13.06.2008

Südafrika und sein verdrehter Nationalismus

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Südafrika und sein verdrehter Nationalismus

von Johann Rossouw

Das Bild erinnerte an die Gewalt vergangener Zeiten: In einer staubigen Straße wird ein namenloser junger Schwarzer bei lebendigem Leibe angezündet.1 Ähnliche Szenen hatte es in den letzten Jahren der Apartheid in Südafrikas schwarzen Townships2 gegeben. Doch das Bild vom 18. Mai 2008, im Jahre 14 nach der Ablösung des Apartheidstaats durch ein demokratisches System, steht emblematisch für den jüngsten Ausbruch fremdenfeindlicher Gewalt von überwiegend schwarzen Südafrikanern gegen überwiegend schwarze Ausländer, von denen viele Flüchtlinge aus Simbabwe sind.

Südafrika hat der Welt mit diesen Szenen einen Schock versetzt, zumal kurz vorher ein anderer rassistischer Vorfall durch die internationale Presse gegangen war: Ein skandalöses Video zeigt vier burische Studenten der renommierten Afrikaans-Universität von Bloemfontein, die in ihrem Studentenwohnheim „handgreifliche Scherze“ mit schwarzen Putzfrauen treiben, die meisten von ihnen ältere Frauen.

Wie um alles in der Welt kann es kommen, dass ein solcher Rassismus und solche Fremdenfeindlichkeit in Nelson Mandelas „Regenbogennation“ ihr hässliches Haupt erheben – in dem Land, das nicht nur dem afrikanischen Kontinent, sondern der ganzen Welt als Beispiel für Versöhnung und Hoffnung vor Augen stand?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst von unseren Illusionen über den Post-Apartheidstaat Südafrika verabschieden. In dieser romantischen Vorstellung bestand die historische Herausforderung des Landes darin, die Kluft zwischen schwarzen und weißen Südafrikanern zu überwinden. Die Aufgabe schien am 27. April 1994 mit der Wahl Nelson Mandelas zum ersten demokratisch gewählten Staatspräsidenten Südafrikas bewältigt zu sein. Damals dachten alle, das Land werde unter dem Schirm seiner vorbildlichen liberal-demokratischen Verfassung und dank eines kräftigen Wirtschaftswachstums die Vergangenheit hinter sich lassen und einer strahlenden Zukunft entgegengehen, in der die Hautfarbe keine Rolle mehr spielt.

Die falsche koloniale Modernität

Solche Vorstellungen über das „Modell Südafrika“ besagen weniger über das Land selbst als über die beharrliche Vorherrschaft eines manichäischen Weltbildes und den damit einhergehenden naiven Glauben, dass am Ende immer „das Gute“ über „das Böse“ siegt. Außerdem verraten sie einiges über die Sehnsucht unserer hoffnungslos globalisierten Gegenwart nach „Geschichten der Hoffnung“.

Um zu verstehen, was derzeit in Südafrika vorgeht, müssen wir weit hinter die Jahrzehnte der Apartheid zurückgehen, in die koloniale Epoche Südafrikas, die in Wahrheit alles andere als abgeschlossen ist. Denn die Hauptmerkmale der politischen Ökonomie des modernen Südafrika haben sich bereits seit 1806 im Zuge der britischen Kolonisierung der Kapprovinz herausgebildet.

Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts exportierten die Westeuropäer ihr „Konzept der Moderne“ nach Afrika und in andere Weltregionen. Dazu gehörte auch die Vorstellung eines homogenen Nationalstaats mit einer dominierenden Nationalsprache, einer auf Industrie und moderne Technologie gestützten Volkswirtschaft und einem einheitlichen Bildungssystem.

