Den Freund im Nacken
In Zypern gibt es endlich Chancen für eine Lösung, doch die Krise in der Türkei lässt wenig Spielraum von Niels Kadritzke
Die Attacke der Immobilienhaie beginnt in der Ankunftshalle des Flughafens Larnaca. „Move to Cyprus“, locken Prospekte, die Ferienhäuser und Luxusappartments anbieten. Entlang der Autobahn nach Nikosia geht es im Großformat weiter. „Buy your Home in the Sun“ werben Baufirmen, die die Südküste zubetonieren.
Auf den ersten Blick hat die „Insel der Aphrodite“ nur ein Problem: Wie man Ausländern möglichst viel Beton und Boden verkaufen kann. In Nikosia angekommen, meldet sich das andere Zypernproblem zu Wort. „Welcome in Turkey“ lautet die SMS-Message. Die türkische Turkcell, die im Norden Zyperns die Lufthoheit hat, sendet stärkere Signale als Cytanet im Süden.
Das andere Zypernproblem, das die Welt seit einem halben Jahrhundert beschäftigt, ist seit vier Jahren auch ein Problem der Europäischen Union. 2004 wurde die geteilte Republik in die EU aufgenommen, obwohl die griechisch-zypriotische Regierung außerstande ist, ihre Souveränität auch über das nördliche Drittel des Territoriums auszuüben. Der von den türkischen Zyprioten bewohnte Teil nennt sich „Türkische Republik Nordzypern“ (TRNC) und ist eine völkerrechtliche Kuriosität. Als TRNC wird sie nur von der Türkei anerkannt, die seit der Invasion von 1974 über 40 000 Soldaten hier stationiert hat.
Nach Auffassung der UN und der griechischen Zyprioten ist der Norden besetzt. Aus Sicht der EU kann auf diesem Territorium der acquis communautaire „vorübergehend“ nicht angewandt werden. Dennoch haben türkische Zyprioten individuell alle Rechte von Unionsbürgern, etwa die begehrte Reisefreiheit im gesamten EU-Bereich. Die kann allerdings nur wahrnehmen, wer den Pass der Republik Zypern besitzt, bis heute etwa 80 000, also gut die Hälfte der türkischen Zyprioten. Im gesamten EU-Bereich gibt es kein Problem, das so kompliziert, so anormal, so unlösbar erscheint wie die Zypernfrage. Doch seit Frühjahr 2008 sehen Politiker und Experten von EU und UN wieder einen Hoffnungsschimmer.
Alte Anomalien wie neue Hoffnungen sind im Zentrum von Nikosia zu besichtigen: An der Ledrastraße, mitten in der Altstadt, wurde ein Fußgängerübergang eröffnet. „Europas letzte Mauer“ nennen die griechischen Zyprioten mit traurigem Stolz die von UN-Blauhelmen bewachte Demarkationslinie mitten durch Nikosia. Seit Anfang April können die Menschen wieder direkt zwischen dem griechischen und dem türkischen Zentrum der geteilten Hauptstadt hin und her flanieren. Das taten im ersten Monat 110 000 Besucher. Die Abfertigung dauert nur Minuten. Auf türkischer Seite muss man einen Zettel mit Namen und Ausweisnummer ausfüllen, auf griechischer Seite werden die Rückkehrer lediglich gefragt, ob sie tierische Produkte eingekauft haben, was nach EU-Recht verboten ist.
In der Altstadt von Nicosia erleben die Zyprioten derzeit, wie Fortschritte nicht nur einen absurden Zustand mildern, sondern auch wirtschaftliche Vorteile bringen. Der neue Übergang belebt das Geschäft auf beiden Seiten. Im türkischen Lokmaci-Viertel zeichnen die Schuh- und Textilläden ihre Ware jetzt auch in Euro aus. Und das Modekaufhaus Debenhams auf griechischer Seite wirbt mit dem Hinweis, dass man türkischsprachiges Personal beschäftigt. Allerdings sind fast alle turkofonen Verkäuferinnen griechische Gastarbeiterinnen, die ursprünglich aus den exsowjetischen Kaukasusrepubliken stammen, wo sich Türkisch als Lingua franca gehalten hat.
