Für wen kickst du, Chérif?
Fußballer zwischen Algerien und Frankreich von Dominique de Guilledoux
Wir schreiben den 13. April 1958. Die Fußballmannschaft von Monaco spielt gegen den FC Angers. Amar Rouai und Mustapha Zitouni sind Gegenspieler. Der eine erzielt ein Tor, der andere steigt hart gegen ihn ein. „Vorsicht! Hau mich doch nicht in der letzten Minute kaputt!“, schreit Rouai. Dann pfeift der Schiedsrichter ab.
Nach dem Spiel verdrücken sich die beiden Kontrahenten unauffällig aus den Umkleidekabinen. Irgendwo treffen sie einen Kontaktmann, den Exfußballspieler Boumezrag. Mit ihm fliegen sie nach Rom und von dort sofort weiter nach Tunis.
Auch Rachid Mekhloufi hat sich aus dem Stadion von Monaco davongemacht. Und an anderen Orten sieben der zehn besten algerischen Fußballer, die in der französischen Ersten Liga spielen. Am nächsten Morgen stehen sie gemeinsam auf dem Rollfeld des Flughafens von Tunis.
Die Nationalmannschaft des algerischen Front de Libération national (FLN) war geboren. Zwei Tage danach begann die Fußball-WM von 1958. Mittelstürmer Zitouni, hinter dem schon Real Madrid her war, und Mekhloufi, der Mann „mit den Extraaugen im Hinterkopf“, würden nicht mehr in der französischen Nationalmannschaft spielen. Der französische Fußball war über Nacht gleichsam enthauptet.
Die Fans waren sprachlos. Sie hatten diese Spieler vergöttert. Deren Auftreten, ihr Leben als „Promis“ mit Luxusautos, mit ihren französischen Frauen und ihren Kindern machte sie enorm populär. Der Fußballskandal zwang Frankreich, dem algerischen Kolonialkrieg ins Gesicht zu sehen.
Und die Spieler selbst? Sie waren Kinder des 8. Mai 1945, die Kinder von Sétif.1 In dem algerischen Bergstädtchen hatten Einheimische und Kolonialfranzosen die Befreiung von der deutschen Naziherrschaft gefeiert. Auf einmal tauchten die grünen Fahnen mit dem roten Halbmond auf. Ein unerhörte Provokation. Polizei und Militär eröffneten das Feuer. Die Schlacht von Sétif kostete 40 000 Menschenleben, behaupteten später die Fußballspieler; der Historiker Yves Bénot geht von 6 000 bis 8 000 Toten aus.2
Die Fußballer gaben ihre Kindheitserinnerungen an die Jüngeren weiter: die kritiklose Bewunderung der Kolonialfranzosen für Marschall Pétain, die Fahnenappelle, die für sie Landesverrat waren. Doch viele aus der nächsten Generation wechselten zu französischen Vereinen und ließen die Heimat hinter sich. Jenseits des Mittelmeers entdeckten sie „das schöne Frankreich, das Land der Freiheit und der Gerechtigkeit“, begannen ihre Karrieren in den großen Fußballklubs. Und doch blieb da eine ständige Wunde: der Albtraum der Ereignisse aus der Zeit der „Befreiung“. „Man hatte uns doch die Unabhängigkeit versprochen …“ Diese Fußballer forderten jetzt, auf dem Rollfeld des Flughafens von Tunis im Jahre 1958, die französische Öffentlichkeit auf, sie wie den gesamten FLN als Widerstandskämpfer zu sehen, vergleichbar mit der Résistance gegen die Nazi-Okkupation.
Die neu formierte FLN-Mannschaft reiste in den Nahen Osten, nach Osteuropa, nach China. Sie spielte einen schnellen, variablen, technisch ausgefeilten Stil. Ihr eleganter Kombinationsfußball wurde zum Markenzeichen des algerischen Nationalteams, das bei der Weltmeisterschaft 1982 Deutschland sensationell mit 2:1 besiegte. „Die spielten wirklich wie früher wir, nur deutlich athletischer und schneller“, urteilt Rahid Mekhloufi, der Trainer des Nationalteams von 1982, der zu den „Deserteuren“ von 1958 gehörte.
