Verbrechen und Tatsachen
Italiens Vergangenheitsbewältigung per Kriminalroman von Serge Quadruppani
Auf den Erfolg von Kriminalromanen ist im italienischen Verlagswesen Verlass. Das Genre und insbesondere seine Autoren gelten, ebenso wie in Frankreich, als ausgesprochen gesellschaftskritisch. Man könnte also erwarten, hier lebendige Erzählungen von der „großen revolutionären und kreativen Welle“ zu finden, die vom Ende der 1960er-Jahre an für gut ein Jahrzehnt die Halbinsel „politisch und existenziell“ erfasst hatte.1 Später hießen diese Jahre dann „die bleierne Zeit“, womit sie vor allem dem Vergessen geweiht waren.
Denn vergessen werden soll, dass die bei weitem blutigsten Attentate das Werk von Faschisten waren, die mit Geheimdienstlern und der Staatsmacht im Bunde waren, und dass weder die Auftraggeber noch die meisten Attentäter je verurteilt worden sind.2 Vergessen werden soll auch, mit welcher Unerbittlichkeit sich die repressive Justiz damals auf die extreme Linke stürzte.3 Und vor allem soll vergessen werden, dass tausende, vielleicht Millionen Italiener jahrelang in einer Radikalopposition zu dem Land mit der großen kulturellen Tradition lebten, die sich in ihrer Breitenwirkung, Langlebigkeit und Ernsthaftigkeit als die größte antikapitalistische soziale Bewegung der italienischen Nachkriegsgeschichte erweist.
Doch außer Nanni Balestrini und – zumindest stellenweise – Erri de Luca haben sich Romanautoren mit diesem Komplex, der Italiens Geschichte so tief geprägt hat, kaum befasst.4 Haben die Krimiautoren es besser gemacht? 1968 galt der „Giallo“ – wie Krimis in Italien wegen der gelben Umschläge der berühmten Mondadori-Reihe heißen – als Schund, nicht zuletzt weil in den damaligen Kriminalromanen faschistisches Gedankengut noch nachwirkte. Schließlich hatten unter Mussolini die Verbrecher auf keinen Fall Italiener sein dürfen, und die Geschichten mussten sich immer jenseits der italienischen Wirklichkeit abspielen.
Doch 1968 zeichnete sich auch ein Fortschritt ab: Giorgio Scerbanenco wurde für seinen Roman „Die Verratenen“ mit dem internationalen Grand Prix du Roman Policier ausgezeichnet.5 Dieser Autor verankert seine realitätsnahen Krimihandlungen im Alltag der Mailänder Unterschicht, und das Feingefühl, mit dem er menschliche Konflikte und moralische Nöte beschreibt, geht einher mit einem tiefen Mitgefühl für die vom Wirtschaftsboom überrollten sozial Schwachen.
Nach Ansicht des Krimikenners Luca Crovi stellt der 1968 erschienene Roman „Der lombardische Kurier“ („I ragazzi del massacro“) „ein Bild der Zeit dar, in dem Scerbanenco zugleich das Unbehagen der damaligen Jugend schildert und kommentiert“:6 An einer Abendschule haben Jugendliche, die fast alle schon mal im Knast saßen, ihre Lehrerin massakriert. Scerbanencos Ermittler Duca Lamberti verhört einen „Anormalen“ – einen „Homo“ – und ahnt bald, dass das abscheuliche Verbrechen nicht von einem Mann, sondern „von einer hysterischen Frau“ verübt worden sein muss.
Die allmähliche Befreiung von alten Klischees
Damals berichtete die Mailänder Arbeiterzeitschrift Rosso nicht nur vom Kampf der Fabrikarbeiter, sondern auch von dem der Frauen und Homosexuellen.7 Diese beiden Welten der Stadt waren bis dahin noch nicht miteinander in Berührung gekommen.
Nach Auskunft seiner Tochter war Giorgio Scerbanenco (1911–1969) – Sohn eines Ukrainers, den die Bolschewisten erschossen hatten – „ein Intellektueller des 19. Jahrhunderts, ein Individualist, der eine tiefe Abscheu gegen jedes diktatorische Regime empfand, aber auch den Konsumwahn und die Allmacht des Geldes, die damals gerade im Kommen waren, ablehnte“.