Das Symbol künftiger Chancen klimpert bereits in allen Taschen. Die Republik Zypern ist zum 1. Januar 2008 der Eurozone beigetreten. Seitdem breitet sich die neue Währung, vor allem über die Ledrastraße, auf der ganzen Insel aus. Auf den neuen Münzen hat das Land einen doppelten Namen: Kypros und Kibris. So verschafft der zypriotische Euro der türkischen Sprache ihren ersten Auftritt in der Eurozone. Dabei gibt es nur ein kleines Problem: Das 2-Euro-Stück ist der türkischen 1-Lira-Münze zum Verwechseln ähnlich. Da die aber nur 50 Cent wert ist, warnt die Polizei grenzübergreifend vor Wechselgeldtricks, im Norden auf Türkisch, im Süden auf Griechisch.
Warum der Pascha die Feuerwehr kommandiert
Hier an der Ledrastraße hat vor 35 Jahren die Teilung Zyperns begonnen. Kurz vor Weihnachten 1963 kam es zu den ersten Zusammenstößen zwischen bewaffneten türkischen und griechischen Zyprioten, die den Bürgerkrieg einleiteten. Um den Konflikt einzudämmen, zog damals ein britischer Offizier mit einem grünen Stift eine Linie, die aus der Ledrastraße eine Sackgasse machte. Diese „Green Line“ mitten durch Nikosia war seit Februar 1964 von UN-Blauhelmen bewacht. Nach der Invasion der türkischen Truppen im Sommer 1974 wurde sie Teil der Demarkationslinie, die sich quer durch die ganze Insel zieht (siehe Karte). Seitdem hat die Frage, wie man die Teilung überwinden kann, fünf Präsidenten der Republik Zypern überdauert und fünf UN-Generalsekretäre beschäftigt.
Der Fortschritt an der Ledrastraße wurde erst möglich, als die griechischen Zyprioten im März 2008 ihren Präsidenten Tassos Papadopoulos abwählten, der die Öffnung des Übergangs mit spitzfindigen juristischen Einwänden verzögert hatte. Seit der Ablehnung des Annan-Plans1 für Zypern im April 2004 war Papadopoulos vor allem darauf bedacht, alle Konzessionen an die türkischen Zyprioten zu verhindern, die als „Aufwertung“ der TRNC erscheinen könnten, und die griechischen Zyprioten glauben zu machen, dass die Zeit für sie arbeite, weil man als EU-Mitglied der Türkei mehr Zugeständnisse abpressen könne.
Dass der alte Präsident abgewählt wurde, hatte viele Gründe. Entscheidend war, dass die Mehrheit der griechischen Zyprioten nach fünf Jahren Papadopoulos begriffen hatte: Die Zeit arbeitet nicht für, sondern gegen eine Lösung des Zypernproblems. Zwei von drei Wählern stimmten für Kandidaten, die einen raschen Anlauf zu neuen Verhandlungen mit der türkischen Seite versprachen. Das waren Ioannis Kasoulides von der konservativen Disy und der Akel-Vorsitzende Dimitris Christofias. Als Christofias die Stichwahl gewann, hatte die Republik erstmals einen Präsidenten, der nicht das griechisch nationalistische Lager repräsentiert, sondern eine Linke, deren Patriotismus sich auf Zypern bezieht.
Diese Linke war schon zu britischen Kolonialzeiten von traditionellen Kommunisten dominiert, die mit der Akel (Fortschrittspartei des arbeitenden Volkes) bereits in den 1950er-Jahren die stärkste politische Partei des Landes stellte. Die Akel war stets – ungeachtet ihrer marxistisch-leninistischen Rhetorik und ihrer bis zum Ende der Sowjetunion gepflegten Moskautreue – eine moderate, mediterrane Variante der „Labour Party“, die stark in den Gewerkschaften und in der bäuerlichen Genossenschaftsbewegung verankert ist.