Für Mekhloufi war das tunesische Exil ein harter Neubeginn: „Ich hatte überhaupt kein politisches Bewusstsein. Erst die FLN-Mannschaft hat mir das beigebracht.“ Der ehemalige Star von Saint-Etienne erfuhr erstmals von den Flüchtlingslagern, den Kriegsgräueln, der ewigen Armut. Nach der staatlichen Unabhängigkeit organisierte er den algerischen Fußball, der zu einer Art zweiten Religion nach dem Islam wurde. Er engagierte sich für die Arbeiter, kümmerte sich um Arbeits- und Obdachlose und um junge Leute, die das Lande verlassen wollten. „Die Jungen waren uns wichtig, wir wollten ihnen das Leben und die Politik erklären.“
Heute verfolgt er kritisch, wie sich im europäischen Fußballmilieu die Mentalität der Spieler entwickelt hat: „Leid und Unglück ihrer Mitmenschen sind den Profis völlig egal, auch den französischen Spielern aus Migrantenfamilien. Sie wollen nur möglichst viel Geld machen. Über kurz oder lang wird das Geld den Fußballsport erdrosseln.“
Als müsste man sich zwischen Vater und Mutter entscheiden
Die späten 1990er-Jahre waren fürchterlich. Im Bürgerkrieg starben nicht nur tausende Menschen, auch der Korruption wurden alle Schleusen geöffnet. Milliarden von Dollar wurden in Koffern ins Ausland geschafft; Generäle, Minister, selbst amtierende Präsidenten brachten ihr Schäfchen ins Trockene.
Die algerischen Fußballer knüpften an den Erfolg von 1982 an: 1990 besiegten sie Nigeria im Endspiel um die Afrikanische Meisterschaft. Der Stolz, zu den großen Fußballnationen zu zählen, drückte sich unter anderem darin aus, dass der Fußballverband aktiv um die französischen Spieler algerischer Herkunft warb. Sie und die Algerier, die in französischen Klubs groß geworden sind, sollten mit den einheimischen Spielern ein Team bilden.
Die Massen waren begeistert, doch zwischen den Spielern gab es Rivalitäten. Bei der WM von 1982 heizten Zeitungen wie El Moudjahid die nationalistische Stimmung an. Trainer Mekhloufi, FLN-Nationalspieler der ersten Stunde, wurde vorgeworfen, die „Franzosen“ in seinem Team zu bevorzugen. Mekhloufi konterte, für ihn zähle nur die spielerische Qualität.
Das galt auch für Chérif Oudjani, der 1990 das entscheidende Tor für Algerien im Endspiel des Afrika-Cups erzielte. Der Sohn des früheren Profis Ahmed Oudjani, der 1959 ebenfalls zur algerischen FLN-Equipe gestoßen war, spielte bis zum Alter von 18 Jahren in der französischen Jugendauswahl. „Ich stand tatsächlich vor der Berufung zu den ‚Bleus‘, aber einige Mitspieler waren einfach stärker“, meint er heute. „Dann wurde ich in die algerische Nationalmannschaft berufen.“ Allerdings bekennt er: „Das war nicht unbedingt eine Herzensangelegenheit, wir waren ja nicht in Algerien geboren. Doch zwischen uns ‚Französischen‘ und den ‚Algerischen‘ gab es keine Rivalität, eher eine gewisse Verlegenheit. Man pflegte nicht mehr als höflichen Umgang.“
Für die ehemaligen Spieler der FLN-Mannschaft ist der algerische Fußball heute nicht mehr wiederzuerkennen. „Die Korruption hat die Vereine erobert“, klagt Rachid Mekhloufi: „Der neue Gott heißt Geld.“ Die Präsidenten der Klubs und die Funktionäre greifen Regierungsgelder ab, und die Nachwuchsarbeit wird vernachlässigt: „Dabei muss sich die Nationalmannschaft aus der Jugend der Vereine rekrutieren. Dafür müsste man aber die Talente suchen und viel mehr Sportplätze anlegen, anstatt das Geld in dunkle Kanäle zu lenken. Es wird viel zu wenig in die Jugend investiert. Wenn es in Brasilien den Fußball nicht gäbe, hätten wir alle zehn Jahre Massenrevolten. Auch in Algerien begreift man nicht, dass der Fußball die Gesellschaft befrieden kann.“