Das schwulen- und frauenfeindliche Vokabular, dessen sich der wichtigste Vertreter der italienischen Kriminalliteratur von 1968 bediente, zeigt deutlich, wie sehr dieser Autor noch alten Klischees verhaftet war und wie wenig es dem damaligen Krimi gelang, das gesellschaftliche Rumoren aufzugreifen.
Der immense Erfolg der Montalbano-Krimis, die der in Sizilien geborene Schriftsteller und Regisseur Andrea Camilleri seit Jahren schreibt, hat viel zu der Anerkennung beigetragen, die das Genre heute in Italien genießt. Im privaten Gespräch distanziert sich Camilleri durchaus von den Positionen der orthodoxen Linken. Doch in seinen Romanen kommt er kaum über Anspielungen hinaus, in denen er den Opportunismus mancher Exgenossen bloßstellt: ehemals kleine Häuptlinge in der linken Szene, die einen Schwenk nach rechts absolviert haben und zu großen Bossen bei Zeitungen oder Fernsehsendern, zu Abgeordneten oder Senatoren aufgestiegen sind.
Anders Loriano Macchiavelli: 1968 war er 34 Jahre alt, leitete eine politisch engagierte Theatergruppe und nahm großen Anteil an der in seiner Heimatstadt Bologna besonders starken Protestbewegung. Ende der 1970er-Jahre gründete er zusammen mit anderen den berühmten literarischen Zirkel Gruppo 13, der sich für die Aufnahme von politischen und gesellschaftlichen Themen in die Kriminalliteratur starkmachte und so ihre Erneuerung vorantrieb.
Macchiavelli stellt seinem Protagonisten, Kommissar Sarti Antonio, einen politischen Freund zur Seite, Rosas – „nicht zufällig“, wie der Autor sagt, ein Achtundsechziger und APO-Aktivist. Sein bislang leider nicht ins Deutsche übersetzte Roman „Cos’è accaduto alla signora perbene“ spielt im Bologna der 1970er-Jahre, wo die in der Stadt regierende Kommunistische Partei mit den Demonstrationen der extremen Linken konfrontiert ist.8 Sarti macht anlässlich dieser Unruhen eine Entwicklung durch, er ist eher der sarkastische Augenzeuge der Ereignisse denn eine italienische Version von Georges Simenons Kommissar Maigret. Der Autor beschrieb sich seinerzeit einmal selbst als einen, der auf seinem „klapprigen Motorroller von einer Demo zur anderen raste, um den Tränengasgeruch zu schnuppern und sich die Kanonen der Panzerwagen anzugucken“. So ungefähr stellt man sich auch seinen Kommissar Sarti vor.
Bevor Massimo Carlotto einer der meistgelesenen Krimiautoren Italiens wurde, stand er 1976 wegen Mordes an einer Freundin vor Gericht. Die Verbissenheit, mit der die Strafverfolgungsbehörden Carlottos Verurteilung betrieben, lässt sich nur durch seine Mitgliedschaft in der linksextremen Lotta Continua erklären. 1993, nach fünfzehn Jahren Gefängnis und Exil, wurde Carlotto schließlich begnadigt. Die grausam schönen Romane, die er geschrieben hat, nehmen Entwicklungen der italienischen Gesellschaft in den Blick und sind durchdrungen von den bitteren Erfahrungen des Autors.
Am 12. Dezember 1969 explodierte an der Mailänder Piazza Fontana eine Bombe, die siebzehn Menschen in den Tod riss und achtzig weitere verletzte. Die Ermittler kümmerten sich kaum um Hinweise auf rechtsextreme Täter und bestimmte Abteilungen des Geheimdienstes – Spuren, die es schnell gab und die sich inzwischen als die richtigen erwiesen haben. Stattdessen ließen sie Anarchisten verhaften. Einer von ihnen, der Eisenbahner Giuseppe Pinelli, starb während eines Verhörs im Polizeipräsidium. Er sei aus dem Fenster im vierten Stock gestürzt, hieß es.9 Der ebenfalls festgenommene Tänzer Pietro Valpreda, aus denselben Kreisen wie Pinelli, wurde in einer Pressekampagne zum Täter erklärt und als die für das Attentat verantwortliche „Bestie“ präsentiert: Er saß drei Jahre im Gefängnis, ehe seine Unschuld anerkannt wurde.
