11.07.2008

Aufstand in Gafsa

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Aufstand in Gafsa

Im Phosphatrevier Tunesiens wird der autoritäre Staat herausgefordert von Karine Gantin und Omeyya Seddik

Die Frauen von Redeyef waren empört: „Sollen sie die Stadt doch haben, wenn sie unbedingt wollen!“ Am 7. Mai 2008 packten zahlreiche Einwohner der Stadt im Bergbaugebiet von Gafsa das Nötigste zusammen und brachen auf.

Dieser kollektive Exodus war ein Protest gegen die Besetzung von Redeyef durch die Polizei. Die Behörden hatten allerdings schon eine Warnung ausgesprochen: Wer bis in die Berge – in Richtung Algerien – fahren sollte, werde wegen Hochverrats angeklagt. So war es bereits den Einwohnern eines Nachbarorts ergangen, die einige Wochen zuvor politisches Asyl im Nachbarland beantragt hatten. Der Treck aus Redeyef ließ sich dann doch noch von einer Verhandlungsdelegation zur Umkehr bewegen. Nach einigem Hin und Her hatten die Vertreter der lokalen Obrigkeit sich mit dem Argument durchgesetzt, dass der Kampf doch weitergehen müsse.

Das Bergbaugebiet von Gafsa, 400 Kilometer südwestlich von Tunis, ist ein Zentrum der Arbeiterbewegung. Immer wieder war es dort zu Rebellionen gekommen.1 Die jüngsten Aktionen sind ein zorniges, solidarisches und stolzes Aufbegehren gegen die Strategie der Regierung, die Stadt durch Schikanen der Polizei und eine gesteuerte Pressekampagne in die Knie zu zwingen.

Der Konflikt hatte am 5. Januar 2008 begonnen, als die Bergbaugesellschaft Compagnie des Phosphates de Gafsa (CPG), der einzige große Arbeitgeber der Region, ihre Neueinstellungen bekannt gab. Die Bevölkerung unterstellte Manipulationen bei der Auswahl der Beschäftigten. Als jugendliche Arbeitslose aus Protest das Regionalbüro der Einheitsgewerkschaft UGTT in Redeyef besetzten, erhielten sie Unterstützung durch die Witwen von Bergleuten und deren Familien, die vor dem Gebäude ein Zeltlager aufschlugen. Rasch griff die Bewegung weiter um sich. Immer neue Gruppen von Arbeitern, Arbeitslosen, Schülern und normalen Einwohnern riefen zu Streiks auf und organisierten weitere Kundgebungen und Protestaktionen gegen die allgegenwärtige Korruption und Günstlingswirtschaft in der lokalen Verwaltung wie gegen die Ungerechtigkeiten in der Arbeitsmarktpolitik. Und das alles vor dem Hintergrund der großen Armut, die in der Region herrscht, und der jüngsten drastischen Preissteigerungen.

Das nahe der algerischen Grenze gelegene Redeyef lebt wie die anderen Städte der Bergbauregion um Gafsa (Oum Laarayes, Metlaoui, El Mdhilla) seit jeher unter der Fuchtel der Compagnie des Phosphates de Gafsa (CPG). Das Unternehmen war 1897 gegründet worden, nachdem Philippe Thomas (Veterinärmediziner, Amateurgeologe und Leiter einer landwirtschaftlichen Strafkolonie) die Phosphatvorkommen in der Umgebung von Gafsa entdeckt hatte.

Die Ausbeutung der Bodenschätze erfolgte von Anfang an mit den klassischen Kolonialmethoden.2 Dazu gehören die rücksichtslose Landnahme durch Enteignung der ansässigen Bevölkerung, die Ausbeutung der Vorkommen ohne Rücksicht auf Menschenleben und unter enormer Belastung der Umwelt; die Einführung eines Systems von Günstlingswirtschaft, das auf pseudotraditionellen Familien- und Clanstrukturen basiert.3

Fast alle diese kolonialen Methoden werden auch heute noch in leicht veränderter Form weitergeführt. Die CPG, die 1996 mit dem Unternehmen CGT (Groupement chimique tunisien) fusionierte, ist bis heute der wichtigste Arbeitgeber in der Region. In den letzten 25 Jahren wurde die Produktion modernisiert und der Untertagebergbau schrittweise zugunsten des Tagebaus aufgegeben, was zu besseren Arbeitsbedingungen und weniger tödlichen Arbeitsunfällen führte.