Noch wichtiger für die Zukunft der geteilten Insel ist eine andere Tradition der „Kommunisten“: Sie appellierten stets an beide Volksgruppen, und die ihnen verbundenen Gewerkschaften und Genossenschaften waren bis in die 1960er-Jahre die politische Heimat auch vieler türkischer Zyprioten. Die Republikanische Partei CTP, die heute im Norden den Präsidenten und den Regierungschef stellt, galt lange Zeit als „Ableger“ der Akel, und die Führer beider Parteien sahen sich bis in die jüngste Zeit noch als „Genossen“. Deshalb hat die Akel bei den türkischen Landsleuten bis heute einen Vertrauensbonus.
Auch in anderer Hinsicht repräsentiert Christofias einen Bruch mit der Ära Papadopoulos: Er gehört als erster Präsident zu einer Generation, die keine aktive Rolle im Bürgerkrieg von 1963/64 spielte, den die griechische Seite begonnen hatte. Papadopoulos dagegen war damals nicht nur Urheber des „Akritas-Plans“, der die „Enosis“ (Vereinigung) Zyperns mit Griechenland herbeiführen sollte, sondern auch Organisator der illegalen griechischen Milizen, die zum Schrecken der türkischen Zivilbevölkerung wurden. Da sich Papadopoulos von dieser Vergangenheit nie distanziert hat, galt er den türkischen Zyprioten stets als unglaubwürdiger Verhandlungspartner.2
Obwohl die Enosis als historische Option für die Inselgriechen seit langem erledigt ist, stehen Christofias und Papadopoulos auch heute noch für konträre Auffassungen: Ersterer für die wahrhaft „zypriotische“ Vision einer Föderation, die auf der gleichberechtigten Kooperation zweier konstituierender Bundesstaaten beruht; Letzterer für einen zweiten griechischen Staat mit mehr oder minder starken Minderheitenrechten für die türkischen Zyprioten.
Umso erstaunlicher war die Kooperation dieser beiden ungleichen Partner bei den Wahlen von 2003, die Papadopoulos zum Sieg gegen seinen Vorgänger, den gemäßigten Konservativen Klerides verhalf. Viele ausländische Beobachter waren damals ebenso schockiert wie die linken türkischen Zyprioten, dass ausgerechnet die Akel einen rechten Populisten an die Staats- und Regierungsspitze brachte.
Damit waren zugleich die Weichen für die spätere Ablehnung des Annan-Plans gestellt. Dass Christofias fünf Jahre später gegen Papadopoulos antrat, erklären informierte Beobachter damit, dass er seinen „Fehler“ von 2003 korrigieren wollte. Tatsächlich versprach der Akel-Vorsitzende in seinen Wahlreden, dass er alles tun wolle, um die endgültige Teilung des Landes zu verhindern. Und seit seiner Wahl hat er deutlich gemacht, dass er sich von dem Nationalisten Papadopoulos grundsätzlich unterscheidet. So entschuldigte er sich ausdrücklich für die Verbrechen, die 1963/64 von griechischen Zyprioten unter dem Kommando von Leuten wie Papadopoulos an ihren türkischen Landsleuten begangen wurden – eine Geste, die im Norden dankbar registriert wurde.
Am guten Willen des neuen Präsidenten hat auch Ferdi Sabit Soyer keinen Zweifel. Der Ministerpräsident der TRNC führt eine Koalitionsregierung, in der die Republikanische Partei (CTP) des Präsidenten Talat die stärkste Kraft ist. Allerdings ist Soyer skeptisch, ob Christofias den griechischen Zyprioten vermitteln kann, „was eine realistische Lösung ist“. Schließlich habe er noch die alten Parteien der „Ablehnungsfront“ in seiner Regierung. Soyer meint damit die Diko von Papadopoulos und die Edek, die sich sozialistisch nennt, aber in der Zypernfrage einen populistischen Nationalismus pflegt.
