13.06.2008

Es herrscht wieder Frieden im Libanon

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Es herrscht wieder Frieden im Libanon

Aber die Warnung bleibt: „Bitte reden Sie nicht über Politik und Sicherheitsfragen“ von Alain Gresh

Der Grenzübergang Masnaa ist wieder offen. Bis vor kurzem war er von Milizionären besetzt, die den Weg nach Syrien blockierten. Nun hat die Armee die Kontrolle übernommen, und die Straße, die von den Bergen nach Beirut hinunterführt, ist wieder frei – nach den kurzen und heftigen Kämpfen ein Zeichen der Entspannung. Aber auf der früher viel befahrenen und gefährlichen Route herrscht so wenig Verkehr, dass wir schon nach knapp einer Stunde die Hauptstadt erreicht haben.

Die Berichte über den Verlauf der Ereignisse gleichen sich, aber unsere Gesprächspartner liefern recht unterschiedliche Bewertungen.

Am 6. Mai fasste die libanesische Regierung nach zwölfstündiger Beratung zwei Beschlüsse: Eine Untersuchung zum „autonomen“ Telekommunikationsnetz der Hisbollah (das sie als „illegal“ und als „Angriff auf die staatliche Souveränität“ verurteilte) sollte eingeleitet und der Sicherheitschef des Flughafens von Beirut (der schiitische General Wafik Choukeir, dem enge Kontakte zur Opposition nachgesagt wurden) sollte abgelöst werden.

Von der Opposition – der Hisbollah und der von Nabih Berri geführten Amal, die gemeinsam die Mehrheit der Schiiten hinter sich haben, aber auch der maronitischen „Freien Patriotischen Bewegung“ (FPM) des Generals Michel Aoun – wurden diese Beschlüsse kritisiert.

Am 8. Mai nannte Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah die Entscheidungen vor der Presse eine „Kriegserklärung gegen den Widerstand“. Zugleich rückten seine eigenen wie die Milizen der Amal und der (laizistischen) Nationalen Syrischen Sozialistischen Partei (PSNS) in die überwiegend sunnitischen Viertel im Westen von Beirut ein. Auch der Hafen und der internationale Flughafen wurden blockiert. Nach kurzen Gefechten ergaben sich die Milizionäre der sunnitischen „Zukunftsbewegung“ von Saad Hariri und Ministerpräsident Fuad Siniora.

In anderen Regionen kam es jedoch zu neuen Kämpfen, bei denen 70 Menschen starben, ehe eine vorläufige Waffenruhe in Kraft trat. Inzwischen hatte die Regierung ihre Beschlüsse zurückgenommen, woraufhin die Milizen das Feld wieder den Politikern und der Armee überließen. Die Streitkräfte hatten sich die ganze Zeit über aus den Kämpfen herausgehalten.

Ab dem 17. Mai fanden – auf Veranlassung des Emirs von Katar und der Arabischen Liga – in Doha (Katar) Verhandlungen zwischen Vertretern der Opposition und des Regierungslagers statt. Von Regierungsseite waren die meisten sunnitischen und drusischen Clans und eine Minderheit der Christen repräsentiert, von Oppositionsseite der Großteil der Schiiten und mehr als die Hälfte der Christen.

Am 21. Mai kam man überein, erstens den seit November 2007 vakanten Posten des Staatspräsidenten mit Generalstabschef Michel Suleiman, dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, zu besetzen, zweitens eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, in der die Opposition eine Sperrminorität besitzen sollte, und drittens ein neues Wahlgesetz für die im Frühjahr 2009 anstehenden Parlamentswahlen zu verabschieden. Die heikle Frage einer Entwaffnung der Hisbollah wurde vertagt.

Aber warum hatte die Regierung die beiden umstrittenen Dekrete überhaupt beschlossen? Warum reagierten die Hisbollah und ihre Verbündeten darauf mit Gewalt? Warum hielt sich die Armee zurück? Eindeutige Antworten auf diese Fragen sind im Libanon nicht zu bekommen.

