13.06.2008

Die Ukraine und ihr Westen

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Die Ukraine und ihr Westen

Seit Polen zum Schengen-Raum gehört, steht der Nachbar vor verschlossenen Türen von Mathilde Goanec

Samstagmorgen am Grenzposten Schehyni. Ein langer, vergitterter Korridor schlängelt sich bis zur polnischen Zollkontrolle. Es ist grau und kalt, der Posten nahezu verlassen. Bis vor einem Monat tobte hier noch das Leben. Viele Ukrainer aus der Grenzregion reisten regelmäßig nach Polen. Ein langfristig gültiges Visum gab es gratis in der nächstgelegenen Großstadt Lwiw (Lemberg). Und auf der anderen Seite der Grenze verkaufte man dann geschmuggelte Zigaretten und Alkoholika.

Mit der Aufnahme Polens in den Schengen-Raum am 21. Dezember 2007 wurde alles anders. Für viele Ukrainer ist die Grenze seitdem ein unüberwindliches Hindernis. Ein europäisches Visum bekommen sie nicht. „Früher konntest du dreimal am Tag rübergehen“, erinnert sich Maria, eine freundliche Babuschka aus dem Dorf Nowiskalowa, das jetzt sieben Kilometer von der Europäischen Union entfernt ist. „Da konntest du guten Gewinn machen, manche haben sich davon sogar Häuser gebaut! Jetzt ist damit Schluss.“ Mehr als hunderttausend Menschen haben vom Schmuggel gelebt.

Der polnische Botschafter in der Ukraine kennt die sozialen Folgen der neuen Gesetzeslage sehr wohl. „Nach den Schengener Visa-Kriterien dürfen wir keine Visa an Menschen vergeben, die weder Geld noch ein Bankkonto besitzen“, sagt Jacek Kluczkowski. „Diese Leute müssen sich jetzt andere Einkommensquellen suchen.“ Keine einfache Aufgabe in dieser ländlichen Region, ehemals Randgebiet der Sowjetunion und schon damals vernachlässigt. Hier sind noch mehr Leute als im Rest des Landes arm und haben keine Arbeit.

Die neue Schengen-Grenze schadet nicht nur der Wirtschaft, sie erstickt auch den lebhaften kulturellen und familiären Austausch zwischen beiden Ländern. Galizien – die heutige Westukraine – orientiert sich bereits seit Jahrhunderten nach Polen, unter dessen Herrschaft es vom 15. bis zum 18. Jahrhundert stand. Danach gehörte Galizien zu Österreich. Von 1921 bis 1941 wurde es wieder von Warschau regiert. Und seit Ende des Zweiten Weltkriegs ist es Teil der vereinigten Ukraine in ihren heutigen Grenzen. „Vor dem Ersten Weltkrieg gab es im Westen viele gemischte Familien, von denen viele von den Sowjets deportiert wurden“, erzählt Taras Wozniak, Chefredakteur der unabhängigen Zeitschrift Ji. „Aus dieser Zeit ist der Region ein starkes polnisches Identitätsgefühl geblieben.“

Zur Beruhigung der Bewohner im Grenzgebiet unterzeichneten Polen und die Ukraine eine Vereinbarung über eine „visumfreie“ Sonderzone, die sich fünfzig Kilometer zu beiden Seiten der Grenze erstreckt. Brüssel muss dieses bilaterale Abkommen noch anerkennen. Doch trotz der Sondervereinbarungen wird die Kommunikation zwischen den beiden Völkern an diesem Europa leiden, das sich zwischen sie geschoben hat. „Früher sind normalerweise 6,5 Millionen Menschen im Jahr in beiden Richtungen über die Grenze gegangen“, sagt Wozniak, „heute ist dieser Austausch unterbrochen. Für mich ist diese Grenze wie eine neue Berliner Mauer.“

Früher ein „Euro-Enthusiast“, hat sich der Journalist – wie viele Lemberger – inzwischen zum „Euro-Skeptiker“ gewandelt: „Die Europäer bilden jetzt eine höhere Klasse, die ganz nach Wunsch frei reisen kann. Und wir, wir sind Menschen der zweiten Zone, ohne Zugang zu unseren Nachbarn.“ Während die EU ihre Grenzen dichtmachte, verhandelte sie gleichzeitig seit 2005 mit der Ukraine um visumfreie Einreise für ihre eigenen Staatsangehörigen.