Zusammen mit dem Journalisten Piero Colaprico hat der 2002 verstorbene Valpreda drei Kriminalromane verfasst, die nicht auf Deutsch vorliegen. „La Primavera dei Maimorti“ beschreibt die Atmosphäre im Mailand des Jahres 1969, geprägt von Hausbesetzungen, Demos und Graffiti. Die Schilderung des Knastlebens mündet in eine halluzinatorische Vision der großen Revolte vom 7. Juli 1968 im Mailänder Stadtgefängnis San Vittore. In dem Moment, als die Polizei das Gebäude wieder unter Kontrolle bekommt, stößt einer der Aufrührer einen Schrei aus, der für die ganze Generation der achtundsechziger Rebellen stehen könnte: „Genossen, die Bullen sind da und werden uns alle abschlachten … Aber verdammt, was hatten wir für einen Spaß!“10
Auch der Roman „L’ultimo sparo“ von Cesare Battisti, ehemals Mitglied der Roten Brigaden, ist weitgehend autobiografisch.11 Erzählt wird die Geschichte eines Kleinkriminellen, der mit anarchistischen und autonomen Gruppen in Kontakt kommt und dadurch politisiert wird. Neben der ebenso lebensfrohen wie verzweifelten Atmosphäre vermittelt der Roman auch ein Bild von den ideologischen Spannungen und dem Zerfall der bewaffneten Gruppen. Selten ist es einem Autor gelungen, die Ereignisse von damals so lebendig werden zu lassen: „Aber wie viele seid ihr? Ja, ich meine … wir alle, die Gruppe?“ – „Wie sollen wir das wissen. Mal sind wir zwei, dann wieder zwanzig. Und manchmal sind wir hunderttausend.“
Abgesehen von den hier genannten und einigen wenigen anderen Autoren kann man nicht behaupten, dass der moderne italienische Krimi als Genre gegen das verordnete Vergessen antritt. Die mal nostalgische, mal belächelnde Erinnerung an Achtundsechzig und die Achtundsechziger blendet die Jahre nach 68 zumeist völlig aus; sie überspringt die Komplexität der Ereignisse und den Schmerz, der mit der Rückkehr zur Normalität verbunden war. Es ist kein Zufall, dass sich die wenigen oppositionellen Stimmen gegen den derzeit triumphierenden Berlusconismus vor allem auf einer Website zur „Literatur, Fiktion und Gegenkultur“ äußern: carmillaonline.com ist der Ort, an dem das sozialkritische Potenzial des modernen italienischen Kriminalromans lebendig wird.
Wenn ein Autor wie der fünfzigjährige Richter Giancarlo de Cataldo die korrupt-mafiöse Szenerie der 1980er-Jahre ausleuchtet („Romanzo criminale“, 2002); wenn sich der dreißigjährige Simone Sarasso in „Confini di Stato“ (2006) mit den kriminellen Machenschaften der politischen Klasse der 1970er-Jahre auseinandersetzt; wenn das Autorenkollektiv Wu Ming in seinem Roman „1954“ (2006) anhand der Ereignisse eines Jahres die Geburt des modernen Italiens beschreibt; wenn knapp Vierzigjährige wie Giuseppe Genna („Catrame“, 2008) oder Gianni Biondillo („Per cosa si uccide“, 2004) von ihrer Kindheit in den Arbeitervierteln von Mailand erzählen, dann zeigen sie in ihrer Vielstimmigkeit das Potenzial ihres Genres: Der Krimi hat von den politischen und gesellschaftlichen Abgründen Italiens sehr viel zu erzählen.
Serge Quadruppani ist Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber der Reihe „Bibliothèque italienne“ bei den Editions Métaillié in Paris.