Von allen politischen Führern der Regierungsmehrheit und in ihren Medien wird unablässig wiederholt: Die Hisbollah habe versprochen, nur gegen Israel zu kämpfen, nicht gegen Libanesen. Sie sei nur eine Miliz und keineswegs die Alleinvertretung des libanesischen Widerstands gegen Israel und die USA. Ali Fayyad, Mitglied des Hisbollah-Politbüros, hält dagegen: „Hier ging es nicht um innenpolitische Dinge. Unser militärisches Kommunikationssystem spielte bei unserem Sieg über Israel 2006 eine entscheidende Rolle. Wir können seine Auflösung nicht hinnehmen – das käme einer Entwaffnung gleich. Aber wir haben unsere Waffen nie eingesetzt, um innenpolitische Entscheidungen zu erzwingen, um einen Regierungswechsel oder eine Änderung des Wahlrechts durchzusetzen.“

Fayyad verliert kein Wort darüber, dass seine Partei natürlich die Beendigung der Krise, die das Land achtzehn Monaten gelähmt hatte, als Chance nutzte. Die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit ermöglicht der Hisbollah, Voraussetzungen zu schaffen für das, was sie als ihre zentrale Aufgabe betrachtet: den „Widerstand“ gegen Israel und die Vorhaben der USA in der Region.

Das Regierungslager um Ministerpräsident Siniora wusste sehr wohl, dass eine Entwaffnung der Hisbollah nicht infrage kam. Warum hat man es dann doch riskiert – trotz vieler Warnungen, speziell aus den Reihen des Inlandsgeheimdienst FSI?1

Ein Experte des Regierungslagers glaubt schlicht, dass Walid Dschumblatt, Führer der drusischen Sozialistischen Fortschrittspartei (PSP), der den Verbotsantrag gegen das Hisbollah-Kommunikationsnetz einbrachte, und Saad Hariri, Chef der sunnitischen Zukunftsbewegung, „sich verrechnet“ haben: „Sie glaubten, die Hisbollah werde nicht zu den Waffen greifen, und hofften, der Opposition in weiteren Krisenverhandlungen mehr Zugeständnisse abzuringen.“

Ähnlich sieht es Michel Samaha, der früher für die heutige Opposition in der Regierung saß. Doch er hält die beiden Beschlüsse der Regierung gegen die Hisbollah für Aktionen im Rahmen eines koordinierten Plans, den Einfluss der USA, Saudi-Arabiens, Ägyptens und anderer regionaler Partner auf den Libanon zu stärken. Schließlich habe US-Präsident Bush den Libanon zur „dritten Front des Krieges gegen den Terrorismus“ (nach Afghanistan und dem Irak) erklärt. „Mitte März wurde Samir Geagea, der Führer der (maronitischen) Forces libanaises von Präsident Bush empfangen, Saudi-Arabien forderte seine Staatsbürger zum Verlassen des Landes auf, und die USA verschärften ihre rhetorischen Angriffe gegen den ‚Terrorismus‘ der Hisbollah.“ Und am 8. Mai sollte Terje Roed-Larssen, der UN-Kommissar für den Libanon, dem Sicherheitsrat seinen Libanon-Rapport vorlegen, weshalb man mit einer UN-Resolution rechnete, die eine Entwaffnung der Hisbollah fordern würde: „Doch all das beruhte auf einer Überschätzung der Kräfte der Mehrheitsfraktion und auf der falschen Annahme, die Hisbollah würde sich nicht mit Waffengewalt widersetzen.“

Aus dem Regierungslager hört man immer häufiger kritische Töne über die Passivität der ausländischen „Freunde“. Dabei werden die extremsten Verschwörungstheorien in Umlauf gesetzt: Der Libanon sei das Bauernopfer bei Geheimverhandlungen zwischen Washington und Teheran; Washington wolle sich der stillen Unterstützung Syriens bei der Großoffensive gegen al-Qaida im Irak (bei Mossul) versichern.