Aber diese Modernisierung führte zugleich zur Entlassung von drei Vierteln der Belegschaft. Heute sind nur noch 5 000 Menschen direkt bei CPG angestellt. Um ihre Arbeitsverträge und Arbeitsbedingungen beneidet man sie in einer Region, in der die Arbeitslosigkeit bei fast 30 Prozent der Erwerbsbevölkerung und damit doppelt so hoch liegt wie im Landesdurchschnitt (wobei die offiziellen Zahlen auch hier umstritten sind). Allerdings gruppieren sich um das Großunternehmen zahlreiche Subunternehmen, deren Mitarbeiter keine arbeitsrechtliche und soziale Absicherung haben und deutlich unterbezahlt sind. Weitere Arbeitsplätze bieten lediglich kleine Handelsfirmen, die vor allem Geschäfte mit Algerien machen. Viele wollen deshalb auf der anderen Seite des Mittelmeers Arbeit suchen und setzen dafür ihr Leben aufs Spiel. Andere ziehen in die Armenviertel am Rande der Städte, die an der Küste, dem florierenden Teil Tunesiens liegen.

Eine sterbende Industrie und eine korrupte Gewerkschaft

Wer die 5 000 Arbeitsplätze bei CPG und die Gelder für Umschulungsprogramme erhält, regelt das Unternehmen in enger Zusammenarbeit mit den regionalen Vertretern der Gewerkschaft UGTT. Bis vor einigen Jahren profitierte die Region von ihrem bescheidenen Anteil an dem gewaltigen Reichtum, den die Phosphatindustrie hervorbrachte. Dabei sorgten die Vertreter der Einheitsgewerkschaft und der Regierungspartei RCD (Rassemblement constitutionnel démocratique) für die heikle Balance zwischen den Ansprüchen der diversen Familien und Sippen, wobei sie zugleich als Repräsentanten oder Vermittler für die großen Stämme in der Region, also die Ouled Abid und die Ouled Bouyahia, agierten. Doch obwohl der Phosphatpreis auf den internationalen Märkten immer neue Rekordhöhen erreichte, gab es in der Region immer weniger zu verteilen. Auch weil die Korruption zur Regel wurde, wuchs die Unzufriedenheit. Inzwischen ist die regionale UGTT nur noch die Zentralverwaltung einer parasitären Oligarchie, die sich darauf beschränkt, die letzten Brosamen vom Tisch der Phosphatindustrie an ihre engsten Verwandten und Freunde zu verteilen. In den Augen der Bevölkerung sind diese Funktionäre die Vertreter einer ungerechten, fremden Macht.

„Wir Bergleute begehen niemals Unrecht, aber wenn man uns Unrecht tut, dann …“ – und es folgt ein drastischer Fluch. Das Ganze steht auf dem Transparent in Redeyef. Seit Januar folgten auf die Demonstrationen von Arbeitslosen und Hochschulabsolventen ohne Berufsaussichten Streiks und Besetzungsaktionen, an denen sich alle Schichten der Bevölkerung beteiligten. Es gab Sitzblockaden von Familien, deren Angehörige im Bergwerk zu Tode kamen oder zu Invaliden wurden, und Proteste entlassener Arbeiter. Die Kundgebungen von Müttern, deren Söhne (oder Ehemänner) nach den ersten Demonstrationen verhaftet worden waren, mündeten in einen Generalstreik, an dem sogar die Einzelhändler teilnahmen.