Mit Blick auf Frankreich kann Mustapha Dahleb diese Ansicht nicht unterschreiben. Der ehemalige Mittelfeldmotor von Paris Saint-Germain (PSG) war Mitglied der algerischen Nationalmannschaft von 1982. Heute meint er, die Fußballbegeisterung der städtischen Migrantenjugend könne das Problem ihrer Gettoisierung allein natürlich nicht lösen: „Wer keine anständige Wohnung und keine Arbeit hat, wird sozial gedemütigt. Aber eine gewisse Stütze mag der Sport doch sein.“
Zu den rassistischen Demonstrationen und der Tatsache, dass in einigen Stadions die extreme Rechte das Sagen hat, meint der frühere PSG-Spieler: „Diesen Leuten hätten die Verantwortlichen schon längst ein Stadionverbot erteilen können. Und bei der ersten rassistischen Beleidigung hätten alle Spieler gemeinsam das Feld verlassen sollen.“
Chérif Oudjani, der heute Trainer ist, bringt bereits das Wort „Integration“ auf die Palme. „Was soll das heißen? Ich achte die Gesetze schon immer. Wie lange nervt man uns noch mit der Frage: Seid ihr eher Algerier oder Franzosen? Als ob man sich zwischen Vater und Mutter entscheiden müsste. Verdammt, ich bin hier geboren!“
Das Thema Integration wurde am 6. Oktober 2001 im berühmten Freundschaftsspiel Frankreich gegen Algerien zum Objekt einer empörenden öffentlichen Inszenierung. Dieses erste Länderspiel nach dem Unabhängigkeitskrieg sollte den Glauben an eine Versöhnung verbreiten, zugleich hatte man aber – drei Wochen nach dem 11. September – große Angst vor der Reaktion der Jugend in den Vorstädten. Und dann wollte man auch noch Zinédine Zidane wie allen anderen Kindern der Immigration vorschreiben, er habe sich zum Franzosen zu erklären.
Doch ausgerechnet er, den die Medien, die Soziologen und die Werbeindustrie seit dem WM-Titel von 1998 zur Ikone der Integration erkoren hatten, erklärte in Le Monde am Tag des Versöhnungsspiels: „Ich wäre zum ersten Mal in meinem Leben nicht enttäuscht, wenn Frankreich nicht gewinnen würde.“ Als er im Sender RTL auch noch erklärte: „Ich hoffe, es wird ein schönes Ereignis für uns Franzosen und für uns Algerier“, schäumte Ivan Rioufol in Le Figaro: „Ja, wir hätten es lieber gesehen, wenn Zinédine Zidane, der seine algerischen Sympathien und Wurzeln nicht verschweigt, sich klar, und das heißt ausschließlich für Frankreich ausgesprochen hätte.“
Auf das Spiel waren so hohe Erwartungen projiziert worden, dass das Fiasko schier unvermeidlich war. Die Marseillaise wurde ausgebuht. Und in der 76. Minute, als Frankreich schon 4:1 führte, drängten hunderte von Zuschauern auf das Spielfeld, die meisten, „um gegen das unausgewogene Ergebnis zu protestieren“, wie sie erklärten. Ein paar von ihnen verstiegen sich dazu, „Es lebe Bin Laden“ zu brüllen. „Das war natürlich die reinste Dummheit“, meint im Rückblick der Historiker Yvan Gastaut, zugleich Präsident der Organisation „We are Football“, und zugleich leider „Wasser auf die Mühlen aller Integrationsgegner.“
Im Dezember 2006 wurde Zinédine Zidane in Algerien wie ein Staatspräsident empfangen. Auch die ehemaligen Spieler der FLN waren dabei, als Zidane vom Präsidenten Abdelasis Bouteflika geehrt wurde. Anschließend meinte Amar Rouai: „Eigentlich mag ich den Burschen. Aber man hat vielleicht ein bisschen zu viel Getue um ihn gemacht.“ Und er hätte es begrüßt, wenn der Präsident auch Zitouni geehrt hätte, einen der Helden von 1958.
Für Mekhloufi „ist Zidane eine große Persönlichkeit. Er erinnert sich jetzt seiner Wurzeln. Er hat die Nationalmannschaft der FLN schon durch seinen Vater gekannt. Er ist immer ein Kind der Migrantenvorstädte geblieben. Er hat begriffen, dass er zurückgeben muss, was der Fußball ihm geschenkt hat.“
Was den Trainer Chérif Oudjani betrifft, so wünscht er dem Land seines verstorbenen Vaters nach der Tragödie der 1990er-Jahre einen neuen Aufbruch in die Zukunft. Und das sagt er als französischer Fußballer, dem man anhört, dass er beim FC Lens groß wurde.
Aus dem Französischen von Ulf Kadritzke
Dominique de Guilledoux ist Journalist.