Dieses Konzept implantierten die Briten in Südafrika zwischen der Entdeckung der Gold- und Diamantenvorkommen in den 1860er- und 1870er-Jahren und der Gründung der Südafrikanischen Union (Union of South Africa) im Jahre 1910. Der Gründungsakt vollendete nicht nur die Vereinigung des Territoriums der heutigen Republik Südafrika, sondern auch die politische Allianz zwischen den beiden mächtigsten Volksgruppen, also den Siedlern britischer Abstammung und den Afrikaanders. Letztere sind Nachkommen von Holländern, Franzosen und Deutschen, fühlen sich aber aufgrund ihrer 350 Jahre langen Präsenz aufs Engste mit dem Schicksal Südafrikas verbunden.3

Zum Zeitpunkt der Staatsgründung war die auf gigantischen Bodenschätzen beruhende Industrialisierung Südafrikas bereits in vollem Gange. Es entstand ein Eisenbahn- und später ein Straßennetz, das die wichtigsten Siedlungsgebiete der Weißen mit den Industriezentren verbinden sollte. Mitte des 20. Jahrhunderts gerieten die südafrikanischen Medien unter die Dominanz des Staates und einiger Großkonzerne, womit gewährleistet war, dass der Großteil der veröffentlichen Informationen den Status quo kaum gefährden konnte. Das Regierungssystem schließlich war darauf angelegt, die Macht einer Minderheit zu sichern, deren wesentliche Aufgabe darin bestand, die Reichtümer Südafrikas dem kolonialen Mutterland Großbritannien zu erschließen, das in der Folge zum wichtigsten Handelspartner des Landes wurde.4

Die Etablierung dieser modernen, kolonialen Ökonomie ging vor allem zulasten der indigenen Communitys, deren kulturelle Entwürdigung und ökonomische Schwächung die vielleicht folgenreichsten Aspekte dieser Politik waren (was freilich nicht heißt, dass in der vorkolonialen Zeit Südafrika eine friedliche Idylle war). Die traditionellen Werte, die für die kulturelle und ökonomische Rangordnung bestimmend waren, nahmen dabei schweren Schaden: Am stärksten wirkt in Südafrika bis heute nach, dass die erniedrigte Bevölkerung die importierte, koloniale Moderne als ihr eigenes Wertgefüge akzeptiert hat.

Diese stillschweigende Übernahme zeigte sich auch in dem Verhalten, das die beiden erfolgreichsten politischen Widerstandsbewegungen indigener Gruppen an den Tag legten, nachdem sie die Macht im Staate erlangt hatten - die nationalen Bewegungen der (burischen) Afrikaanders und die der schwarzen Afrikaner.

Der Nationalismus der Buren wird heute im Licht seiner Endphase bewertet, also der rassistischen Gewaltpolitik der 1970er- und vor allem der 1980er-Jahre. Dabei wird häufig übersehen, dass sich dieser Nationalismus in vielen Hinsichten als klassische antikoloniale Bewegung indigener Afrikaander darstellte. Diese afrikanischen Bewegungen sahen und suchten ihr Heil zumeist darin, den bestehenden Staat von den Kolonisten zu übernehmen.

Dieses Ziel, das alle anderen überlagerte, wurde häufig erst nach langen bewaffneten Kämpfen erreicht, während administrative und wirtschaftliche Führungsqualitäten kaum entwickelt wurden. Die eigentliche historische Herausforderung trat erst viel später zutage. Sie bestand darin, die importierte koloniale Modernität mit den lokalen Erfordernissen zu versöhnen.

Statt diese Aufgabe zu bewältigen, benutzten die neuen Eliten den südafrikanischen Staat als Instrument der Patronage - häufig zugunsten ihrer ethnischen Gruppe -, indem sie, wie die früheren kolonialen Eliten, ausländischen Interessenten Zugang zu den einheimischen Reichtümern verschafften. Im Leben der meisten Bürger des Landes änderte sich damit freilich sehr wenig.

Nachdem die National Party (NP), als Vehikel des (burischen) AfrikaanderNationalismus, die Wahlen von 1948 gewonnen hatte, machte sie sich unverzüglich daran, ihre Klientel mit staatlichen Posten und Leistungen zu versorgen. Während Staat und öffentlicher Dienst nun vornehmlich für die Weißen da zu sein schienen, waren die Afrikaander, die den Staat in ihrer Muttersprache regierten, wie alle postkolonialen Eliten in der Dritten Welt entschieden nationalistisch eingestellt, zugleich aber auch bestrebt, sich die Anerkennung des Westens zu verdienen.5 Letzteres wollte man vor allem durch Vorantreiben der technologischen, ökonomischen und bürokratischen Modernisierung erreichen. Doch dieses Konzept musste, trotz vieler eindrucksvoller Erfolge, in seinem entscheidenden Punkt versagen: bei der Aufgabe, die importierte koloniale Modernität mit den Bedürfnissen der indigenen Communitys des Landes zu vereinbaren.