Nachts bewegen sich die Jugendlichen in kleinen Gruppen durch die Straßen, um die Bewohner zu beschützen. Wenn sie losziehen, schleudern sie Steine gegen die Stahlträger einer Brücke. Das nennen sie ihre „Kriegstrommeln“ – in Anspielung auf die wehrhaften Stammestraditionen. Sie sind bereit, es mit der Polizei aufzunehmen – oder auch nur, ihr die Verpflegung zu stehlen, um die belegten Brote im eigenen Lager zu verteilen. Überall spürt man unter den Einwohnern einen beeindruckenden Zusammenhalt, den die Ordnungskräfte nicht aufbrechen können. Trotz des Schweigens der staatlich kontrollierten Medien hat sich der Aufstand in dieser entlegenen Region mittlerweile zur machtvollsten und hartnäckigsten sozialen Bewegung in der jüngeren Geschichte Tunesiens entwickelt.

Das Regime setzte zunächst auf immer brutalere Repression durch die Polizei, die zwei Menschenleben kostete, während dutzende Demonstranten verletzt und festgenommen wurden. Im Juni wurde der Belagerungsring um die Bergbauregion dann sogar durch Panzereinheiten der Armee verstärkt. Diese Eskalation der staatlichen Gewalt führt dazu, dass statt mit Tränengasgranaten mit scharfer Munition geschossen wird, dass immer mehr Jugendliche in Verhörzellen und in Untersuchungshaft landen und dass das Militär die umliegenden Berge durchkämmt, um Flüchtige aufzugreifen, die der Folter entkommen wollen.

Einige Gruppen von Jugendlichen wurden bereits abgeurteilt, wobei die Gerichtsverhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Die verhängten Strafen fielen höchst unterschiedlich aus. Die Opposition in Tunis, aber auch Unterstützergruppen im Ausland (in Nantes, wo viele Emigranten aus Redeyef leben, in Paris oder auch in Mailand) sind sehr bemüht, die Nachrichtensperre zu durchbrechen.3 Aber es fällt schwer, den Widerstand zu organisieren. Die Zivilgesellschaft Tunesiens ist politisch geschwächt, sie stand über viele Jahre unter dem Druck eines extrem repressiven Regimes und konnte so keine großen Solidaritätsbekundungen zustande bringen. Die Machthaber ignorieren die Ereignisse oder bezeichnen sie als das Werk „aufrührerischer Elemente“. Vielleicht konnte deshalb der Aufstand nicht auf andere Regionen übergreifen, ausgenommen die Stadt Fériana in der benachbarten Provinz Kasserine.

In Redeyef hat die Protestbewegung inzwischen das Alltagsleben auf den Kopf gestellt. Nachdem die aufständischen Bürger die UGTT-Zentrale in der Stadtmitte, direkt neben der Provinzverwaltung, besetzt hatten, machten sie das Gewerkschaftsgebäude zu ihrem Hauptquartier. Die UGTT wollte das verhindern und ließ neue Vorhängeschlösser anbringen, aber die Bürger eroberten das Gebäude ein zweites Mal. Im Erdgeschoss, wo auch die Versammlungen stattfinden, gibt es ein Café, das heute als eine Art permanente Agora fungiert. Auf dessen großer Terrasse versammelt sich das Publikum, wenn einer der Streikführer vom Balkon im ersten Stock herab eine Rede hält. Zu den Versammlungen erscheinen auffällig viele Frauen.

Gleich gegenüber gibt es einen Stand, an dem die Flugschriften und Zeitungen der Opposition ausliegen. Bis Juni hatte dort Boubaker Ben Boubaker seinen Gemüsestand. Der arbeitslose Akademiker mit dem Spitznamen „der Chauffeur“ war durch einen ironischen Brief an den Bildungsminister populär geworden, in dem er Vorschläge zur Lösung des Arbeitslosenproblems machte. Daraufhin zerlegte die Polizei seine Marktbude und verwüstete auch seine Wohnung. Wie andere Oppositionelle ist auch er in die Berge geflohen.