Die Zweifel sind berechtigt.3 Aber dass Soyer auf die kompromissfeindlichen Kräfte verweist, die Christofias im Nacken sitzen, entbehrt nicht einer bitterbösen Ironie. In Soyers Amtszimmer stehen zu beiden Seiten des wuchtigen Schreibtischs die Fahnen der TRNC und der Türkei, an der Wand dahinter hängt ein Porträt von Kemal Atatürk mit dem gewohnt grimmigen Blick. Der Regierung der türkischen Zyprioten sitzt ein politischer Partner im Nacken, den sie weder beeinflussen noch durch Wahlen loswerden kann.
Die Türkei ist zwar Garantiemacht der Republik Zypern mit gewissen – völkerrechtlich umstrittenen – Interventionsrechten. Aber die Allgegenwart der türkischen Flagge zeigt Machtverhältnisse an, die weit über die symbolische Präsenz einer „Garantiemacht“ hinausgehen: Seit 1974 sind im Norden Zyperns mindestens 40 000 Soldaten aus Anatolien präsent. Deren türkischer Oberbefehlshaber gebietet sogar über die Polizei und die Feuerwehr der TRNC, über die Geheimdienste sowieso. Von den türkischen Zyprioten wird er „Pascha“ genannt, wie ein Statthalter des Sultans zu osmanischen Zeiten.
In den Verhandlungen zwischen Christofias und Talat, die im September beginnen sollen, sitzt die türkische Armee unsichtbar mit am Tisch. Der Generalstab in Ankara hat die Zypernfrage wiederholt zu einer nationalen Causa erklärt, in der sich die kemalistischen Militärs die letzte Entscheidung vorbehalten. Dass dies auch für den TRNC-Präsidenten gilt, wurde Talat unmissverständlich klargemacht, als er im Januar 2007 einen ersten Anlauf zur Öffnung der Ledrastraße machen wollte. Weil er versäumt hatte, das türkische Militär zu fragen, wurde er nach Ankara in den Palazzo des Generalstabs einbestellt und von Generalstabschef Büyükanit vor der versammelten türkischen Presse über die Grenzen der „Souveränität“ seines Staates belehrt.
Wenn es um nationale Themen geht, zensieren die türkischen Militärs auch nordzypriotische Medien. Als der staatliche Sender Bayrak 2007 den Film „Our Wall“ zeigte, der den Bürgerkrieg von 1963/64 aufarbeitet und die nationalistischen Kräfte beider Seiten kritisiert, wurde der Intendant des Senders von den Militärs scharf attackiert – und alsbald zum Rücktritt gezwungen.4
Solche Botschaften waren an eine TRNC-Regierung gerichtet, der das kemalistische Militär schon deshalb misstraute, weil sie eng mit der AKP-Regierung in Ankara kooperierte. Auch dank der politischen Rückendeckung durch Erdogan konnte die linke CTP bei den Präsidentenwahlen 2003 ihren Kandidaten Talat gegen den „Verweigerungs“-Politiker Denktasch durchbringen, der jahrzehntelang als Erfüllungsgehilfe der Generäle in Zypern fungiert hatte.
Und nur weil sich die türkische Regierung 2004 beim Plebiszit über den Annan-Plan ausnahmsweise zurückgehalten hatte, fanden zwei Drittel der türkischen Zyprioten den Mut, für die Wiedervereinigung in Form einer bizonalen Föderation zu stimmen, die auch ihnen den EU-Beitritt ermöglichen sollte.
Seitdem hat sich in der Türkei der Machtkampf zwischen dem kemalistischen Lager und der regierenden AKP weiter zugespitzt. Damit befindet sich die Führung der türkischen Zyprioten in einer prekären Lage. Denn derzeit ist völlig offen, wie dieser Kampf ausgeht.