Als darüber hinaus im Lauf der 1950er-Jahre klar wurde, dass die NP an einem ernsthaften Dialog mit politischen Organisationen der Schwarzen nicht interessiert war, konnte der African National Congress (ANC) unter der klugen und mutigen Führung von Nelson Mandela und Walter Sisulu seine politische Dynamik entfalten und zum Medium des afrikanischen Nationalis- mus werden.

Der Gegner des ANC war nicht - und das ist für eine afrikanische Widerstandsbewegung entscheidend - eine ausländische koloniale, sondern eine einheimische Macht, die „sich wie eine Kolonialmacht verhielt“ - eben die NP. Das erklärt auch, warum Nelson Mandela und seine Generation der ANC-Führer, im Sinne ihres Ziels, dem Rassismus der NP entgegenzutreten, als zentrale Vorstellung einen „Nichtrassismus“ propagierten - der allerdings im heutigen Südafrika noch immer nicht verwirklich ist.

Statt aus dem Scheitern der NP zu lernen, zog der ANC aus seinem antikolonialen Kampf jedoch dieselben klassischen Fehlschlüsse: Auch die ANC-Führung ging davon aus, dass allein schon die Erlangung der staatlichen Macht für eine tatsächlich neue „Verteilung“ (dispensation) sorgen würde. Hinzu kam, dass der ANC - unter maßgeblichem Einfluss der südafrikanischen Kommunistischen Partei - auf der Notwendigkeit einer staatlichen Kontrolle der Wirtschaft beharrte, und dass er bis zum Fall der Berliner Mauer in der Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftsbereiche das Hauptinstrument einer solchen Politik sah.

Fraktionen nach dem Ende der Apartheid

Als der ANC 1994 an die Macht kam, gab es mindestens drei mächtige Fraktionen: Die „Robben Island“-Fraktion bestand aus den älteren Führungsfiguren um Nelson Mandela, von denen viele mit ihm im Gefängnis gesessen hatten. Die „Exil“-Fraktion um Thabo Mbeki vereinigte die jüngere Generation von politischen Führern, die zwischen den 1960er- und den frühen 1990er-Jahren im Exil waren. Die dritte, die Fraktion des inneren Exils (“Inzil“), bestand vorwiegend aus ehemaligen Aktivisten der Zivilgesellschaft, die im Lande geblieben waren. Ihre prominentesten Mitglieder waren Leute wie der Rechtsanwalt Matthews Phosa oder der ehemalige Gewerkschafter Cyril Ramaphosa, der heute ein äußerst erfolgreicher Unternehmer ist.

Die „Robben Islander“ unter Mandela stellten nach der Aufhebung des Parteiverbots, also seit 1990, die Führung des ANC und seit April 1994 auch die der Regierung. Ihre ideologische Leitidee war ein nichtrassischer Nationalismus bei starker Betonung des Versöhnungsgedankens. In dieser politischen Phase wirkten drei Faktoren zusammen: die außerordentliche einigende Kraft, die von Mandelas Person ausging; die relative Stärke des Staates und der staatlichen Infrastruktur; und ein Riesenpotenzial an Zuversicht und Zukunftshoffnungen bei einer Mehrheit der Bürger. Der ANC hatte damit die in der südafrikanischen Geschichte einmalige Chance, einen Ausgleich zwischen der importierten Modernität des Landes und den unerfüllten Bedürfnissen seiner Bürger herzustellen.

Leider hat die ANC-Führung diese Chance nicht genutzt. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens vermochte sie nicht zu erkennen, dass selbst ein „nichtrassischer“ Nationalismus ein Produkt der kolonialen politischen Ökonomie und nicht etwa seine Alternative ist. Zweitens wehrte sie sich nicht gegen die Zumutungen des „Washington Consensus“ (WC), der die Forderungen der reichen Welt an die Schwellenländer formuliert. Vielmehr akzeptierte man als erste afrikanische Regierung „freiwillig“ die Vorgaben des WC und setzte 1996 unter Aufsicht des Regierungschefs Thabo Mbeki und praktizierte - ohne Konsultation des ANC oder gar der gesamten Gesellschaft - die neoliberale Wirtschaftspolitik des sogenannten Gear-Programms. Drittens führte man eine auf ethnischen Kriterien basierende Arbeitsmarktpolitik ein, die auf positive Diskriminierung (“affirmative action“) und ökonomische Stärkung der schwarzen Armutsgruppen setzte, die unter dem Titel „Black Economic Empowerment“ (BEE) läuft.