Die Auswirkungen der neuen Schengen-Grenze werden unweigerlich verlorene Erinnerungen an den Kalten Krieg wachrufen. Die Ukraine sieht sich erneut in die Rolle des ewig „guten Nachbarn“ gedrängt. Ein lästiger Nachbar, den man aus der EU heraushält, ohne eine klare Perspektive: zukünftiger Mitgliedstaat oder lediglich Beitrittskandidat? Bereits Mitte der 1990er-Jahre äußerte die unabhängige Ukraine den Wunsch nach einer gemeinsamen Zukunft mit der EU. Seit der Revolution in Orange Ende 2004 ist die europäische Integration sogar das Ziel Nummer eins der Außenpolitik ihrer prowestlicher Regierungen. Um Brüssel zu überzeugen, versuchte Kiew in den letzten Monaten mit allen Kräften, das Tempo der Annäherung an den Westen zu beschleunigen.

Nachdem die Ukraine nach 15 Verhandlungsjahren Mitte Mai 2008 endlich Vollmitglied der WHO wurde, soll nun der Dialog über die Schaffung einer Freihandelszone mit der EU beginnen. Gleichzeitig versuchte Kiew mit aller Macht und unterstützt von den USA1 , in die Nato zu gelangen, obwohl die öffentliche Meinung im eigenen Land mehrheitlich gegen den Nato-Beitritt ist.

Diese konfuse euro-atlantische Politik führte zu Irritationen bei einigen großen europäischen Staaten, so dass diese beim Nato-Gipfel in Bukarest Anfang April die Entscheidung über das Beitrittsgesuch der Ukraine auf den kommenden Winter vertagten. Trotzdem geben die Ukrainer den Kampf nicht auf, sie haben jetzt die französische EU-Präsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2008 im Visier. Hat doch Präsident Sarkozy seit seinem Einzug in den Elyseepalast wiederholt sein Interesse an der Ukraine bekundet und seine Absicht, „der Partnerschaft Europa-Ukraine einen neuen Impuls zu geben“, wie es der für Europa zuständige Staatssekretär Jean-Pierre Jouyet ausdrückte.

Zur Stunde hütet sich Frankreich wohlweislich, die zentrale Frage anzuschneiden: eine reelle, klare EU-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Paris reagiert ebenso ausweichend wie Brüssel und hält sich an die Formel: „Konsolidierung der Zusammenarbeit“. Die Ukraine verfügt jedoch über drei große Trümpfe, die Europa nicht gleichgültig sein können: Sie ist ein Transitland für das russische Gas, eine Wirtschaftsmacht mit großem Wachstumspotenzial und ein Handelspartner ersten Ranges. Dazu kommt noch ein vierter, grundlegender Aspekt: Die Stabilität des Landes ist entscheidend für die Sicherheitspolitik an Europas Ostgrenze.

Die europäische Diplomatie reagiert auf die ukrainischen Forderungen deshalb mit Vorbehalt, weil die Meinungen innerhalb der Union sehr weit auseinandergehen. Davon zeugte der Streit beim EU-Ukraine-Gipfel Ende Februar in Kiew. Der für europäische Angelegenheiten zuständige Stellvertretende Ministerpräsident Grigori Nemyria hielt es für geboten, sich öffentlich darüber zu freuen, dass „die Tür Europas endlich offen stehe“. Er erntete heftigen Applaus bei den neuen Mitgliedsländern, allen voran Polen, das ein eifriger Vorkämpfer für die mittelfristige Integration der Ukraine ist. Doch die westeuropäischen EU-Gründungsmitglieder mit ihrer starken Position in der europäischen Familie dämpften den allgemeinen Enthusiasmus. Die verzögerte Antwort des deutschen Abgeordneten Rainder Steenblock an Nemyria lautete: „Sicher ist die Tür offen, aber sie liegt im siebten Stock, und im Augenblick befindet sich die Ukraine noch im Erdgeschoss.“

Fast vergessen scheint der Dezember 2004, als sich die europäischen Vertreter in ihrer Begeisterung für die orange Revolution auf dem Majdan, dem zentralen Platz von Kiew, drängelten. Die Illusion von einer Ukraine „im Herzen Europas“ ist ebenso wie viele andere große Hoffnungen in sich zusammengefallen. Trotz realer Fortschritte bei der Demokratisierung und den von der EU diktierten und im Eiltempo durchgezogenen liberalen Wirtschaftsreformen kann das Land kaum mit Stabilität überzeugen. „Die postsowjetischen Praktiken bestehen in Politik und Wirtschaft größtenteils weiter“, meint Nemyria. „Den Eliten fehlt es an Beweglichkeit, um einen Wandel von innen herbeizuführen.“

Nico Lange, Leiter des Kiewer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung, denkt, dass diese Unbeweglichkeit auch der Zurückhaltung der Europäer geschuldet ist: „Es stimmt, dass die Reformen nicht wirksam umgesetzt werden. Es ist aber auch die Aufgabe der Europäischen Union, einem Land eine europäische Perspektive zu geben, um es zu den notwendigen Reformen zu ermutigen. Diese Politik funktioniert, wenn wirklich der Wille zur Integration als Mitgliedstaat dahinter steht, und das fehlt der Ukraine.“