Noch im Sommer wird das türkische Verfassungsgericht über den vom Militär initiierten Verbotsantrag gegen die – angeblich islamistische – AKP entscheiden, und damit über das weitere Schicksal der Regierung Erdogan.5 Dann säße Talat zwischen allen Stühlen. Noch im September 2007 hatte er die türkischen Militärs verärgert, als er beim Staatsbesuch des frisch gewählten türkischen Präsidenten Abdullah Gül in Nikosia-Nord der neuen First Lady einen offiziellen Auftritt mit Kopftuch ermöglichte. Im September 2008 könnten in Ankara die unerbittlichsten Gegner einer Zypern-Lösung bereits die Oberhand gewonnen haben.
Das türkische Militär stand – ganz im Gegensatz zu Regierungschef Erdogan – dem Annan-Plan äußerst skeptisch gegenüber, denn der sah letzten Endes den vollständigen Abzug der türkischen Truppen aus Nordzypern vor. Um diese Schmach zu verhindern, planten die Kommandeure der Marine, der Luftwaffe und der Gendarmerie in der letzten Phase der Verhandlungen einen Putsch. Den lehnte der damalige Generalstabschef Özkuk jedoch ab, weil damit die EU-Perspektive der Türkei endgültig begraben gewesen wäre.6
Veruntreuung von Land zugunsten des Tourismus
Man kann davon ausgehen, dass die Militärs in Ankara auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht für eine Zypern-Lösung sind. Denn die würde in jedem Fall den Abzug der türkischen Armee bedeuten: die militärische Dauerpräsenz eines anderen Staates in einem EU-Mitgliedstaat Zypern ist undenkbar. Zum politischen Showdown in Ankara kann sich Präsident Talat deshalb nur sehr vorsichtig äußern.7 Und auf die Frage, ob nicht der Abzug eines Teils der türkischen Truppen eine vertrauensbildende Geste gegenüber den griechischen Zyprioten wäre, verweist er auf den Artikel im Anhang der TRNC-Verfassung, dem zufolge die türkische Armee für die Sicherheit des Nordens verantwortlich ist. Und nur diese könne ermessen, wie viele Soldaten dafür erforderlich sind. Dieses Ermessen infrage zu stellen, steht dem Präsidenten der TRNC offenbar nicht zu.
Als Talat noch nicht Präsident war, wollten er und seine Partei CTP besagten Artikel allerdings abschaffen, zumal dem Oberbefehlshaber des türkischen Militärs sogar die Polizei und die Feuerwehr Nordzyperns untergeordnet sind.8 Heute lässt Talat durchblicken, dass er es sich nicht leisten kann, auch noch diese Front zu eröffnen, zumal es zur Änderung der TRNC-Verfassung eines Plebiszits bedürfe.
Eine wichtige Frage vor der neuen und womöglich letzten Verhandlungsrunde lautet: Ist die Diskussionsbasis immer noch der Annan-Plan? Und wenn nicht, was dann? Die Antwort auf diese Frage ist eines der vielen Beispiele für die gewollte Unklarheit, die beiden Seiten erlaubt, ihr Gesicht zu wahren. Zuletzt hat man sich auf die Sprachregelung geeinigt, dass man auf der Basis aller „relevanten“ UN-Pläne und UN-Resolutionen der Vergangenheit verhandeln will. Das beinhaltet auch, aber eben nicht nur den Annan-Plan. Damit kann Talat auf seiner Position bestehen, dass der von den Inselgriechen abgelehnte Plan bei den neuen Verhandlungen nicht vom Tisch ist.
Aber steht die türkische Seite tatsächlich noch auf der Basis dieses UN-Plans, dem 2004 zwei Drittel der türkischen Zyprioten zugestimmt haben? 2008 muss sich Talat die Frage stellen lassen, ob dem Annan-Plan nicht längst die Substanz entzogen ist.