Wie die meisten politischen Kräfte im Libanon verfügt auch die FPM von General Michel Aoun über einen eigenen Fernsehsender – Orange TV. Heute sind hier Bilder vom Abzug der syrischen Armee im Frühjahr 2005 zu sehen, gegeneinander geschnitten mit Aufnahmen von der fluchtartigen Abreise des saudischen Botschafters im Mai 2008. Dass Riad im Libanon eine schwere politische Niederlage hinnehmen musste, darin sind sich alle Beobachter einig. Denn Saudi-Arabien hatte weder Mühe noch Kosten gescheut, um die Sunniten und die Regierung Siniora zu unterstützen. In den Medien finden sich auch ironische Kommentare über den „Todeskuss“ von US-Präsident Bush für Fuad Siniora, als er ihm aufmunternde Worte ausgerechnet von dem Staat aus zurief, der nach Meinung aller Libanesen für die Zerstörung ihres Landes 2006 verantwortlich war.

Dass die Hisbollah nun an der neuen Regierung beteiligt ist, bedeutet für Washington einen schweren Rückschlag. Ein Intellektueller aus dem Regierungslager fragt: „Will der Westen wirklich zulassen, dass der östliche Rand des Mittelmeers unter iranischen Einfluss gerät?“ Einige Mitglieder der Regierung werfen den Streitkräften vor, untätig geblieben zu sein. Zu deren Rechtfertigung führt Generalstabschef Suleiman ins Feld, man habe „Blutvergießen vermeiden und vor allem internen Streitigkeiten in der Truppe vorbeugen wollen“.2 Mehr als ein Drittel der Soldaten sind Schiiten, und auch ein großer Teil der Offiziere, vor allem unter den Anhängern Michel Auons, hegt Sympathien für die Opposition. Ein Eingreifen in den Konflikt hätte zum Auseinanderbrechen der einzigen noch funktionierenden Institution des Landes geführt.

Als die Hisbollah sich für eine gewaltsame Konfliktlösung entschied, habe sie „hoch gepokert“ meint ein christlicher Politiker aus dem Oppositionslager. „Bislang hatte die Hisbollah immer nur politisch interveniert: Im November 2006 zog sie sich aus der Regierung zurück, Anfang 2007 baute sie ihr Protestcamp im Zentrum von Beirut auf, forderte den Rücktritt der Regierung und organisierte Demonstrationen. Aber diesmal ging es ums Prinzip: Ihre Entwaffnung konnte die Hisbollah nicht hinnehmen – dafür nahm sie in Kauf, dass sie die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten wieder anheizt.“

In den Straßen von Ostbeirut erinnern nur noch einige Fahnen der Hisbollah, der Amal und der PNSP an die „schiitische Invasion“. Die Boutiquen und Delikatessengeschäfte, die Fitnesscenter und Bankfilialen an der Einkaufsmeile Hamra sind längst wieder geöffnet. Aber natürlich gibt es überall noch Militär und Kontrollpunkte in der Nähe gefährdeter Objekte wie der (vorläufig geschlossenen) saudischen Botschaft, dem Wohnhaus der Familie Hariri oder der Amerikanischen Universität, die nach fast zwei Wochen den Betrieb wieder aufgenommen hat. Ab und zu sieht man auch warnende Plakate der Regierung: „Bitte reden sie nicht über Politik und Sicherheitsfragen“.

Die zeitweilige Schließung des Fernsehsenders „Zukunft“ und der Tageszeitung al-Mostaqbal, beide im Besitz von Saad Hariri, wird von vielen Seiten kritisiert – zumal in der Presse. Auch ein Journalist aus dem Oppositionslager verurteilt diese Maßnahmen, gibt aber zu bedenken. „Während der dreitägigen Kampfhandlungen musste die Hisbollah befürchten, dass diese Medien zum Bürgerkrieg aufrufen würden. Als die Gefahr nicht mehr bestand, durften sie ihre Arbeit wieder aufnehmen.“

Die sunnitische Bevölkerung fühlte sich von ihrer Führung im Stich gelassen und äußerte ihre Angst vor der „schiitischen Gefahr“ – ein Schreckgespenst, das mehrere arabische Führer beschwören. Zeugen berichteten von im Lauf der Kämpfe begangenen Gräueltaten, die durch Gerüchte noch schrecklicher wurden. Die Zahl der Opfer ist nach vorläufigen Angaben jedoch nicht allzu groß. „Hätten nur die Kämpfer der Amal die Attacken durchgeführt, also ohne die Anwesenheit der Hisbollah, hätten wir mindestens tausend Tote gehabt und massive Plünderungen“, meint ein Journalist aus dem Regierungslager. Nach Auskunft von Human Rights Watch gab es auf beiden Seiten Menschenrechtsverletzungen, in Beirut wie im Norden des Landes. Ein Journalist der kommunistischen Tageszeitung al- Akhbar will sogar „zahlreiche Fälle von Leichenschändung“ ermittelt haben.