Vor allem die beiden letzten Faktoren ebneten den Weg für die Exilfraktion und ihren rassisch definierten Nationalismus unter Führung von Thabo Mbeki, der damals Vizepräsident war, jedoch praktisch die Rolle des amtierenden Regierungschefs ausfüllte. Die Stunde dieser Fraktion kam mit der 50.Nationalen Konferenz des ANC im Dezember 1997. Damals verkündete Nelson Mandela in einer Rede, die nach Ansicht vieler von Thabo Mbeki verfasst war, dass die Ära der Versöhnung zu Ende sei. Jetzt müsse die Ära der „gesellschaftlichen Transformation“ beginnen, orientiert am Konzept der sogenannten National-Demokratischen Revolution (NDR), dem Lieblingsprojekt der Mbeki-Fraktion.

Die Ziele dieses NDR-Projekts hat unter anderem der enge Mbeki-Berater Joel Netshitenzhe ganz ungeschützt benannt: Der ANC als „Avantgarde der Massen unseres Volkes“ solle mithilfe seiner „loyalen Kader“ die Kontrolle über alle Bereiche der Gesellschaft übernehmen, natürlich inklusive der Wirtschaft. Auf diesem Gebiet werde man hauptsächlich Instrumente wie Black Economic Empowerment, positive Diskriminierung und Übergabe von Land an die Schwarzen einsetzen, wobei sich der Erfolg mehr oder weniger an der Erfüllung rassischer „Quoten“ bemessen werde.

Alles für die schwarze Mittelklasse

Fatal war bei all dem die völlig irrige Annahme, dass sich das Unrecht der rassistischen Apartheidära ausgerechnet dadurch korrigieren ließe, dass man die „Rasse“ zum Leitprinzip macht - statt etwa die Sprache oder das Einkommensniveau. Auch die beiden letztgenannten Kriterien erfassen die ethnisch motivierten Ungerechtigkeiten der Vergangenheit, ohne jedoch an der hässlichen Fiktion der Rasse festzuhalten.

Was hat die Strategie Mbekis gebracht? Ihre anfänglichen Erfolge konnten die Krise, die sie auf lange Sicht hervorbringt, zunächst noch verdecken. Im Rahmen des zentralistischen NDR-Projekts entstand mit Black Economic Empowerment und positiver Diskriminierung eine kleine schwarze Mittelklasse, als deren stolze Galionsfiguren sich schwarze Milliardäre wie Ramaphosa präsentieren dürfen. Für die armen bis sehr armen Südafrikaner, die in ihrer großen Mehrheit Schwarze sind und in Townships oder primitiven Wellblechsiedlungen leben, hat sich in dieser Zeit nur wenig geändert.

Im Rahmen dieser Politik wurden staatliche Unternehmen wie die nationale Rundfunk- und Fernsehanstalt, der Stromversorger (Eskom), das staatliche Telekom-Unternehmen (Telkom) und der öffentliche Dienst, der seit 1995 mehr als 100000 ausgebildete Arbeitskräfte verloren hat (die meisten davon Weiße), zu Instrumenten eines ANC-Klientelsystems. Dies hatte zur Folge, dass Verbesserungen ausblieben und wichtige Bereiche wie Gesundheits- und Bildungswesen inzwischen ebenso erodiert sind wie das Transportsystem und andere Infrastrukturbereiche. Und am härtesten sind davon wiederum die 60Prozent der in Armut lebenden Südafrikaner betroffen, von denen die allermeisten Schwarze sind.