Das gilt zum Beispiel für die Frage der Rückgabe und Nutzung des Eigentums, das vertriebene griechische Zyprioten im Norden haben. Für die war im Annan-Plan eine begrenzte Rückgabe oder eine Entschädigung vorgesehen. Doch seit 2004 wurde ein Großteil dieses Besitzes in Bauland umgewandelt und verscherbelt, meist an Investoren aus der Türkei und Großbritannien, die bereits tausende „Homes in the Sun“ an ausländische Kunden verkauft haben. Die touristische Entwicklung des Nordens, die selbst die dünn besiedelte Halbinsel Karpass erfasst, spielt sich auf Grund und Boden ab, der nach internationalem Recht griechischen Zyprioten gehört.
Dass die großzügige Bedienung ausländischer Immobilieninteressen den griechischen Besitz im Norden aufgezehrt hat, will Talat nicht bestreiten. „Aber das wussten die Griechen, als sie den Annan-Plan ablehnten“, fügt er hinzu, als wolle er sagen: Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte.
Für die kommenden Verhandlungen ist das keine gute Voraussetzung. Die Besitzfrage ist für viele griechische Zyprioten die wichtigste Facette jeder Lösung. Die meisten von ihnen fanden den Annan-Plan genau in diesem Punkt unbefriedigend. Die Zustimmung zu einer noch ungünstigeren Regelung ist für sie undenkbar. Und selbst wenn sich alle griechischen Eigentümer mit Geld – oder per Tausch gegen türkischen Besitz im Süden – abfinden ließen, stellt sich die Frage, wer die Kompensationsgelder aufbringen soll. Juristisch haftbar ist zweifellos die türkische Seite, weil die Regierung Soyer nicht nur zum Kauf griechischer Grundstücke im Norden ermuntert, sondern den Investoren auch staatliche Garantien zugesichert hat.
Auch unter den türkischen Zyprioten gibt es scharfe Kritik an dieser Politik, die von vielen als „Ausverkauf“ der eigenen Identität gesehen wird. Einer der schärfsten Kritiker ist Ali Erel, Vorsitzender der Cyprus-EU-Association im Norden, der früher CTP-Anhänger war. Heute verweist er darauf, dass ein Großteil der Investitionen auf griechischen Grundstücken von türkischen Unternehmen getätigt und von der Entwicklungsbank in Ankara finanziert wird. Erel nennt solche Projekte „non solution investments“, weil die Profiteure zwangsläufig an der Nichtlösung des Zypernproblems interessiert sind.
Ein anderer Kritiker, der Unternehmer Serdar Atai, stellt sarkastisch fest: „Das sogenannte Wirtschaftswunder und der plötzliche Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens im Norden, auf den die Politiker so stolz sind, ist allein das Resultat der vielfachen Ausbeutung griechisch-zypriotischen Besitzes.“ Über die Zusage der Regierung Soyer, im Fall einer Wiedervereinigung die Entschädigungssummen für griechischen Besitz aus dem Budget aufzubringen, meint er sarkastisch: „Diese Diebe stauben Besitztümer ab, die ihnen nicht gehören, und am Ende sollen wir alle dafür zahlen!“9
Die Frage des griechischen Eigentums im Norden ist nicht der einzige Punkt, wo die türkische Seite nicht mehr auf dem Boden des Annan-Plans steht. In Nikosia hört man fundierte Gerüchte, dass auch die territoriale Aufteilung der beiden Teilstaaten neu diskutiert werden soll. Die türkische Seite will offenbar die Umgebung von Morphu, westlich von Nikosia, doch nicht an den Süden abgeben – eine Gegend, in die seit 2004 besonders viele Investitionen geflossen sind.