Die Autorität der „Zukunftsbewegung“ für die Sunniten wird nunmehr infrage gestellt: „Saad Hariri hat es weder geschafft, die staatlichen Institutionen zu stärken noch die Selbstverteidigung der sunnitischen Gemeinschaft zu organisieren“, sagt Mohammed Baydoun, ein ehemaliger Minister der Amal, der inzwischen ins Regierungslager gewechselt ist. Manche Beobachter befürchten, dass sich die Sunniten, vor allem im Norden und in Tripoli, salafistischen Gruppen oder sogar al-Qaida zuwenden könnten, die ihren Einfluss im Libanon in den letzten zwei Jahren deutlich ausgeweitet hat.3 Aiman al-Sawahiri, die Nummer zwei der al-Qaida, hat vor kurzem angekündigt, der Libanon werde zu einem „zentralen Stützpunkt“ im Kampf gegen „Juden und Kreuzfahrer“ werden.

Die Christen versuchten sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Alain Aoun, persönlicher Berater von General Michel Aoun spricht von Ambivalenz: „Einerseits macht ihnen die erneute Gewalt Sorgen, andererseits sind sie froh über das Bündnis von CPL und Hisbollah, das ihnen den Frieden für die christlichen Viertel Beiruts und die Dörfer in den Bergen erhalten hat.“

Fünf Tage lang hing das Schicksal des Libanon am Ausgang der Verhandlungen in Doha, an denen alle Führer der politischen Fraktionen teilnahmen – mit Ausnahme von Hisbollah-Chef Nasrallah, der sich seit der Ermordung seines militärischen Führers Imad Mughniyah am 11. Februar 2008 in Damaskus kaum noch in der Öffentlichkeit zeigt.

„Einigt euch oder kommt nicht zurück!“ hieß es auf den Transparenten, die Demonstranten ihren nach Doha abreisenden Politikern entgegenhielten. Und manche formulierten noch knapper: „Kommt nicht zurück!“

Viele Menschen im Libanon scheinen von der gesamten Politikerkaste die Nase voll zu haben. Legalität, Demokratie, Institutionen und Autorität des Staates – solche Prinzipien werden von ihr nicht mehr geachtet. Auf die Frage, welche Politiker nicht korrupt seien, lautet die einhellige Antwort: „Die Vertreter der Hisbollah und der Freien Patriotischen Bewegung.“ Seit den Verträgen von Taif, die 1989 den Bürgerkrieg beendeten und Rafik Hariri an die Macht brachten, ist die Bereicherung auf Kosten des Staates zu einer Art Nationalsport geworden. „Eigentlich gibt es im Libanon gar keinen Kampf zwischen Demokratie und Diktatur“, meint ein Intellektueller resigniert: „Keine politische Kraft interessiert sich für den Aufbau eines Rechtsstaats. Wir alle sind nur Opfer der Strategien regionaler und internationaler Mächte. Wir träumen davon, uns da herauszuhalten, die Realität holt uns immer wieder ein. Und es ist jedes Mal ein böses Erwachen.“

Die Hisbollah hat viel riskiert und am Ende dem von den USA gestützten Regierungslager um Saad Hariri eine Niederlage bereitet. Doch diese dramatische Maiwoche wird sicher nicht die letzte Krise im Libanon gewesen sein. Denn das Land wird auch künftig der symbolische Austragungsort für alle Konflikte in der Region bleiben.

Fußnoten: 1 Al-Akhbar (Beirut), 16. Mai 2008. 2 L’Orient – Le Jour (Beirut), 18. Mai 2008. 3 Fidaa Itani, „Was macht al-Qaida im Libanon?“, Le Monde diplomatique, Februar 2008. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Le Monde diplomatique vom 13.06.2008, von Alain Gresh