Das gegenwärtige Flüchtlingsproblem ist das Ergebnis des Zusammentreffens gleich mehrerer akuter Krisen: Korruption und Misswirtschaft im Innenministerium; die Krise in Simbabwe, die fast 3 Millionen Flüchtlinge aus dem Nachbarland nach Südafrika trieb6 ; eine verfehlte Politik des Innenministeriums, die diese Menschen praktisch zu „illegalen Immigranten“ gemacht hat; und die unzulängliche Kontrolle über die Grenzen des Landes - all das führte zu einer Krisensituation, die von der Regierung nach wie vor geleugnet wird. Nicht einmal die zehn Flüchtlingslager, die derzeit für mehr als 40000 vertriebene Afrikaner aus anderen Ländern entstehen, werden offiziell als solche bezeichnet, sondern firmieren als „provisorische Unterkünfte“.

Im Grunde waren die fremdenfeindlichen Gewaltakte vom Mai vorhersehbar. Und tatsächlich haben einige bekannte Intellektuelle sie auch vorausgesagt: zum Beispiel Rhoda Khadalie, als er in der südafrikanischen Tageszeitung Business Day von Übergriffen auf somalische Bürger in der westlichen Kapprovinz berichtete. Diese Gewalttaten geschehen vor dem Hintergrund unzureichender öffentlicher Leistungen, einer maroden Infrastruktur und anhaltender Armut in vielen Townships und Obdachlosenlagern - und die meisten geschehen in den beiden reichsten Provinzen, nämlich Gauteng (um Johannesburg) und Western Cape, wo auch auch viele der afrikanischen Flüchtlinge ein elendes Leben fristen.

Daher gehen jetzt viele verzweifelte, von ihrer Regierung im Stich gelassene schwarze Südafrikaner, die sich noch bis vor wenigen Jahren kaum oder niemals fremdenfeindlich verhalten hatten, auf ausländische Bürger los, von denen sie behaupten, sie würden den Südafrikanern ihre Häuser und ihre Jobs wegnehmen. Das Zusammenwirken vieler Faktoren produziert nach dem klassischen Muster traumatisierte Opfer, die auf ihre Lage aufmerksam machen, indem sie Gewalt gegen noch Schwächere ausüben.

Äußerst beunruhigend für die Mbeki-Regierung ist, dass diese Situation das Versagen ihres wichtigsten Instruments der Armutsbekämpfung offenbart: Die unterschiedlichen Sozialleistungen - finanzierbar nur dank der hohen Weltmarktpreise für die südafrikanischen Waren und Bodenschätze -, die laut Finanzministerium derzeit für 12,4 Millionen Südafrikaner erbracht werden, konnten der Regierung nicht die erhoffte Stabilität erkaufen, die sie gebraucht hätte, um die verheerenden Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der staatlichen Misswirtschaft aufzufangen.

Im Rahmen der längeren, noch nicht abgeschlossenen kolonialen Periode der südafrikanischen Geschichte hat die Mbeki-Regierung also durch Schaffung einer kleinen (aber zunehmend gefährdeten) schwarzen Mittelklasse das postkoloniale Muster fortgeschrieben: Ein kleiner Teil ihrer Wählerklientel darf an der importierten Modernität teilhaben, ohne dass diese durch eine gründliche Reform auf die lokalen Bedürfnissen abgestimmt wird. Noch wichtiger ist allerdings ein anderer Punkt: Indem die Regierung die Erosion des Staates und der Infrastrukturen zugelassen hat - und außerstande ist, die Auswanderung von qualifizierten, zumeist weißen Arbeitskräften zu stoppen -, hat sie wichtige Bereiche der importierten Modernität selbst zugrunde gerichtet. Nicht zuletzt deshalb sind antimoderne pathologische Erscheinungen wie Rassismus, Ethnozentrismus, Fremdenhass und religiöser Fundamentalismus, die sich unter ähnlichen Bedingungen überall in der Welt artikulieren, nun auch in Südafrika auf dem Vormarsch.

Heißt all dies, dass es für Südafrika keine Hoffnung mehr gibt? Nicht unbedingt. Die Abwahl von Mbeki als Präsident des ANC im Dezember 2007 und seine Ablösung durch Jacob Zuma, der eine lebendige Brücke zwischen der „Exil-“ und der „Inzile“-Fraktion darstellt, schafft Raum für eine ernsthafte landesweite Debatte.7 So gesehen hat sich in Mbekis Abwahl die zunehmende Unzufriedenheit und antimoderne Stimmung Luft gemacht und zugleich neue Ideen aus der Zivilgesellschaft in die öffentliche Sphäre strömen lassen.