Wird die Ukraine, die in ihrer Geschichte schon Teil Russlands, Polens, Österreichs und schließlich der Sowjetunion war, heute erneut zum Opfer ihrer geografischen Lage, verdammt zu einem Dasein als ewiger Pufferstaat? Die Situation des Landes zwischen zwei Stühlen, zwischen Europa und Russland, blockiert die europäischen Ambitionen Kiews. Die EU ist von ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland abhängig, besonders im Energiesektor. Gérard-François Dumont, Professor für Geografie an der Universität Paris IV, meint, dass Moskau, das die GUS-Länder immer noch zu seinem Einflussbereichs zählt, eine allzu deutliche Annäherung zwischen Brüssel und Kiew gar als echten Casus Belli auffassen könnte.

In den Äußerungen der europäischen Diplomaten lässt sich zudem eine gewisse Verlegenheit gegenüber Moskau feststellen: „Wir treffen weder eine Vorentscheidung über den Beitritt der Ukraine, noch schließen wir ihn aus, aber wir achten natürlich auf die Stabilität des europäischen Kontinents“, sagt Staatssekretär Jouyet. „Wir müssen die Kooperation der Europäischen Union mit der Ukraine ausweiten und gleichzeitig die Partnerschaft zwischen Russland und Europa unter Dach und Fach bringen.“ Ein schwieriger Drahtseilakt, da die Ukraine und Russland einander seit drei Jahren immer wieder mit gezückter Klinge begegnen: wiederholte Gaskrisen, Bedrohung der russischen Militärbasis in Sewastopol am Schwarzen Meer, Moskaus Widerstand gegen den Nato-Beitritt der Ukraine.

Obwohl die EU weiterhin Rücksicht auf Russland nimmt, greift sie in der Ukraine ein, besonders mit der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), einem im Jahre 2004 begonnenen Projekt, das von Romani Prodis folgender lapidarer Formel ausgeht: Die Nachbarstaaten sollten an „allem, außer den Institutionen“2 , teilhaben können, am europäischen Binnenmarkt und bestimmten Programmen, wenn im Gegenzug die Demokratie, der Rechtsstaat und die Liberalisierung der Wirtschaft Fortschritte machen.

Ian Boag, Delegationsleiter der Europäischen Kommission in der Ukraine, glaubt, damit „die Entstehung eines neuen Eisernen Vorhangs in Europa, ein paar hundert Kilometer entfernt vom ersten, verhindern“ zu können. Die Ukrainer sehen darin ein Risiko, auf die Position des ewigen Nachbarn abgeschoben zu werden. So insistiert Grigori Nemyria: „Für uns ist ganz klar, nach dem Geist und dem Wort der Römischen Verträge: Jedes europäische Land kann für den Beitritt kandidieren.“ Natürlich will der stellvertretende Ministerpräsident nicht „alles überstürzen und morgen oder übermorgen Mitglied werden. Wir sind uns durchaus bewusst, dass die Ukraine im Augenblick noch nicht zum Beitritt bereit ist, aber wir sehen auch, dass Europa noch nicht dazu bereit ist.“

Mit ihrem Drängen und ihrer Hartnäckigkeit konfrontiert die Ukraine die Europäische Union mit deren eigenen Zweifeln an ihren Zielen, ihrer äußeren Gestalt und ihrer Identität. Viele Beobachter halten einen Beitritt der Ukraine für eine weitere Verwässerung des ohnehin schon ziemlich unscharfen europäischen Projekts und sehen dahinter schon die Frage nach der künftigen Einbindung Russlands auftauchen.

Dabei spürt Europa schon jetzt die Anstrengungen der bisherigen Erweiterung: Die EU hat Mühe, ihre zwölf neuen Mitglieder zu integrieren, und steht angesichts der Kandidaturen der Türkei, Mazedoniens und Kroatiens vor einer Zerreißprobe. „Es stimmt, keiner weiß, wohin es mit der EU geht“, gibt der ukrainische Philosoph Konstantin Sigow zu, „Europa ist völlig verunsichert, von Kiew bis Lissabon. Aber für die Ukrainer ist eines sicher: Europa ist schon da.“

Fußnoten:

1 Olivier Zajec, „Die Gesetze der politischen Ballistik“, Le Monde diplomatique, April 2008. 2 Rede von Romano Prodi, damals Präsident der Europäischen Kommission, am 30. März 2003 vor der Delegation Algeriens, das ebenfalls an der ENP teilnimmt.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Mathilde Goanec ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2008, von Mathilde Goanec