Konzern gehört nicht nur zu den wachstumsstärksten im Land, sondern bezahlt seine Angestellten auch mit besonders niedrigen Grundgehältern; wobei „Prämien“ oft mehr als die Hälfte des Einkommens ausmachen.

Derartige Erfolge öffnen Türen. So spielt Slim mit seinem Kompagnon Bill Gates Bridge, er verkehrt mit den Rockefellers, Prinz Charles, dem ehemaligen spanischen Regierungschef Felipe González (sein Lobbyist weltweit) und auch mit Rudolph Giuliani, dem ehemaligen Bürgermeister von New York, dessen Wahlkampf sowie den für Hillary Clinton er mitfinanziert hat.

Üppige Spenden an alle Parteien

Erbschaft, Komplizenschaft mit den Machthabern und Ausbeutung der Angestellten: Das große Geheimnis hinter dem Vermögen von Carlos Slim beruht weniger auf seinem Ausnahmetalent als auf den angestammten Wirkungsweisen kapitalistischer Akkumulation. Aber man sollte in ihm dennoch keinen Magnaten alter Schule sehen. Nach Ansicht von Carlos Slim verlaufen die entscheidenden Bruchlinien „nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen Moderne und Archaismus“.11 Und aus seinem freundschaftlichen Verhältnis zum brasilianischen Präsidenten da Silva, dessen Kritik am Neoliberalismus er teilt, macht er auch kein Geheimnis. Die Streiter für eine wirtschaftliche Öffnung verwandeln sich schnell in Protektionisten, sobald ihr eigenes Monopol gefestigt ist.

In Mexiko stehen die Interessen von Carlos Slim inzwischen über denen des Landes. Das Surfen im Internet kostet bei seinen Firmen 260 Prozent mehr als in den Nachbarländern, Gespräche im Mobilnetz 312 Prozent mehr als anderswo, und auch das Festnetz ist noch um 65 Prozent teurer. Guillermo Ortiz, der Präsident der mexikanischen Zentralbank, spricht von unmittelbar negativen Auswirkungen auf „die Wettbewerbsfähigkeit des Landes“.12

In Mexiko wagt kaum jemand, das Monopol von Carlos Slim zu kritisieren. Sein Konzern gilt als Rückgrat der gesamten Wirtschaft und als unantastbar. Außerdem schafft es Slim immer wieder, mit seiner Großzügigkeit die politische Klasse milde zu stimmen. Er verteilt Spenden an alle politischen Parteien, namentlich die beiden Antagonisten der letzten Präsidentenwahl.13

Von Slims Freigiebigkeit haben seit 1990 auch die großen Gewerkschaften profitiert. Inzwischen geben sie selbst zu, dass ihre Kritikfähigkeit darunter etwas gelitten hat. Und was die Medien betrifft, so sagt einem der gesunde Menschenverstand in Mexiko wie anderswo, dass man seine Werbekunden nicht unnötig vergrätzen sollte. Und Carlos Slim ist der größte von allen.

Andrés Oppenheimer, einer der angesehensten Leitartikler in ganz Lateinamerika, hält es überhaupt für sinnlos, den Reichtum von Carlos Slim zu kritisieren. Stattdessen sollte man „eine Kultur der Mildtätigkeit schaffen, in der die Freigiebigsten von allen auch die wahren Helden sind“.14 Carlos Slim hat diesen Appell offenkundig vernommen – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er keinesfalls die Absicht habe, sein Geld „nach allen Seiten auszuteilen wie der Weihnachtsmann“. Aber in den letzten paar Jahren hat er immerhin 200 000 Operationen, 70 000 Brillen, 150 000 Stipendien und 95 000 Fahrräder spendiert.15

Und das soll erst der Anfang sein. Philanthrop, der er ist, hat Slim Investitionen von 4 Milliarden Dollar in verschiedene Hilfs- und Bildungsprojekte angekündigt. Diese Summe entspricht knapp 7 Prozent des Geldes, das er in den letzten sieben Jahren angehäuft hat. „Die Privatwirtschaft“, so Slim, „muss sich energisch an der Schaffung von menschlichem und physischem Kapital beteiligen“,16 um sich die Kundschaft für die eigenen Produkte heranzuziehen. Auf Nachfragen der Financial Times, worin er seine eigene Aufgabe in diesem Bereich sehe, erklärte er: Mexiko solle vom „Abenteuer des Unternehmertums“ profitieren, das „auf soziale Schieflagen in einer Weise reagieren kann, wie es der Politik nicht möglich ist“. Mit anderen Worten: Er hätte gerne, dass das Land wie ein Unternehmen geführt wird, und zwar, wenn irgend möglich, wie eines von seinen.

Fußnoten: 1 Patrice Gouy, „Carlos Slim – Le Rockefeller mexicain“, Le Point, 16. August 2007. 2 Frédéric Daliba, „Carlos Slim, Maître du Mexique … et du monde“, Marianne, 18. August 2007. 3 Brian Winter, „How Slim Got Huge“, Foreign Policy, November/Dezember 2007. 4 Mitte 2007 war Slim sogar der reichste Mann der Welt: www.sentidocomun.com.mx. 5 Anne Denis, „Carlos Slim, le Midas des télécoms“, Les Echos, 16. Juli 2007. 6 Stephanie N. Mehta, „Carlos Slim, the Richest Man in the World“, Fortune, 16. Juli 2007. 7 Marc-Antoine de Poret, „Millionaires de tous les pays …“, Le Point, 26. Juli 2007. 8 Marco Rascón, „Los bancos, el poder …“, La Jornada, Mexiko, 9. Mai 1990. 9 David Lunhow, „The Secrets of the World’s Richest Man“, The Wall Street Journal, 4. August 2007. 10 Gisela Vázquez et Alberto Bello, „El secreto de Carlos Slim“, www.cnnexpansion.com, 23. Dezember 2007. 11 David Cayon, „El empresario más rico del mundo y la Argentina“, Perfil, Buenos Aires, 28. Oktober 2007. 12 Ginger Thompson, „Prodded by the Left, Mexico’s Richest Man Talks Equity“, The New York Times, 3. Juni 2006. 13 Die linke PRD (Partei der demokratischen Revolution) von López Obrador und die rechte PAN (Partei der Nationalen Aktion) des gegenwärtigen Präsidenten Calderón. 14 Miami Herald, 20. September 2007. 15 Francesc Relea, „Carlos Slim. El hombre más rico del mundo“, El País, 12. Juli 2007. 16 Financial Times, 27. September 2007.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann Renaud Lambert ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2008, von Renaud Lambert