Ob Südafrika noch tiefer im Sumpf antimoderner Reflexe versinkt oder ob es dem Land gelingt, sich gewissermaßen neu zu erfinden, hängt davon ab, wie rasch der ANC alternative Strategien übernimmt. Denn die gibt es bereits. Sie setzen auf eine an den Communitys orientierte Wirtschaft, auf die Förderung der indigenen Sprachen und dergleichen.

Diese Aufgabe könnte auch eine neue Partei anpacken, die Südafrika heute eindeutig braucht. Denn der ANC hat ein gravierendes Problem: Die strategischen Alternativen, über die ihre (immer stärker werdenden) Bündnispartner, der Gewerkschaftsverband Cosatu und die KP Südafrikas, am intensivsten diskutieren, liegen noch immer auf der Linie einer Kommandowirtschaft. Und die kann in Südafrika mangels eines effektiven Staats und aufgrund der großen kulturellen Vielfalt des Landes einfach nicht funktionieren.

Hinzu kommt, dass es im Lager des neuen ANC-Führers Jacob Zuma eine Gruppe zwielichtiger Figuren gibt (in das ANC-Exekutivkomitee wurden zum Beispiel etliche verurteilte Straftäter gewählt), die ein handfestes persönliches Interesse an der Pflege der Illusion eines starken und einigen ANC haben, der sie weiterhin mit staatlichen Aufträgen und anderen Patronageleistungen bedient.

Deshalb ruhen derzeit die größten politischen Hoffnungen auf der stark entwickelten Zivilgesellschaft und der enormen kulturellen Vielfalt des Landes. Beide zusammen können auf eine Fülle von bewährten und machbaren lokalen Alternativstrategien verweisen und auf Beispiele dafür, dass echte Teilhabe einen Wandel herbeiführen kann.

Die politischen Kräfte in diesen beiden Bereichen sind jedoch auf die Hilfe der Freunde Südafrikas in aller Welt angewiesen, damit jener überfällige politische Aufbruch gelingen kann, der sowohl die importierte Modernität als auch den alten Nationalismus zu überwinden vermag.

Fußnoten: 1 Dank intensiver Recherchen des Journalisten Beauregard Tromp von der Johannesburger Tageszeitung The Star konnte der Tote identifiziert werden: Es ist der 35-jährige Ernesto Alphabeto Nhamuave aus Mosambik. Zu den Details siehe: Arne Perras, „Ernestos tödlicher Irrtum“, Süddeutsche Zeitung, 3. Juni 2008. 2 Als „Townships“ bezeichnet man die Gebiete an den Rändern der traditionell weißen Großstädte, in denen die Schwarzen unter dem Apartheidregime (1948-1994) lebten. Dazu zählen auch die Obdachlosenviertel (“informelle Siedlungen“), in denen auch andere Schwarzafrikaner leben. 3 Hermann Giliomee zeigt in seiner monumentalen Geschichte der Afrikaanders, dass es im Grunde erst seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts üblich war, den Begriff auf die weißen Mitglieder der Gemeinschaft der Afrikaans-Sprechenden zu beschränken. Siehe: „The Afrikaners: Biography of a People“, Cape Town, South Africa and Charlottesville, Virginia (Tafelberg) 2003. 4 Großbritannien und die anderen westeuropäischen Industriestaaten sind auch heute noch wichtige Handelspartner Südafrikas, doch seit einigen Jahrzehnten haben die rohstoffhungrigen Schwellenländer China und Indien stark an Bedeutung gewonnen. 5 Siehe dazu auch die Darstellung des postkolonialen Indien und dessen Auseinandersetzung mit der westlichen, kolonialen Modernität: Pankaj Mishra, „Temptations of the West“, Picador (London) 2007. 6 An dieser Krise hat die Politik Mbekis einen erheblichen Anteil. Siehe R. W. Johnson, „Where do we go from here? Report from Zimbabwe“, London Review of Books, 8. Mai 2008. 7 Siehe Johann Rossouw, „Neue Ära für Südafrika“, Le Monde diplomatique, März 2008.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Johann Rossouw leitet die Redaktion der Afrikaans-Ausgabe von Le Monde diplomatique.

©Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2008, von Johann Rossouw