Hoffnung auf einen Flächenbrand

Adnane Hajji sagt beschwörend: „Wir brauchen einen Erfolg. Die Leute müssen sehen, dass der friedliche Widerstand nicht vergeblich ist, sonst gibt es eine Katastrophe …“ Hajji ist Generalsekretär der Lehrergewerkschaft in Redeyef und eine charismatische Führungsfigur der Bewegung. Ihm und einigen Mitstreitern ist es zu verdanken, dass die Bewegung trotz der Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Clans noch geeint auftritt. Der Gewerkschafter genießt großes Ansehen, sogar bei den Hausfrauen und den Jugendlichen. Er weiß wohl, dass alle große Träume haben, dass aber jeder Versuch, diese Entwicklung zu stoppen, unkontrollierbare Folgen haben könnte. In der Nacht auf den 21. Juni wurde auch Adnane Hajji in seiner Wohnung verhaftet. Nach den anderen Mitglieder der Führungsgruppe läuft eine große Fahndung.

Adnane Hajji glaubt immer noch, dass sich die Probleme auf regionaler Ebene lösen lassen. Natürlich ist nicht zu übersehen, dass seit dem Beginn der Bewegung die Wahlplakate mit dem Aufdruck „Ben Ali 2009“ (die für die Wiederwahl des Staatspräsidenten werben) häufig von Einwohnern abgerissen oder mit ironischen Kommentaren („Ben Ali 2080“ oder „Ben Ali 2500“) versehen wurden. Aber vor Versammlungen und Kundgebungen werden die politischen Aktivisten gebeten, ihre Beteiligung nicht per Plakat anzukündigen.

Die Menschen im Bergbaugebiet von Gafsa sehen derzeit keine Chancen für eine baldige Veränderung an der Spitze des Staatsapparats.4 Nur eine mächtige nationale und internationale Solidaritätskampagne oder die Ausweitung ihres Aufstands auf andere Regionen Tunesiens könnte ihre Probleme einer Lösung näher bringen.

Darum fordert die Bewegung vorerst ein Ende der Repression und ehrliche Verhandlungen über die Beendigung der Krise. Sie verlangt die Rücknahme der Einstellungslisten der CPG, die sie für manipuliert hält, sowie ein Programm für die Beschäftigung arbeitsloser Akademiker, eine staatliche Initiative für die Ansiedlung neuer großer Industriebetriebe, die Beachtung internationaler Standards in Umweltfragen, bessere staatliche Leistungen auch für die Armen in den Bereichen Wasser- und Stromversorgung, Bildung, Gesundheitswesen. Als Motto für dieses Programm hat sie ausgegeben: „Entschlossenheit und Würde“.

Fußnoten: 1 Über den Bergarbeiterstreik vom März 1937 und dessen brutale Niederschlagung, die 17 Bergleute das Leben kostete, hat Simone Weil einen sehr lesenswerten Text geschrieben; in: Simone Weil, „Écrits historiques et politiques“, Paris (Gallimard) 1960. Sie greift darin auch die damalige Volksfront an, der sie vorwirft, bei ihrem Eintreten für die Arbeiterklasse die Augen vor den Verbrechen gegen Arbeiter in den Kolonien zu verschließen. Zwei Jahre nach den großen Streiks von 1978 kam es zu den „Vorfällen von Gafsa“ – die Region war damals Ausgangspunkt einer Bewegung zum Sturz des Staatspräsidenten. Siehe Khemmaïs Chammari, „L’alerte tunisienne“, Le Monde diplomatique, März 1980. 2 Siehe Paul Vigné d’Octon, „La sueur du Burnous“, Paris (Éditions La Guerre Sociale) 1911, Neuausgabe Paris (Les Nuits Rouges) 2001. Der Autor, Parlamentsabgeordneter aus dem Département L’Hérault, wurde in der 3. Republik zum Berichterstatter des Parlaments über die Lage in den Kolonien. 3 Informationen in deutscher Sprache zu den Arbeitskämpfen in Tunesien unter: www.labournet. de/internationales/tn. 4 Über das Regime von Präsident El-Abidine Ben Ali siehe Kamel Labidi, „La longue descente aux enfers de la Tunisie“, Le Monde diplomatique, März 2006.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Karine Gantin ist Journalist und Mitglied der Fédération des Tunisiens pour une citoyenneté des deux rives (FTCR); Omeyya Seddik hat die Auseinandersetzungen im Mai vor Ort verfolgt.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2008, von Karine Gantin und Omeyya Seddik