Auf diesen Punkt angesprochen, hält sich Talat bedeckt. Die territorialen Fragen werde man erst ganz am Ende klären, wenn die anderen strittigen Punkte abgehakt sind. Da die Rückgabe von Gebieten an die griechische Seite die Umsiedlung der türkischen Bevölkerung erforderlich mache, wolle man die betroffenen Menschen nicht beunruhigen und keine Panik auf dem Grundstücksmarkt auslösen. Das klingt plausibel, ist aber einer Lösung wenig förderlich. Denn die Erweiterung des südlichen Territoriums um Gebiete, in die ein Großteil der Flüchtlinge von 1974 zurückkehren könnte, ist für die griechischen Zyprioten einer der Hauptanreize für eine Lösung.
Das größte Problem, das in den Verhandlungen aus dem Weg geräumt werden muss, betrifft die Frage, welche Art Staat die angestrebte „Vereinigte Republik Zypern“ sein soll. Die Vorstellungen Ankaras artikuliert ein Beschluss des türkischen Nationalen Sicherheitsrats (MGK) vom 24. April. Der fordert eine Lösung „auf der Basis der Realitäten auf der Insel und der Existenz von zwei getrennten Völkern und zwei Republiken“. Das beschreibt eindeutig eine Konföderation von zwei Staaten, basierend auf dem getrennten Selbstbestimmungsrecht zweier Völker, während der Annan-Plan eine föderierte Republik Zypern vorsieht, also einen Staat mit zwei Volksgruppen, die sich in zwei gleichberechtigten Bundesstaaten organisieren.
Für die griechischen Zyprioten, aber auch für die EU und die UN, ist das ein großer Unterschied. Eine Konföderation ist eine Struktur, die jeder Gliedstaat jederzeit wieder aufkündigen kann, eine Föderation dagegen ein Staat mit mehr oder weniger Kompetenzen für die Teilstaaten, aber mit einer unauslöschlichen und einheitlichen Souveränität, wie sie auch die Republik Zypern von 1960 hatte.
In dieser Frage schuf das Kommuniqué nach dem Treffen zwischen Christofias und Talat am 1. Juli erfreuliche, aber nicht endgültige Klarheit: Man habe das Thema „einheitliche Souveränität und Staatsbürgerschaft diskutiert und im Prinzip Einigung erzielt“. Damit bleibt die Möglichkeit offen, dass man sich im Detail wieder zerstreitet.
Die nationalistischen Hardliner im Norden kündigten aber bereits an, das Prinzip der „einheitlichen Souveränität“ niemals zu akzeptieren. Noch schärfer war die Reaktion der Zeitung Volkan, die das Organ des türkischen Geheimdienstes in Nordzypern ist. Unter dem Titel „Wir lehnen diese Erniedrigung ab“ wird Talat vorgeworfen, er habe seinen Amtseid verletzt und die Verfassung verraten, deshalb sei seine Unterschrift für die türkischen Zyprioten nicht bindend.
Die Kontinuität zur früheren Republik Zypern, die trotz der Teilung von 1974 als Völkerrechtssubjekt fortbesteht, ist ein weiterer kritischer Punkt. Für die griechischen Zyprioten ist es unverzichtbar, dass dieses Völkerrechtssubjekt nach einer föderativen Lösung weiterexistiert, wenn auch überführt in einen anderen staatsrechtlichen Aggregatzustand.
Die angestrebte bizonale Föderation wäre sozusagen die „Zweite Republik Zypern“ – ein Begriff, den Christofias Außenminister Markos Kyprianou akzeptabel findet.10 Dagegen würde eine Konföderation aus „zwei Völkern und zwei Staaten“, wie sie der türkische MGK fordert, ein neues Völkerrechtssubjekt konstituieren. Das aber ist für die UN wie für die EU, deren Mitgliedstaat die Inselrepublik ja schließlich ist, nicht akzeptabel.
Die gefährliche Macht der türkischen Generäle
Dahinter steckt eine weitere Frage, in der eine Einigung derzeit kaum vorstellbar erscheint. Ankara besteht darauf, dass die Türkei „Garantiemacht“ des vereinigten Zypern bleibt. Das aber ist für die griechischen Zyprioten unvorstellbar – und auch für die EU ein absurder Gedanke: Damit wäre ihrem Mitgliedstaat Zypern eine „Garantiemacht“ zugemutet, die wegen ihrer demokratischen Defizite auf absehbare Zeit noch nicht zum EU-Mitglied taugt. Und diese „Garantie“ würde faktisch von einer Armee ausgeübt, deren unkontrollierte Macht und mangelnde zivile Kontrolle der wichtigste Grund für die fehlende EU-Reife der Türkei ist.
Entscheidend für die Erfolgsaussichten der neuen Zypern-Gespräche wird also sein, welchen Spielraum die türkischen Zyprioten gegenüber Ankara haben. Ein Ausgleich in den wichtigen innerzypriotischen Fragen wird nur möglich sein, wenn Talat sich nicht auf die Maximalforderungen der Militärs und der harten Kemalisten verpflichten lässt. Denn Christofias kann die schmerzhaften Zugeständnisse, die ein Kompromiss von seinen griechischen Landsleuten fordert, nur dann unterschreiben, wenn sie den türkischen Zyprioten zugutekommen und nicht der türkischen Armee.
Aber selbst im Fall einer Lösung: Wer könnte garantieren, dass die türkischen Generäle ihre Truppen aus einem wiedervereinigten Zypern tatsächlich abziehen? Die AKP-Regierung in Ankara jedenfalls nicht. Auf diese Frage angesprochen, meint Mehmet Ali Talat entschieden: „Das wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Es wäre das erste Mal in der Welt, dass Militärs die Umsetzung einer Vereinbarung verweigern.“ Das Argument klingt plausibel. Aber ebenso plausibel ist der Einwand: Die Einzigen, denen man das wirklich zutrauen kann, sind die kemalistischen Generäle.
Die Lösung des Zypernproblems hängt also mehr denn je von den Verhältnissen in der Türkei ab. Sollte das kemalistische Lager im Konflikt mit der AKP die Oberhand behalten, würde die Türkei auf eine Krise zusteuern, die auch ihre EU-Perspektive endgültig beenden könnte.11 Die aber ist nach wie vor der wichtigste aller Anreize, um die politische Klasse in Ankara für eine Zypern-Lösung zu gewinnen.
Sollte diese Aussicht sich endgültig zerschlagen, hätte das für Zypern fatale Folgen. Und das ausgerechnet in dem historischen Augenblick, da sich auf der Insel selbst die Voraussetzungen für eine Lösung – zum ersten Mal seit sehr langer Zeit – deutlich verbessert haben.12 Kein Wunder also, dass sich viele Zyprioten nicht zwischen Zweifeln und Optimismus entscheiden könnten. Und dass die meisten – im Süden wie im Norden – zu verzweifelten Optimisten geworden sind.
Dabei würde eine Lösung des Zypernproblems auch viel andere Probleme lösen helfen, die auf beide Teile der Insel zukommen. Die Zukunft der griechischen wie der türkischen Zyprioten hängt, wohl oder übel, vom Tourismus ab, der im Norden wie im Süden seit etlichen Jahren in der Krise steckt.
Und wenn der globale Klimawandel die Wasserknappheit noch verschärfen sollte, die bereits jetzt dramatische Ausmaße erreicht hat, werden auch die Immobilien an der Sonne unverkäuflich. Seit Anfang Juli 2008 muss sich der Süden Zyperns mit Wasser versorgen, das Riesentanker aus Griechenland anliefern. Das ist ein teures Unternehmen, um ein Vielfaches teurer als der Transport von Wasser aus der viel näher gelegenen Türkei. Das Projekt einer Pipeline aus dem wasserreichen südlichen Anatolien ist längst durchgerechnet.13 Aber zu realisieren wäre es natürlich nur, wenn die Zypernfrage gelöst ist und die neue Föderation ein normales Verhältnis zur Türkei entwickelt.